ROBOTER IN DER PSYCHOANALYSE? Memo zur Sitzung vom 25.März 2018

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062
26.März 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

INHALT

I Ausgangspunkt
II Wissensformat der Psychoanalyse
II-A Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  . .
II-B Moderne empirische Wissenschaft . . . . . . .
II-C Theoretische Psychoanalyse . . . . . . . . . . .
II-D Angewandte Psychoanalyse . . . . . . . . . . .
II-E Psychoanalyse und Psychologie . . . . . . . . .
II-F Psychoanalyse, Menschenbild, Wissenschaften
III Nächste Sitzung 29.April 2018

Kontext

In Fortsetzung der Sitzung vom 28.Januar 2018 wurden weitere Aspekte zusammen getragen, die die Position der Psychoanalyse, speziell auch ihre Wissensbasis, weiter erläutert haben.

I. AUSGANGSPUNKT
Der Ausgangspunkt der Sitzung vom 25.März 2018 war markiert durch das Memo der vorausgehenden Sitzung. Die Haupterkenntnis der vorausgehenden Sitzung bestand darin, dass die Frage, ob sich ein Robo-Psychoanalytiker bauen lässt oder nicht zunächst nicht von der ingenieurmäßigen ’Herstellung’ abhängt. Wenn die Ingenieure genügend Informationen haben, bauen sie einen Robo-Analytiker, der all das tut, was man von ihm erwartet (leicht idealisierende Annahme, da natürlich selbst bei optimalem Bauplan innerhalb der Umsetzung und der Produktion viele schwierige Detailfragen
gelöst werden müssen). Hält man diese idealisierende Annahme zunächst mal aufrecht, dann geht die Frage von den Ingenieuren zurück an die Psychoanalyse: Kann die Psychoanalyse im Umfang und in der Qualität eine Beschreibung dessen liefern, was ein Psychoanalytiker ist, wie er ausgebildet wird, wie er arbeitet, welche Rolle
dabei der spezielle Therapiekontext bildet, was ist wichtig für den Therapieprozess, usw.? Ist diese Beschreibung so, dass man daraus alle Informationen gewinnen kann, die man benötigt, um auf dieser Basis einen Robo-Analytiker zu bauen?

II. WISSENSFORMAT DER PSYCHOANALYSE

A. Überblick

Gedankenskizze von der Sitzung 25.März 2018
Gedankenskizze von der Sitzung 25.März 2018

Im Gespräch wurde schrittweise das gesamte Paradigma der Psychoanalyse umrissen, insbesondere auch die
Stellung der Psychoanalyse zu wichtigen anderen Wissenschaften.

B. Moderne empirische Wissenschaft

Aus der Sicht der Wissenschaftsphilosophie zeichnen sich moderne Wissenschaften dadurch aus, dass sie nach vereinbarten Methoden reproduzierbare ’Messwerte’ liefern, die dann mittels eines formalen (meist mathematischen)  Modells ’interpretiert’ werden. Ob solche eine modellbasierte Interpretation ’hilfreich’ ist entscheidet sich an der ’Vorhersagetauglichkeit’.

Das Ideal des ’Messens’ stößt allerdings dort an Grenzen, wo entweder das Messen selbst den Gegenstand verändert oder wenn die zu messenden Phänomene so selten oder speziell sind, dass sie nur schwer reproduzierbar sind. Aus solchen Messschwierigkeiten heraus abzuleiten, dass dann Messen ganz unmöglich sei, ist problematisch, da man damit möglicherweise wichtige Phänomene vorn vornherein (Zensur? Dogmatismus? …) ausklammern würde. Eine dem Geist empirischen Forschens eher angemessene Haltung wäre wohl doch so, dass man trotz
Messschwierigkeiten misst, aber die Rahmenbedingungen dieses Messens klar schildert. Irgendwann gibt es vielleicht verbesserte Messmethoden, die dann besser messen können. Außerdem, nur wenn allen Beteiligten bewusst ist, dass es für bestimmte interessante Phänomene noch keine guten Messmethoden gibt, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass jemand Verbesserungen für die Messmethoden finden wird. Im übrigen sehen wir in der Quantenphysik (und in der Ethnologie, und …), dass Messprobleme kein absolutes Hindernis darstellen muss, um zur Bildung von interessanten Modellen zu kommen.

Die Ausklammerung wichtiger Aspekte der Wirklichkeit schadet in der Regel für das Gesamtbild der Wirklichkeit weit mehr als ungenau zu messen.

