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DIE MÜCKE FLIEGT INS TODESLICHT – UND DER MENSCH FLIEGT …

DIE MÜCKE

1. Wir kennen alle das Schauspiel, wenn Mücken, Insekten sich, magisch angezogen vom Licht, geradezu unaufhaltsam hineinstürzen … und verglühen, verkohlen, durch beißenden Geruch in unsere Wahrnehmung dringen.

2. Die einen ekelt es, andere schaudern innerlich, manche fühlen sich überlegen: diese dummen Mücken; könnte mir nicht passieren.

3. In der Tat, dass Menschen sich in eine Lichtquelle stürzen und dabei umkommen ist ziemlich ausgeschlossen. Aber sind wir deswegen aus dem Schneider?

Eine musikalische Mücke (Vom 7.Mai2015)

UND WIR

4. Ersetzt man das Wort ‚Licht‘ durch etwas anderes, kann sich das Bild schnell ändern. Wie wär’s mit ‚liebgewordener Vorstellung‘?

5. Wenn man jahrelang ‚Erfolg‘ hatte mit einer bestimmten Vorgehensweise (VW, Flüchtlingspolitik der Europäer, Nokia-Handy, Faule Geldprodukte der Großbanken, Fifa-Korruption, …), dann gaukelt dies eine Sicherheit vor, die tatsächlich nicht gegeben ist. Das scheinbar Bekannte, Erprobte übt solch eine Anziehungskraft aus, dass man alles tut, es zu bewahren, und damit bereitet man den Untergang vor.

REICHTUM

6. Wohlhabende und reiche Menschen, insbesondere, die diesen Reichtum geerbt und nicht selbst erarbeitet haben, leben in einer Welt scheinbarer Vorteile und Privilegien wie in einem Käfig. Freiwillig gibt dies kaum jemand auf; warum auch. Hat man nicht alles? Was wären die Alternativen? Warum sollte man sein Leben ändern? Was aus Sicht des einzelnen einen gewissen Sinn ergibt, kann als Teil des Ganzen einen gefährlichen Sprengsatz darstellen: wenn immer weniger Menschen (Prozentual) immer mehr besitzen, erzeugt dies ein soziales Spannungsfeld, das in der Geschichte bislang immer zu Aufruhr, Revolution, Zerstörung geführt hat, zu Chaos (fast alle Länder dieser Welt leiden an dieser Krankheit). Die individuelle Verblendung wird dann zur Falle, wird zum Gift, das das Denken, Fühlen und Handeln lähmt.

MACHT

7. Mit Macht ist dies nicht anders. Wer einmal in den scheinbare Genuss von ‚Macht‘ gekommen ist, der ist in der Regel verloren. Es ist wie ein physikalisch schwarzes Loch: die Beteiligung an dem System, das die Macht besitzt, wirkt wie die Gravitationskraft, die alles Individuelle, alle Art von Moral, Ethik, Individualität weg saugt und den einzelnen zum fast willenlosen Element des Machtfeldes macht, aus dem es kein Entkommen gibt, solange man die Macht für sich als oberstes Lebensprinzip akzeptiert.

8. Eines der berühmtesten Beispiele aus der Gegenwart für solch ein Macht-System ist die NSA: sie hat unglaubliche Geldvermögen zur Verfügung; sie steht außerhalb jeglichen Gesetze (jede Art von Verbrechen ist legitimiert, weil es offiziell um die ‚Sicherheit‘ geht, die über allem steht, was Menschen sonst heilig ist); eine demokratische Kontrolle existiert schon seit vielen Jahren nicht mehr (ehemalige Mitglieder des einzigen demokratischen Kontrollgremiums bestätigen, dass eine Kontrolle faktisch ausgeschlossen ist); das gelegentliche Auswechseln der offiziellen Leiter ist reine Kosmetik; die einzelnen Chefs müssen über ihre finanziellen Gebaren keinerlei Rechenschaft ablegen (die Generäle des US-Militärs übrigens auch nicht). Die innere Struktur ist auf Geheimniskrämerei und bedingungslosen Gehorsam ausgelegt. Für Machtmenschen ein Paradies. Für das Individuum eine Dauerhölle: nichts ist sicher; man muss alles abliefern, selbst seine intimsten Überzeugungen und Wünsche, Ethik ist ein Verbrechen; Entkommen ausgeschlossen. Das ganze ummantelt von der Illusion einer Demokratie, die aber keinerlei Zugriff mehr besitzt. Umgekehrt kann dies Monster jederzeit überall auf jeden zugreifen, ihn kontrollieren, ihn manipulieren und ihn nach Belieben zerstören. Keine juristische Einrichtung dieser Welt kann und wird dies verhindern.

