BREXIT – EIN POLITISCHES EREIGNIS IN EINER PHILOSOPHISCHEN SICHT

DAS EREIGNIS

  1. Als es dann geschah taten viele überrascht, Befürworter feierten, Börsenkurse gaben nach … und dann war doch alles irgendwie anders als gedacht.
  2. Der vorherrschende Eindruck am Tag 7 danach ist: keiner hat einen wirklichen Plan.
  3. Die Suche nach Gründen, Motiven, Wer ist schuldig, Wer will was, Wer ist Gewinner oder Verlierer, ist im vollen Gange. Radiodiskussionen, Fernsehrunden, alle stehen im Banne des Ereignisses. Der Austritt eines Mitglieds aus der Europäischen Union (EU) ist neu; war so noch nie da; keiner hat Erfahrung im Umgang damit.
  4. So fühlt sich jeder eingeladen, herausgefordert – oder gar berufen –, eine Deutung der Ereignisse beizusteuern.

AUSTRITT WANN?

  1. Dies fängt schon mit der Austrittsklausel des Vertrags der Europäischen Union an. Schlicht ist sie, und lässt darin so viel Handlungsspielraum: es wird gesagt, was geschieht, wenn ein Mitgliedsland seinen Austrittswunsch mitteilt, es ist aber offen, wann das Vereinigte Königreich seinen Austrittswunsch tatsächlich mitteilt. Muss dies sofort sein, wie einige heißblütig fordern, oder können sie sich beliebig lang Zeit lassen? Aktuell scheint sich niemand so richtig motiviert zu fühlen, diesen Antrag offiziell schnell zu stellen. Und wenn er nie gestellt wird?

UNRUHE

  1. Während die Motivlage bei den verschiedenen aktiven Politikern sehr unterschiedlich zu sein scheint, scharrt die Wirtschaft schon gut hörbar mit den Füßen. Von Veränderung der Geschäftsbedingungen durch einen Austritt ist die Rede; Gewinne und Verluste müssen neu kalkuliert werden. Wann muss man handeln? Hat man nicht schon morgen verloren wenn man heute nicht handelt? Immobilienspekulationen beginnen zu glühen. Banken, Telekommunikationsanbieter …. müssen wir nicht unseren Geschäftssitz verlegen?
  2. Im Vereinigten Königreich selbst brechen derweil Unterschiede, Fronten, an allen Ecken und Enden auf. Die junge Generation soll sich um ihre Zukunft betrogen fühlen, ging aber zahlenmäßig nicht so zur Wahl wie die älteren Befürworter des Brexits. Die Regionen abseits von London, abseits der globalen Finanzmärkte, bäumten sich auf, probten mit dem Referendum den Aufstand. Nordirland und Schottland – besonders Schottland – wittern eine Chance, ihre unvollständige politische Autonomie auszubauen, zu erweitern. Und in den Parteien (immerhin 15) brodelt es; innerparteiliche Gegensätze führen teilweise zu offenen Schlachten um Positionen und Ämtern (Labour Partei, dann auch bei den Konservativen). Fremdenfeindliche Äußerungen und Handlungen nehmen deutlich zu; speziell polnische Bürger sahen sich in diesen Tagen fremdenfeindlichen Taten ausgesetzt; Politik und Öffentlichkeit zeigte sich bestürzt.

TRITTBRETTFAHRER

  1. Führer von nationalistisch gestimmten Parteien und Bewegungen sehen sich im Aufwind. Allen voran Marin Le Pen von der Front National in Frankreich, Geert Wilders von der Partei für die Freiheit (Niederlande) und Heinz-Christian Strache von der Freiheitlichen Partei Österreichs; aber nicht nur diese. In öffentlichen Stellungnahmen interpretieren sie den Brexit als Ausdruck der Unzufriedenheit der Bürger mit den europäischen Institutionen, in denen man – vereinfachend ausgedrückt – politisch unkontrollierte Monster sieht, die bürgerfern tun was sie wollen.

VERDECKTE MITVERANTWORTUNG ALLER REGIERUNGEN

  1. Dass tatsächlich die europäische Kommission – sozusagen die Exekutive der EU – letztlich nichts ohne die Zustimmung der nationalen Regierungen tun kann, wird dabei gerne in den Hintergrund gedrängt; zur Verteidigung hört man Ex-Mitglieder der der EU-Kommission sagen, dass nationale Regierungen in Brüssel oft A beschlossen haben, dann aber zu Hause so redeten, als ob sie ja für non-A waren, aber die ‚bösen Menschen in Brüssel‘ hätten das wieder mal anders geregelt…

GEMEINSAM OHNE GEMEINSAMKEIT?