Auch wenn man in einer Disziplin formalisierte Modelle und die dafür notwendige formalisierte Sprache L_m benutzen will, gelingt dies nur unter Voraussetzung einer schon gegebenen Alltagssprache L_0 . Davon zu unterscheiden ist der Fall, dass der ’Gegenstand’ der Untersuchung Alltagsphänomene sind einschließlich der Alltagssprache (z.B. in den Sprachwissenschaften, in der Ethnologie, in der Archäologie, usw.).

Vom Theoriemodell her macht es allerdings keinen Unterschied, ob man chemische Stoffe mit ihren Reaktionskette als Gegenstand untersucht oder alltagssprachliche Phänomene oder Alltagshandeln.

C. Theoretische Psychoanalyse

Wissenschaftsphilosophisch kann man Psychoanalyse als eine empirische Wissenschaft im zuvor beschriebene Sinn betrachten.

Ihr Datenbereich sind die unterschiedlichsten Äußerungen eines Analysanden, und ihr Ziel ist es, am Beispiel dieses konkreten Analysanden das allgemeine Modell eines handelnden Akteurs so weit zu spezifizieren, dass es mit dem Verhalten des Analysanden strukturell so übereinstimmt, dass es dem Analysanden erlaubt, sein Verhalten so einzustellen, dass sein ’Problemdruck’ sich so weit abmildert, dass er zufriedenstellend in seinem Alltag leben kann.

Das Interesse der Psychoanalyse ist also mindestens ein zweifaches: (i) ein ’theoretisches’ Interesse, am Beispiel vieler Analysanden ein ’allgemeines Modell’ eines Akteurs zu finden, das sich erfolgreich auf möglichst viele Akteure
(Menschen) so anwenden lässt, dass diese zu einem selbstbestimmten und erfolgreichen Leben befähigt werden; (ii) ein ’therapeutisches’ Interesse, nämlich unter Voraussetzung des bislang erarbeiteten Modells einem konkreten einzelnen Menschen zu helfen, dass dieser sich selbst soweit verstehen und sich selbst ’managen’ lernt, dass er in seinem Alltag zu einem selbstbestimmten und erfolgreichen Leben finden kann.

Aufgrund der ethisch eingeschränkten Möglichkeiten, mit Menschen ’Experimente zu machen’ (gilt entsprechend auch für die Psychologie, die Neurowissenschaften, usw.), kann die Psychoanalyse ihre theoretische Forschung bislang oft nur indirekt vollziehen oder aber – evtl. in der Zukunft – mit partiellen Computersimulationen ihrer
theoretischen Modelle.

D. Angewandte Psychoanalyse

In den empirischen Wissenschaften ist es üblich, das ’Messen’ unter sehr eingeschränkten Bedingungen vorzunehmen; in der Psychologie unterscheidet man z.B. explizit zwischen ’Labor-Experimenten’ und ’Feld-Experimenten’.

In der angewandten Psychoanalyse greift man zum Mittel der ’normierten Dyade’: eine Therapie findet nur im absolut diskreten Zweiergespräch statt, dessen räumliche Situation sowie auch die grundlegenden Verhaltensweisen durch klare Regeln ’normiert’ sind. Damit hat man einerseits den Raum möglicher Daten stark eingeschränkt (Laborsituation), zugleich lässt man aber die ganze Breite von Kommunikationssignalen (Sprache und Körper) zu.

Dies ist für die Ermöglichung der relevanten Phänomene wesentlich.

Während sich die Kommunikation innerhalb der Dyade ’Psychoanalytiker – Analysand’ primär in der Alltagssprache abspielt, muss er Psychoanalytiker alles Erleben zugleich in seine Fachsprache und in seine Modellwelt ’übersetzen’. Wieweit diese Übersetzung während des Prozesses stattfinden kann und ob und wieweit eine solche Übersetzung
das aktuelle reale Geschehen negativ beeinflussen kann, ist eine wichtige Frage. Klar ist allerdings, dass eine modellbasierte – und damit wissenschaftliche – Diagnose und Intervention nur dann vorliegt, wenn der Psychoanalytiker solch einen Modellbezug in der Therapiesituation explizit immer wieder herstellen kann.