9. Warum also sollte z.B. solch eine Institution sich ändern? Was könnte es geben, was diese Institution motiviert, ‚anders‘ zu sein, wie anders? Dieses schwarze-Macht-Loch (analog zum schwarzen Gravitations-Loch) zieht alles an sich; je tiefer man drin ist, umso stärker. Im Innern des Gravitationsfeldes dieser Macht ist jeder einzelne bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis solche Machtzentren die sie umgebenden gesellschaftlichen Systeme von innen heraus völlig aufsaugen und zerstören. Schon heute ist nicht mehr so richtig klar, ob das zivile politische System überhaupt noch ein Rest an Eigenleben hat, um solch ein Machtmonster demokratisch unter Kontrolle zu bringen. Alle Versuche der letzten Jahre in den politischen Gremien sind kläglich gescheitert.

10. Die NSA ist sicher ein Extrembeispiel. Immerhin gibt es noch Grundinformationen zu diesem System. In anderen Ländern (Russland, China, Iran, …) sind die Dinge verdeckter, aber, so muss man vermuten, sicher nicht besser. Ein klares Bild ist schwer möglich.

ANGST ZU SCHEITERN

11. Aber wir müssen nicht so weit streifen. Schauen wir uns in unserem eigene Alltag um, in unserer Nahumgebung, in unserem Bundesland. Wo immer wir hin schauen, überall finden wir die Tendenz, erreichte scheinbare ‚Vorteile‘ zu verteidigen, ‚erprobte Vorgehensweisen‘ heilig zu sprechen. Dies ist kein Zufall. Wir Menschen sind so konstruiert, dass unser Gedächtnis alles speichert und dass wir uns das, was einmal schlecht war zu meiden versuchen, und das, was erfolgreich erscheint, beibehalten und wiederholen. Die tiefsitzende Angst zu ’scheitern‘, ‚Fehler‘ zu machen, treibt uns dazu, das bislang erkannte ‚Erfolgreiche‘ quasi ‚heilig‘ zu sprechen, es auf das Podest zu stellen, es nicht zu hinterfragen.

WER HILFT DEN SCHWACHEN?

12. Und es ist ja auch objektiv nicht einfach. Die Dinge erscheinen heute vielfach so undurchsichtig, so komplex, dass man oft auch informatorisch hilflos da steht, und nicht wirklich weiß, was soll ich denn jetzt tun. Dann gibt es Prozesse, die man für ein Ziel durchlaufen muss, die Jahre dauern können, viele Jahre. In dieser Zeit muss man eine Beharrlichkeit, eine Konstanz entwickeln, die aktuelle Infragestellungen, Verunsicherungen abwehrt, sie durchsteht, sonst kommt man nicht zum Ziel. Änderungen sind angesichts solcher Prozesse nicht schnell machbar, nur in größeren Zeitabschnitten. Manchmal kann es also Jahre dauern, bis man einem unterschwelligen Gefühl der ‚Unstimmigkeit‘ wirklich Raum gibt, es kommen lässt, es anschaut, und man sich dann plötzlich ganz neu entscheidet. Dies sind aber schon sehr stabile Persönlichkeiten. Unsichere, instabile Persönlichkeiten werden beständig verunsichert, entscheiden sich um, brechen ab, erzeugen ein persönliches und soziales Chaos, was dann alles noch schwerer macht; vieles ausweglos erscheinen lässt. Sie können sich offensichtlich nicht alleine helfen. Doch wer hilft Ihnen? Welche Unterstützung haben die, die Hilfe brauchen?