  1. Und dann dieses Grunddilemma: möglichst viel Freiheit für die Mitglieder der EU, aber es gibt Aufgaben, die lassen sich nur gemeinschaftlich lösen. Jüngstes Beispiel die Sicherung der Außengrenzen um die innereuropäische Freiheit zu gewährleisten. Wer gibt wie viel nationale Souveränität auf, damit eine gemeinsame europäische Handlung zustande kommt? Wer gibt nationale Daten preis, damit es zu einer europäischen Staatsanwaltschaft und Polizei kommt?

WAS IST SCHON EUROPA?

  1. Im globalen geographischen Koordinatensystem ist Europa nur eine Region unter vielen. Und andere Regionen sind – oder werden – politisch und wirtschaftlich deutlich stärker: Russland, Indien, China, asiatischer Raum, USA, Kanada, Südamerika, Afrika …. welche Rolle würde hier ein einzelnes kleines Land wie die Niederlande, Österreich, Teile Englands …. spielen?
  2. Die nicht nachlassenden Migrationsströme sind Indikatoren von tiefsitzenden gesellschaftlichen Konflikten, die sich nicht nur auf ein Land beschränken. Weitgehend liegen sie außerhalb der EU, sind der direkten und schnellen Einflussnahme der EU entzogen. Ein langfristiges gemeinschaftliches strategisches Verhalten wäre angebracht – aber Misstrauen und Kurzsichtigkeit lähmt ein gemeinsames Verhalten.

BLUTIGE VERGANGENHEIT UND EXTERNE HILFE

  1. Europa hat viele Jahrhunderte, eigentlich sogar Jahrtausende erlebt, in denen religiöse Überzeugungen immer wieder zu Unterdrückung Andersdenkender geführt haben, zu Gefängnis und Folter, zu blutigen Auseinandersetzungen, zu Verbot von Erziehung und Wissenschaft. Bis irgendwann Wissenschaft, Handel, Rechtssysteme unterstützt durch hinreichend viele Mehrheiten neue gesellschaftliche Modelle ermöglicht haben, in denen Menschen unabhängig von ihren speziellen religiösen Anschauungen friedlich miteinander leben konnten. Unbestreitbare Höhepunkte im Wahnsinn der Selbstvernichtung waren aber sicher die zwei großen Kriegen mit vielen Millionen Toten. Es war nicht voraus zu sehen, dass es inmitten des Infernos des zweiten Weltkriegs (einschließlich Asiens) in einer ethischen Sternstunde der Menschheit zur Gründung der Vereinten Nationen und der Verkündigung der Menschenrechte kam, die dann mit der äußerlich aufgezwungenen Neuordnung Deutschlands nach dem Kriegsende eine Entwicklung begünstigte,die zur europäischen Wirtschaftsgemeinschaft   und dann – beeinflusst durch das Ende des Kalten Krieges – zur Ausbildung der Europäischen Union führte. Diese massiven äußeren Geburtshilfen vergisst man leicht.

DIE GEISTER DER VERGANGENHEIT KOMMEN WIEDER

  1. Trotz all der Schrecken kann man heute partiell eine Wiederbelebung von vielen jener Strömungen beobachten, die in der Vergangenheit zu Unterdrückung und Krieg geführt haben: Abschottungen gegen das Fremde, Unterdrückung von differenzierten Betrachtungen, Überbetonungen von konfessionellen Unterschieden; eine naive-unkritische Religiosität mit blinden Allmachtsansprüchen im Dienste politischer Interessen…