Analog wie die Gedächtnispsychologie das weitgehend unbewusst arbeitende Konstrukt ’Gedächtnis’ voraussetzt und in ihren Experimenten Verhaltenseigenschaften zu erfassen sucht, die Hinweise auf das unterstellte Konstrukt Gedächtnis liefern, so unterstellt die angewandte Psychoanalyse generell einen unbewussten Bereich im
Menschen, dessen Auswirkungen auf die Selbstwahrnehmung eines Menschen und sein Verhalten entsprechend nur an äußerlich auftretenden Eigenschaften – wenn überhaupt – -erkannt werden können. Dies geschieht eben nicht nur in Form sprachlicher Äußerungen, sondern vor allem auch in der ’Art und Weise’ eines Sprechens oder Nicht-Sprechens, eines sich Bewegens, durch das Gesamtverhalten, was wann wie getan oder nicht getan wird, usw. Dies können sehr komplexe Phänomene sein, die sich im Erleben, im Fühlen, in der Somatik, im Erinnern,
im Träumen usw. ausdrücken können. Auch spielt Zeit eine Rolle, Wiederholungen; oder Konstellationen, die wieTrigger wirken, und vieles mehr.

Insofern das Unbewusste verschiedenen ’internen Logiken’ folgt und auch die ’Emotionen’ sich auswirken können, kann es für einen Psychoanalytiker unabdingbar sein, hinreichend ausgebildet zu sein, um seine eigenen internen Logiken und Emotionen soweit mobilisieren zu können, um eine hinreichende, das Unbewusste einbeziehende, Kommunikation mit dem Analysanden führen zu können. Andernfalls besteht die Gefahr, dass der Psychoanalytiker das ’Bedeutungsfeld’ der verschiedenen isoliert auftretenden Äußerungen des Analysanden nicht als das erkennen kann, als was sie auftreten, als Elemente einer unbewussten Dynamik, die sich in bestimmten Phänomenen manifestieren.

Ein ’Erfolg’ wird sich in solch einer dyadischen Analyse nur in dem Masse einstellen, wie der Analysand befähigt wird, sein eigenes Erleben und Agieren vor dem Hintergrund seiner eigenen unbewussten Dynamiken besser zu
Verstehen und in Folge davon vielleicht besser gestalten zu können.

E. Psychoanalyse und Psychologie

Im aktuellen Hochschulbetrieb ist die Psychoanalyse weitgehend ausgeschlossen. Auch grenzt sich die Psychologie weitgehend von der Psychoanalyse ab.  Wissenschaftsphilosophisch ist dies nicht nachvollziehbar. Die Psychoanalyse kann alle Anforderungen erfüllen, die die Wissenschaftsphilosophie für eine moderne
empirische Wissenschaft formuliert hat. Und wenn man sich die verschiedenen Spezialisierungen der Psychologie anschaut wie z.B. ’Sprachpsychologie’, ’Wahrnehmungspsychologie’, ’Wissenspsychologie’ oder ’Gedächtnispsychologie’ dann muss man sagen, dass alle diese Subdisziplinen nicht ohne die Annahme komplexer
theoretischer Konstrukte (’Wahrnehmung’, ’Wissen’, ’Gedächtnis’, ’Bedeutung’, …) auskommen. Die Besonderheit der Psychoanalyse mit der Annahme des Konstrukts ’Unbewusstes’ unterscheidet sich hier methodisch in keiner Weise.

Für die Ausgrenzung der Psychoanalyse aus der Psychologie gibt es daher keine harten wissenschaftsphilosophischen Argumente. Man Muss daher vermuten, dass hier allerlei nicht-wissenschaftliche Faktoren eine Rolle spielen. Unter diesen Faktoren mag jener der mangelnden wissenschaftsphilosophischen Kenntnis der Psychologie selbst
eine Rolle spielen. Aber auch banale Faktoren wie schlichte Angst darum, vorhandene Ressourcen mit noch anderen teilen zu müssen, kann man kaum ganz ausschließen.

Welche Faktoren man auch immer annehmen möchte, der aktuelle Ausgrenzungszustand ist wissenschaftsphilosophisch in keiner Weise gerechtfertigt.

F. Psychoanalyse, Menschenbild, Wissenschaften

Die Frage der ’Ausgrenzung’ von Disziplinen aus dem Wissenschaftsbetrieb spielen allerdings auch für das gesamte Menschenbild eine Rolle. Schaut man sich die Gegenstandsbereiche von Disziplinen an wie ’Physik’, ’Chemie’, ’Biologie’, ’Soziologie’, ’Psychologie’, ’Ingenieurwissenschaften’, und  ’Künstliche Intelligenz’ an, dann kann
man beobachten, dass in all diesen Disziplinen heute kein Menschenbild vermittelt wird, das den aktuell lebenden Menschen in irgendeiner interessanten Weise eine irgendwie geartete Perspektive für eine mögliche Zukunft anbieten würde. Der Mensch wird in allen Disziplinen weitgehend in ’Einzelteile’ zerlegt, ohne irgendwelche  Zusammenhänge.

Ob dem Menschen aus all dem eine irgendwie geartete Verantwortung erwächst, eine ’Perspektive für die Zukunft’, ist eine offene Frage mit Tendenz zum Nein.