EHEMALIGE DDR

13. In der damaligen DDR (ich bin da geboren; ein Teil unserer Verwandtschaft lebte dort, hatte immer Kontakt, war z.T. in der DDR) hatten wir ein System, das sich offiziell ideologisch auf ein Programm verpflichtet hatte, das gute Werte propagierte, und ein unmenschliches Programm der Überwachung und der Unterdrückung praktizierte. Das real Böse wurde gerechtfertigt mit einem virtuell Guten (die heutigen Parallelen zur NSA sind sehr stark: das virtuell Gut ‚Sicherheit‘ dient als Argument, alle erdenklichen Verbrechen, Überwachungen und Unterdrückungen zu rechtfertigen; dazu viel umfassender und effizienter, als es die Stasi je konnte). Für die Mitglieder der ‚Macht‘ in der ehemaligen DDR war dies sehr vorteilhaft; und diese Vorteile wurden in Stufen an die Unterstützer weitergegeben. Für diese gab es kein Motiv, sich zu ändern; im Gegenteil, durch die bekannten Unterdrückungsmaßnahmen musste jeder Angst um sich und sein Umfeld haben. Im Nachhinein und von außen betrachtet können wir heute wissen, dass dieses System als Ganzes ruinös war, Ressourcen verschwendet hat, nicht konkurrenzfähig war. Aus sich heraus hatte es keine Kraft, sich zu ändern, weil die Gravitationskraft der Macht und der Privilegien die Individuen in ihrem Bann hielt. Dass dann die Bürgerbewegungen Kraft entfalten konnten, lag weitgehend nur daran, dass das übergeordnete Machtsystem aufgrund anderer Faktoren Machtverschiebungen ermöglichte, die ein Handeln ohne Blutvergießen zuließen.

IST LEBEN UNMÖGLICH?

14. Individuelle Emotionen, individuelles Wissen, Koordinierung vieler Gehirne durch Kommunikation und durch faktische Verhältnisse, die immer größere Anzahl von Individuen, die riesige Bandbreite an kulturellen Gepflogenheiten und Sprache, darin enthalten die unterschiedlichen Ethiken, Regelsysteme, Werte … dass dies alles sich täglich neu finden und koordinieren soll, ohne mitgelieferte Bauanleitungen für das Leben, das ist eigentlich eine unlösbare Aufgabe. Dass wir es als Menschen trotzdem überhaupt soweit geschafft haben ist für mich ein Wunder, das hoffen lässt.

DAS GANZ GROSSE WUNDER

15. Eigentlich kann es nicht gehen, aber es geht doch, es geht immer weiter, es gibt nicht nur Katastrophen, es gibt nicht nur narzisstische Alphatierchen, es gibt nicht nur gewissenlose Diener der Macht, es gibt unglaublich Schönes, es gibt wunderbare tiefe Wahrheiten, es gibt berauschende Kunst, es gibt Menschen, die ihr Leben der Gravitation von Macht und Reichtum entrissen haben und eigenverantwortlich risikobereit handeln, es gibt Menschen, es gibt …. ja es gibt immer noch dieses unfassbare Phänomen des Lebens in diesem Universum, das sich über ca. 4 Mrd Jahre entwickelt hat, ohne dass wir auch nur das kleinste Momentum dazu beigetragen haben. Kann man dann überhaupt am Leben zweifeln?

eDrum – eBass – ePiano Overdrive (2.Okt.2015)

SPRUCH

Wer nicht staunen und lieben kann, sollte anfangen, nach seinen eigenen Lügen zu forschen, die ihn daran hindern, das Wunderbare wahrzunehmen, was schon immer da ist, bevor wir überhaupt den ersten Atemzug gemacht haben (nicht selten sind es andere, die zumindest dazu mit beigetragen haben, dass uns diese Lügen ‚eingepflanzt‘ wurden …).

 

PS: Einen thematisch ähnlichen, und doch leicht anders akzentuierten, Beitrag  findet man HIER.

Einen Überblick über alle Blogbeiträge des Autors cagent nach Titeln findet sich HIER.