UNGELÖSTE HAUSAUFGABEN

  1. Die ‚amtierende‘ Politik befindet sich diesen Strömungen gegenüber in keiner Position der Stärke. Das Ausmaß an Lobbyismus in der Politik ist kaum noch zu überbieten (und verhindert bislang durchgreifende Gesetze zu mehr Transparenz). Die Kluft zwischen Reich und Arm nimmt seit Jahren nur zu. Die Verschuldung von Banken auf Kosten aller wird hingenommen. Auf die zunehmende Verarmung großer Bevölkerungsteile wird nur stumpfsinnig mit noch mehr Sparprogrammen reagiert. Für die dramatische Jugendarbeitslosigkeit in südlichen Ländern (schwächelnde Wirtschaft) findet man keine Konzepte. Infrastrukturen zerfallen (auch in Deutschland). Die globale Digitalisierung entmachtet schleichend ganze Regionen und Industrien.
  2. Die Anzahl wirklich demokratischer Länder in der Welt nimmt ab. Jene, die noch offiziell demokratisch sind, zeigen einheitlich Phänomene des Zerfalls an Transparenz, an Öffentlichkeit, an sozialer Durchlässigkeit, wirtschaftliche Prosperität, Rechtssicherheit, moralischem Verhalten.

ANZEICHEN EINER GLOBALEN SELBSTZERSTÖRUNG?

  1. Sind dies alles Anzeichen eines schleichenden Zerfalls? Erleben wir ein globales Selbstzerstörungsprogramm? Ist dies unvermeidlich?

FUNDAMENTALE MACHT DER FREIHEIT

  1. Um mit dem letzten Punkt anzufangen: unvermeidlich ist eigentlich nichts. Tatsächlich können wir Menschen uns weitgehend entscheiden; dies haben Menschen oft genug bewiesen. Selbst in der größten Not und Bedrohung können Menschen sich – unter Einsatz ihres Lebens – letztlich für alles entscheiden, für alles, was ihnen wertvoll und wichtig erscheint.

ABHÄNGIGKEIT VON WERTEN

  1. Und das ist der Knackpunkt: was ihnen wertvoll und wichtig erscheint. Was erscheint Menschen wertvoll und wichtig?

MEDIUM WISSEN

  1. Dies ist weitgehend abhängig von ihrem Wissen, ihren Erfahrungen. Wissen und Erfahrungen bildet sich heraus im Laufe des Lebens durch Erlebnisse, Handlungen. Diese finden nicht isoliert statt sondern in Umgebungen mit anderen Menschen, in Beziehungen, als Teil von Gemeinschaften, unter dem Eindruck des Verhaltens und Redens anderer. Kein Mensch weiß einfach so irgendetwas. Kein Mensch hat von vornherein eine Präferenz (Wertigkeit) für irgendetwas. Essen müssen zwar alle, aber was man wie und wo isst, das haben Menschen zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten sehr unterschiedlich praktiziert. Dass es Mann und Frau gibt, die vereint Nachkommen erzeugen und großziehen können war und ist zu allen Zeiten für alle gleich, aber wie Männer und Frauen miteinander leben, mit ihren Kindern, wie sie erziehen, das war und ist bis heute an verschiedenen Orten sehr verschieden. Und so in allen Bereichen. Die Welt ist dem Menschen immer vorgegeben, aber wie der Mensch mit der Welt umgeht, sie interpretiert und deutet, welche Präferenzen (Werte) er folgt, dies war zu allen Zeiten unterschiedlich und ist bis heute starken Wandlungen unterworfen.

WIR SIND ETWAS NEUES

  1. Die Welt im Jahr 2016 (nach verbreiteter westlicher Zeitrechnung, es gab und gibt alternative Konventionen) ist eine Welt, die es so vorher noch nie gab. Diese Welt und ihre Dynamik zu verstehen, erfordert permanent eine gewisse Anstrengung, komplexes und neues Denken, und lebt unter dem andauernden Vorbehalt, dass man eine wirkliche Prognose nicht abgeben kann, da ja die Menschen selber durch ihr Verhalten die Entwicklung direkt mit beeinflussen. Wenn große Teile der Menschen aufgrund von mangelndem Wissen, beschränkenden Präferenzen, leistungsschwachen Institutionen, starken Ängsten und anderen Emotionen notwendige Aufgaben heute nicht sehen und nicht anpacken, wird der weitere Verlauf natürlich ganz anders aussehen, als wenn sie es könnten und täten. Ideologische Verzeichnungen der gegenwärtigen Situation gepaart mit falschen Emotionen verhindern nicht nur das Notwendige, sie verschärfen Missstände und Mangel.
  2. Auf der Zeitachse hat das Jahr 2016 einen Vorlauf von ca. 200.000 Jahren Geschichte des homo sapiens sapiens. Dieser wiederum hat einen Vorlauf von ca. 20 Mio Jahren an Lebewesen der Menschenartigen (hominoidea). Diese wiederum haben einen Vorlauf von stolzen ca. 3.8 Milliarden Jahren an Leben auf dieser Erde.
  3. Im Lichte dieser ganzen Entwicklung ist der homo sapiens sapiens – also wir – das erste Lebewesen auf der Erde – wenn nicht im ganzen Universum –, das über die grundlegende Fähigkeit verfügt, nicht nur durch sein Gehirn aus der Gegenwart auszubrechen, in die Vergangenheit zu schauen, ansatzweise auch in mögliche Zukünfte, sondern zusätzlich auch über die Möglichkeit verfügt, die Frage nach den wichtigen Präferenzen (Werten) explizit zu stellen. Alle Lebewesen vor dem Homo sapiens sapiens wurden entwickelt; der homo sapiens sapiens kann zum ersten Mal den vorgezeichneten Gang der Entwicklung unterbrechen, kann seine eigenen Baupläne abändern, und kann mit einem Mal – bis zu einem gewissen Grad – seinen eigenen Schöpfer spielen. Dies ist qualitativ neu.

