NACHTGESPRÄCH im INM (Frankfurt) oder REENGINEERING VON GOETHES FAUST

  1. Heute vor 20 Jahren begannen zwei junge Wissenschaftler ihre Arbeit in einem 1992 weltweit bekannten Institut, dem Institut für Neue Medien, damals Teil der Städelschule, der Hochschule für Bildende Künste in Frankfurt ( auf ihrer Webseite http://www.staedelschule.de/ zeigt sich die Städelschule heute bar jeder Geschichte, völlig aseptisch, meinungslos…). Die beiden hießen Dr. Michael Klein (Physiker) und Dr. Gerd Doeben-Henisch (Philosoph, Theologe, Wissenschaftstheoretiker).
  2. In einem bunten Haufen von Künstlern und unterstützenden Technikern entstanden in der Zeit 1989 – 1994 am INM viele bahnbrechende interaktive Kunstwerke, die über berühmte Ausstellungen schließlich ihren Weg in die Museen der Welt fanden. Zehn der damals aktiven Künstler endeten als ProfessorenInnen (meist an Kunsthochschulen).
  3. Das Medium des Computers (zu der Zeit die sehr seltenen, weil sehr teuren, Silicon Graphics Computer) (und eine üppige finanzielle Ausstattung) lies die Künstler-Techniker-Wissenschaftler Teams den Raum der interaktiven Bilder und Töne und Handlungen kreativ erforschen. Vieles, was heute als selbstverständlich erscheint (z.B. das Morphing von Bildern, Interaktion von Tönen/ Geräuschen mit Bildern, spezielle Interface) wurde im INM erstmalig erforscht und neuartig ausprobiert. Reale Pflanzen wurden zu Schnittstellen zu interaktiven Pflanzen-Bild-Grafiken; Atmung wurde als Steuerungsparameter für großflächige bewegte Grafiken genutzt; Gehirnströme dienten der Steuerung von Scharen kleiner Roboter; der Zugang zu einer Ausstellung wurde durch Steuerpulte ersetzt; drei-dimensionale Klangräume steuerbar über eine bewegliche Bühne; und, und, und….
  4. Als das Institut der Städelschule wegen Kürzung der Zuschüsse geschlossen werden musste (Okt.1994), wurde es am gleichen Tag von den beiden Wissenschaftlern, unterstützt von der Stadt Frankfurt und der Kulturstiftung der Deutschen Bank, neu gegründet, als INM e.V.. Mit Unterstützung der ars electronica (Linz, Österreich) konnte dann u.a. das Großprojekt ‚Blind’s World I‘ (Doeben-Henisch und Team) realisiert werden.
  5. Es folgte eine bewegte Zeit mit vielen Aufs und Abs. Aus dem INM e.V. gingen allein 5 Startups hervor, die aber alle mit dem Platzen der sogenannten ‚Internetblase‘ mit in den Strudel von Insolvenzen gerissen wurden (Im Falle der Knowbotic Systems GmbH mussten die Geschäftsführer die Insolvenz zwei Tage nach dem Gewinn des ersten Preises der Stadt Frankfurt für die beste Gründung bekannt geben… welch Ironie). Allein diese Gründungsphase wäre ein eigener Roman wert.
  6. Dies und vieles mehr kam am Abend des 9.Oktobers 2012 im Rahmen der Veranstaltung ‚unplugged heads 2.0‘ des INM e.V. zur Sprache. Michael Klein zeigte eine Auswahl aus den vielen spannenden Videofilmen dieser Zeit; Gerd und Michael kommentierten.
  7. Es entwickelte sich dann ein intensives Gespräch mit allen über Kunst, Videokunst, Computerkunst, Kommerz, institutionelle Zwänge, neue Bewegungen, Lehren aus der Vergangenheit…bis sich Gerd Doeben-Henisch mit zwei der Besucher in Fortspinnung des ars electronica Experimentes The Blinds World I in das Thema des lernenden künstlichen ‚Geistes‘ verbiss.
  8. In einem gedanklichen ‚cross over‘ von Computerspielen, künstlicher Intelligenz,Kognitionswissenschaft, Entwicklungspsychologie, Linguistik, Netzcommunity entstand dann im Gespräch die Vision eines künstlerisch-wissenschaftlichen experimentellen Universum von künstlichen Strukturen, die immer mehr ‚geist-ähnliche‘ Eigenschaften in sich versammeln, in einem web- und real-öffentlichem Raum, bei dem alle zuschauen können, wo viele mit-experimentieren können. In Interaktion mit einem künstlichen Raum und realen Menschen entsteht ein künstlicher Geist, der aber nicht an die Spielregeln eines realen Körpers gebunden ist. Wie wird dieser künstliche Geist Musik machen, Bilder malen, Tanzen, Mathematik machen, sprechen? Wie werden wir uns ändern, wenn wir einem künstlichen Geist gegenüberstehen, der ‚anders‘ ist/ sein kann?
  9. In der Stadt Goethes, in Frankfurt, kann dies nur bedeuten, dass wir zum ‚Reengineering von Goethes Faust‘ aufrufen. ‚Faust III‘ wird sich ganz anders lesen als ‚Faust I/II‘. Sicher wird es irgendwann dann auch einen ‚Faust IV‘ geben. Wir denken erst mal an ‚Faust III‘. Zum 25.jährigen Jubiläum des INM im Jahr 2014 wäre dies ein gutes Thema: Im künstlerischen Gewandte versucht die Wissenschaft den Pseudo-Mythos von der Notwendigkeit des Teufels zur Wissensanreicherung als literarisches Verwirrspiel zu entlarven, und dies in einer vollständigen öffentlichen Inszenierung, mit einem ‚realen künstlichen‘ Geist.

Der Vortrag am 16.Nov.2012 in München liefert einige Argumente, warum das Experiment mit dem künstlichen Geist sehr wohl Sinn macht. Das ‚Schlimmste‘, was passieren kann, ist ja nur, dass wir u.U. besser verstehen, was wir noch übersehen haben. Das aber wäre im Sinne der Forschung ein sehr gutes Ergebnis. Bekanntlich kann man nur durch Fehler wirklich lernen! Fehlerfreiheit bestätigt immer nur den letzten Stand der aktuellen Un-Wahrheit…

 

LITERATURNACHWEISE

G.Döben-Henisch,The BLIND’s WORLD I. Ein philosopisches Experiment auf dem Weg zum digitalen Bewußtsein, In: K.Gerbel/ P.Weibel (eds.), Mythos Information. Welcome to the wired world. @rs electronica 95, Springer-Verlag, Wien, pp.227-244, 1995. Online at THE BLIND’s WORLD I (only German, without the English translation, without the fancy figures.

 

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