BUCHPROJEKT 2015 – Zwischenreflexion 22.August 2015 – SHANNON BOLTZMANN DEACON – Was fehlt

Der folgende Beitrag bezieht sich auf das Buchprojekt 2015.

Dies ist die Fertigstellung des vorausgehenden Beitrags zur Position von Deacon 2010.

VORIGER BEITRAG VON MAYNARD SMITH

1. Im vorigen Beitrag war die Kritik von John Maynard Smith an der Informationstheorie von Shannon vorgestellt worden. Diese fokussierte im wesentlichen auf der direkten Anwendung des Shannonschen Begriffs auf die informationsvermittelnden Prozesse bei der Selbstreproduktion der Zelle, und er konnte deutlich machen, dass viele informationsrelevanten Eigenschaften bei dem Reproduktionsprozess mit dem Shannonschen Informationsbegriff nicht erfasst werden.

NOCHMALS ZU SHANNON (1948)

2. Nochmals kurz zurück zu Shannon selbst. Claude Elwood Shannon (1916-2001) macht gleich zu Beginn seiner Schrift klar, dass er sich nicht um bedeutungsrelevante Eigenschaften kümmern will, sondern, als Ingenieur und Mathematiker interessieren ihn vor allem jene allgemeinen Eigenschaften bei der Übermittlung von Nachrichten, durch die eine abgesendete Nachricht (‚message‘) möglichst eindeutig auch wieder bei einem Empfänger ankommt. Dabei wird davon ausgegangen, dass die aktuell zu übermittelnde Nachricht von einer bekannten Menge von möglichen Nachrichten ausgewählt wurde (Anmerkung: diese Menge muss sowohl dem Sender wie auch dem Empfänger bekannt sein). Der Sender muss in der Lage sein, die Nachricht in eine Ereignisform zu übersetzen (kodieren, encode), die innerhalb eines Kommunikationskanals übermittelt werden kann. Dazu werden in der Regel Sequenzen konkreter ‚Symbole‘ aus unterschiedlichen endlichen ‚Alphabeten‘ benutzt, die dann u.U. weiter übersetzt werden in konkrete physikalische Ereignisse in einem Kommunikationskanal. Das empfangende System wiederum muss diese Ereignisse so rückübersetzen können (dekodieren, decode), dass das System entscheiden kann, ob die ‚empfangenen Symbole‘ eine Nachricht im Sinne der vorausgesetzten Menge darstellen oder nicht.

3. Wichtig ist, dass Shannon im Allgemeinen zwar von Kommunikation spricht, die untersucht werden soll, und dass Kommunikation sich innerhalb der kommunizierenden Systeme über Nachrichten vermittelt, dass aber diese Nachrichten im realen physikalischen Austausch zwischen den Systemen als ephysikalische Ereigniss in einem Kommunikationskanal auftreten. Diese physikalischen Ereignisse (nicht die Nachrichten als solche!) müssen sich durch ihre Häufigkeit und durch ihren Unterscheidungsaufwand charakterisieren lassen.

4. Der ‚Unterscheidungsaufwand‘ resultiert daraus, dass ein physikalisches Ereignis in minimale Schaltereignisse aufgelöst werden muss, durch die es realisiert wird. So besteht zwischen den physikalischen Eigenschaften eines Signals, mittels dessen sich Nachrichten realisieren lassen, und den erzeugenden Schaltereignissen, ein transparenter Zusammenhang. Es hat sich eingebürgert, elementare Schaltvorgänge mit ‚1‘ und ‚0‘ zu charakterisieren und die Anzahl von benötigten Schaltvorgängen mittels des binären Zahlensystems zu ‚kodieren‘. In Anlehnung an John Wilder Tukey (1915-2000) übernahm Shannon die Sprechweise, dass ein physikalischer Zustand mit zwei möglichen Werten als binärer Zustand bezeichnet wird; er soll die Menge von 1 bit Information repräsentieren. Nur auf diesen Aspekt bezieht Shannon den Begriff der Information! Es geht um ein Maß für den Aufwand an unterscheidbaren technischen binären Schaltzuständen, die zur Realisierung von Signalen notwendig ist, mittels deren Nachrichten kodiert werden. Die Nachrichten selbst, die möglicherweise (und im Normalfall) noch zusätzlich komplexe Bedeutungen kodieren, bleiben in dieser Betrachtung völlig außen vor.