RADIKAL NEU – KEIN SELBSTLÄUFER

  1. Wie die aktuelle Situation zeigt, ist aber genau dies schwierig, kein Selbstläufer, unbequem, stark verunsichernd. Die ungeheure Masse des Wissens, über die der homo sapiens sapiens heute dank Computer, Internet, Datenbanken, entsprechend technischen und sozialen Strukturen verfügen kann, ist für diese Aufgabe einerseits eine Voraussetzung, andererseits aber auch das Problem: das bisherige menschliche Gehirn ist auf diese Datenflut nicht eingestellt. Das aktuelle menschliche Gehirn ist sehr, sehr endlich in seinen Aufnahme- und Verarbeitungskapazitäten. Selbst wenn die Computer immer schneller und datenmäßig umfassender würden, das aktuelle menschliche Gehirn kann nicht mithalten.
  2. Dazu kommt, dass Daten als solche noch kein Wissen darstellen. Was man braucht sind verallgemeinernde Begriffe, Zuordnungen, Abbildungen, organisiert in komplexen begrifflichen (letztlich dann mathematischen) Modellen. Die Wissenschaft selbst verfügt bislang kaum über Modelle für das Miteinander der Disziplinen, geschweige denn für das Ganze. Und es darf dann nicht verwundern, dass der gesellschaftliche Alltag von Denkvorstellungen durchtränkt ist, die weitab liegen von dem, was die Wissenschaft schon weiß. Selbst der Wissenschaftsbetrieb unterliegt oft Präferenzen in den Köpfen der Handelnden, die mit den Zielen und Aufgaben der Wissenschaften nicht viel zu tun haben.

EUROPÄISCHER GEIST

  1. Wenn also jetzt Europa um das rechte Selbstverständnis ringt, um die richtigen Bilder für seine möglichen Zukünfte, dann findet dieses Ringen statt in einer Gemengelage von altem, partiellen Wissen mit alten (überholten?) Präferenzen, ein-gesprengten neuen Erkenntnissen, divergierenden Interessen und Emotionen.
  2. Während die einen diese Vielfalt und scheinbare Ineffizienz beklagen und als Anzeichen von Schwäche deuten, gibt es sehr wohl Argumente, dass diese Vielfalt und scheinbare Ineffizienz gerade auch ein Stärke von Europa sein kann. Allerdings die Vielfalt der Länder auf dieser Erde ist ebenfalls eine Stärke. Die bisherige Erfolgsgeschichte des Lebens auf der Erde entstand gerade aus der unbändigen Vielfalt und dem Mut zu neuen Experimenten. Das Kennzeichen wahrer Zukunft ist gerade, dass man sie im Moment der Entscheidung nicht ganz kennt.
  3. Die vielfach beobachtbare Tendenz, auf altes Bekanntes zurück zu greifen, um den Status Quo zu erhalten (für aktuelle Machtinhaber attraktiv), ist aufs Große Ganze gesehen in der Regel falsch.
  4. Es bleibt also eine spannende Frage über wie viel Esprit, wie viel Kreativität, wie viel Leistungsfähigkeit Europa verfügt, um eine grundsätzlich nicht ganz wissbare Zukunft so zu meistern, dass möglichst viel Lebensqualität für möglichst viele Menschen dabei entsteht.

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