Während die Biologie als Evolutionsbiologie ganz interessante Ansätze liefern könnte, werden diese Ansätze von der modernen Soziologie mehr oder weniger wieder ’pulverisiert’. Der systemtheoretische Ansatz eines Niklas Luhmann enthält zwar viele der wichtigen Zutaten für einen differenzierteren Blick auf die Dynamik von
Lebensphänomenen, aber die Art und Weise wie der Systembegriff verwendet wird, schließt gerade all jene Phänomene aus, die interessant sind. Die evolutionären Erkenntnisse der Evolutionsbiologie werden mit einer scholastisch anmutenden System-Arithmetik im semantischen Nichts versenkt.

Ob nun die Offenheit der Psychoanalyse für das weite Feld der unbewussten Strukturen und Dynamiken ein letztlich realistischeres Menschenbild ermöglichen würde als die Phänomen-Ausklammerer in den anderen Disziplinen ist keineswegs von vornherein sicher, aber es verhält sich wie mit dem Genpool: wenn die Ausgangsmenge zu
klein ist, dann ist der mögliche kombinatorische Raum schlicht zu klein, um der Vielfalt der umweltbedingten Herausforderungen gerecht werden zu können.

Haben wir Menschen Angst vor unserem eigenen Bild?

 

III. NÄCHSTE SITZUNG 29.APRIL 2018

Bei der Abschlussfrage, welches Thema wir für die nächste Sitzung am 29.April 2018 wählen wollen, fand das Stichwort von der ’adäquaten Beschreibung’ Interesse. Es wurde dann weiter ausdiskutiert in Richtung der Problematik, wie man von ’Messwerten’ zu einem ’Modell’ kommt? Den meisten Menschen ist nicht bewusst, dass
es auch in den empirischen Wissenschaften für den Weg von einzelnen Messwerten zu einem Modell keinen Automatismus gibt! Aus Messwerten folgt keine einzige Beziehung, erst recht kein Modell mit einem ganzen Netzwerk von Beziehungen. In allen empirischen Disziplinen braucht es Fantasie, Mut zum Denken, Mut zum Risiko, Kreativität und wie all diese schwer fassbaren Eigenschaften heißen, die im ’Dunkel des Nichtwissens’ mögliche Beziehungen, mögliche Muster, mögliche Faktorennetzwerke ’imaginieren’ können, die sich dann in der Anwendung auf Messwerte dann tatsächlich (manchmal!) als ’brauchbar’ erweisen. Und, ja, persönliche Vorlieben und Interessen (unbewusste Dynamiken) können sehr wohl dazu beitragen, dass bestimmte mögliche ’interessante Beziehungs-Hypothesen’ von vornherein ausgeschlossen oder eben gerade gefunden werden (so wie das Unbewusste die Psychologie daran
hindert, die Psychoanalyse als potentiellen Lösungsgenerator zu akzeptieren? 🙂

Eine Fortsetzung findet sich HIER.

KONTEXTE

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Über cagent

Bin Philosoph, Theologe, Kognitionswissenschaftler und hatte seit 2001 eine Vertretungsprofessur und ab 2005 eine volle Professur im Fachbereich Informatik & Ingenieurswissenschaften der Frankfurt University of Applied Sciences inne. Meine Schwerpunke ab 2005 waren 'Dynamisches Wissen (KI)', 'Mensch Maschine Interaktion (MMI)' sowie 'Simulation'. In dieser Zeit konnte ich auch an die hundert interdisziplinäre Projekte begleiten. Mich interessieren die Grundstrukturen des Lebens, die Logik der Evolution, die Entstehung von Wissen ('Geist'), die Möglichkeiten computerbasierter Intelligenz, die Wechselwirkungen zwischen Kultur und Technik, und der mögliche 'Sinn' von 'Leben' im 'Universum'. Ab 1.April 2017 bin ich emeritiert (= nicht mehr im aktiven Dienst). Neben ausgewählten Lehrveranstaltungen ('Citizen Science für Nachhaltige Entwicklung' (früher 'Kommunalplanung und Gamification. Labor für Bürgerbeteiligung')) arbeite ich zunehmend in einem integrierten Projekt mit Theorie, neuem Typ von Software und gesellschaftlicher Umsetzung (Initiative 'Bürger im Gespräch (BiG)). Die einschlägigen Blogs sind weiter cognitiveagent.org, uffmm.org sowie oksimo.org ... ja, ich war auch mal 'Mönch', 22 Jahre lang mit viel Mystik, Theologie und Philosophie; dabei u.a. einige Jahre Jugendsozialarbeiter.