5. Man muss also davon ausgehen, dass es zwischen der Menge der möglichen Nachrichten in einem Sender und der Übersetzung dieser Nachrichten in geeignete Symbolketten, die dann weiter für physikalische Ereignisse im Kanal kodiert werden, eine hinreichende Korrespondenzbeziehung gibt, die im Übersetzungsvorgang (in der Enkodierung) festgelegt ist. In seinem theoretischen Modell geht Shannon dann davon aus, dass jedem unterscheidbaren Symbol im Übermittlungsprozess ein unterscheidbarer Zustand in seinem Modell einer Quelle entspricht, und dass es von jedem solchen Zustand zum nächsten möglichen Zustand eine Übergangswahrscheinlichkeit gibt, die man im realen Prozess über Häufigkeiten messen kann. Das Modell einer solchen Quelle nennt er ein ’stochastisches‘ Modell, hier genauer ein ‚Markov Modell‘, das zudem noch ‚ergodisch‚ sein soll.

 

DIE POSITION VON DEACON

ALLTAGSERFAHRUNG

6. Terrence W.Deacon (Geb.1950) beginnt seine Überlegungen mit der Alltagserfahrung, dass die physikalischen Ereignisse (Schallwellen, Schriftzeichen, …) als solche keinerlei Hinweise auf irgendetwas anderes Zusätzliches enthalten. Erst in der Interpretation durch einen Empfänger werden diese physikalischen (= extrinsischen) Ereignisse zu möglichen Hinweisen, Zeichen für etwas Anderes (Anmerkung: Deacon benutzt hier ‚about‘); dieses Andere können irgendwelche intrinsische abstrakte Sachverhalte sein, die als ’nicht existente‘ Objekte dennoch eine Wirkung auf einen Kommunikationsteilnehmer entfalten können. Wie diese Abbildung von erkannten empirischen extrinsischen Kommunikationsereignisse auf nicht empirische mentale intrinsische Sachverhalte genau vonstatten geht, dazu fehlt nach Deacon noch eine angemessene wissenschaftliche Erklärung. Der ontologische Status dieser intrinsischen abstrakten mentalen Sachverhalte ist unklar.

COMPUTER PARADIGMA

7. An dieser Stelle bringt Deacon das Computer-Paradigma ins Spiel. Er charakterisiert es so, dass man in einem Computer, der ein physikalisches Objekt mit vielen möglichen physikalischen Prozessen darstellt, sehr wohl Beziehungen zwischen unterschiedlichen physikalischen Prozessen und Zuständen herstellen kann, die man abstrakt als Abbildungs- und Bedeutungsbeziehungen interpretieren könnte. Anders als bei einem natürlichen physikalischen Prozess kann man in einem Computer das Verhalten eines physikalischen Prozesses von anderen physikalischen Eigenschaften abhängig machen; diese anderen ‚willkürlich zugeordneten‘ physikalischen Eigenschaften funktionieren in einer abstrakten Sehweise als ‚Referenz‚, als mögliche ‚Bedeutung‘. Insofern wäre der Computer prinzipiell ein theoretisches Modell für Interpretations- und Bedeutungsprozesse. Dennoch meint Deacon hier auf die Bremse treten zu müssen, da für ihn das Computerparadigma nur ‚syntaktisch‚ definiert sei und die möglichen Bedeutungen nur ‚implizit‘ besitzt. Auch jene Ansätze, die die syntaktische Maschinerie des Computers über ‚Verkörperung‘ (Englisch: ‚embodiment‘) und ‚Fundierung in der Realwelt‘ (Englisch: ‚grounding‘) mit Bedeutung aufladen wollen, akzeptiert er nicht als ‚Lösung‘ des Geist-Körper (‚mind-body‘) Problems.

8. Es wird nicht ganz klar, warum Deacon dieses offensichtlich über Shannon hinausgehende Computer-Paradigma nicht akzeptiert; man spürt nur einen starken Vorbehalt, der von einem inneren Widerstand gespeist wird, dessen innere Logik sich dem Leser verschließt. Er spricht an späterer Stelle nochmals von einem ‚mechanistischem Determinismus‚, wobei aber nicht klar ist, ob das Computer-Paradigma wirklich ‚deterministisch‘ ist; viele unterstellen dies spontan. Deswegen muss es aber nicht zutreffen. Deacon legt sich jedenfalls darin fest, dass im klassischen Computer-Paradigma nur das syntaktische Konzept von Information berücksichtigt sei. (vgl. S.157) Wenn er dann emphatisch behauptet, dass berechenbare Prozesse in einem Computer nichts haben, was sie von normalen physikalischen Prozessen unterscheidet (vgl. S.157), widerspricht er sich selbst, da er zuvor bei der Charakterisierung des Computer-Paradigmas geschrieben hat, dass sich Prozesse in einem Computer von anderen bloß physikalischen Prozessen gerade dadurch unterscheiden, dass sie Abbildungsbeziehungen (‚maping relationship‘) realisieren können. (vgl. S.155) Was gilt nun? Als Leser hat man den Eindruck, dass Deacon einerseits zwar gewisse Besonderheiten bei Berechnungsprozessen im Computer sehr wohl erkennt, dass er aber offensichtlich ‚innerlich‘ ein Problem damit hat, diesen Erkenntnissen weiter zu folgen.

QUANTENMECHANIK

9. Deacon diskutiert auch den möglichen Beitrag der Quantenmechanik für die Frage der potentiellen abstrakten Objekte. Die Quantenmechanik beobachtet und misst Eigenschaften am Verhalten der Materieteilchen, die sowohl dem alltäglichen Kausalverständnis wie auch einem platten Determinismus zu widersprechen scheinen. Dennoch konstatiert Deacon, dass dieses scheinbar nichtdeterministische Verhalten die Frage nach potentiellen Beziehungen zu anderen Tatbeständen nicht beantwortet. Die beobachtbaren sonderbaren Korrelationen zwischen bestimmten Teilchen sind nicht vergleichbar mit den intentionalen Sachverhalten, bei denen ein etwas ‚für‘ (‚about‘) ein ‚anderes‘ ’steht‘. (vgl. S.157)

INFORMATION

10. In der Begegnung mit der Schrift A mathematical theory of communication erkennt Deacon sehr wohl den spezifischen Beitrag von Shannon an, kritisiert aber, dass durch die Ausklammerung möglicher Bedeutungsanteile bei Shannon in der nachfolgenden Rezeption des Informationsbegriffs der Begriff der Information unzulässig vereinfacht und eingeengt wurde. Dies behinderte später eine angemessene Behandlung jener ausgelassenen Eigenschaften.

11. An dieser Stelle muss man fragen, ob die – in dieser Weise auch von vielen anderen – erhobene Kritik an einer Engführung des Begriffs Information am allerwenigsten Shannon selbst trifft, da dieser sehr klar und unmissverständlich schon auf der ersten Seite feststellt, dass er hier aufgrund des Interesses des Engineerings alle diese bedeutungsrelevanten Aspekte ausgeklammert hat. Man muss sich eher wundern, warum nicht andere nach Shannon, nachdem er solch eine exzellente Analyse einiger logischer Eigenschaften von Zeichenträgern in einem Kommunikationskanal vorgelegt hat, aufbauend auf diesen Analysen dann nicht weiterführende mathematische Modelle vorgelegt haben, die sich gerade um die von Shannon ausgeklammerte Bedeutungsproblematik kümmern. Ständig nur darüber zu klagen, dass Shannon nicht die ganze Breit des Problems behandelt hat, ist wenig hilfreich und wird seiner innovativen Leistung nicht gerecht.

12. Wenn Deacon behauptet, dass der Begriff ‚Information‘ ’nach Definition‘ die Beziehung von etwas zu etwas anderem bezeichnet, dann muss man hier viele Fragezeichen setzen. In der Zeit vor der sogenannten Informationstheorie (begründet u.a. durch Shannon und Norbert Wiener (1894-1964)) wurde der Begriff der ‚Information‘– wenn überhaupt – damals nicht so benutzt, wie wir ihn heute gerne benutzen. Im Vordergrund standen allgemeine philosophische Aspekt wie die ‚Formung der Materie‘, später die ‚Formung des Menschen‘ durch Erziehung, noch später die ‚Fixierung von Wissen‘. (vgl. Sandkühler 2010:1105f) Die explizite Frage nach der Bedeutung war eher gebunden an Reflexionen über Zeichen und ihren Bedeutungen, die erst in der Semiotik (vgl. Noeth 2000) und dann durch Wittgensteins Philosophische Untersuchungen (1953) explizit thematisch wurden. Allerdings stellte sich das Bedeutungsproblem in der Neuzeit mehr und mehr in einer Weise dar, die die Frage nach der Bedeutung als ’schwierig‘ oder gar ‚unbeantwortbar‘ erscheinen lässt. Und es ist sicher kein Zufall, dass auch im Gebiet der Logik, spätestens mit dem Aufkommen der modernen formalen Logik, alle möglichen Bedeutungsanteile genauso ‚entfernt‘ wurden wie in der modernen Informationstheorie. Dies wird gerne großzügig übersehen. Dass die moderne Logik weniger über das alltägliche Denken sagen kann als noch die antike Logik, ist bizarr.

ENTROPIE

13. Wäre der Artikel von Deacon ein Schachspiel, dann könnte man sagen, dass er an dieser Stelle der Argumentation mit einem ungewöhnlichen Zug überrascht. Anstatt, dass er jetzt den beklagten Mangel an Theorie für eine befriedigende Erklärung der möglichen Bedeutungsanteile im Rahmen von Kommunikation mit der Einführung eines entsprechenden Modells behebt, verharrt er bei dem Problem der ‚Abwesenheit der Bedeutung‘ bzw. ‚des Inhalts‘.

ENTROPIE IM KONTEXT VON SHANNON

14. Nachdem Shannon für seine technischen Zwecke mit dem ‚Bit‘ einen technischen Informationsbegriff eingeführt hatte, der auf dem Konzept des Entscheidungsaufwandes zur Erkennung eines Symbols aus dem verwendeten Alphabet aufbaute, führte er das Konzept der ‚Informationskapazität eines Kanals‘ (gemessen in Bits pro Sekunde) ein, sowie das Konzept einer ‚Informationsquelle‘. Diese Informationsquelle ist nicht vollständig zufällig und erzeugt Sequenzen von Informationselementen, die einer bestimmten statistischen Struktur gehorchen. Letztlich ist es ein diskretes Markov Modell (Anmerkung: für weitere Typen von Markov Modellen siehe HIER) mit der zusätzlichen Eigenschaft der Ergodizität. Und er führt dann ein Funktion H ein, die ‚messen‘ soll, wie viel (technische) Information von solch einer Quelle erzeugt wird. Er gibt keine Begründung für diese Formel im Detail sondern meint nur, dass die tatsächlich Begründung für diese Formel in ihren Implikationen liege. (vgl. S.393) Auch stellt Shannon einen direkten Bezug zur Entropieformel von Boltzmann her.

15. Auffällig an dieser Stelle ist, dass der zuvor eingeführte technische Informationsbegriff bezogen auf die Anzahl der technischen Entscheidungen, die notwendig sind, um ein Symbol von einem anderen zu entscheiden (die Anzahl der Bits), in diesem Informationsmaß H überhaupt keine Rolle mehr spielen! Stattdessen arbeitet Shannon hier nur noch mit Wahrscheinlichkeiten: (i) Wahrscheinlichkeiten dafür, dass ein bestimmter Zustand eintritt und (ii) Wahrscheinlichkeit dafür, dass in einem bestimmten Zustand ein bestimmtes Element ausgewählt wird. Die technische Beschaffenheit der Elemente spielt eigentlich keine Rolle mehr.

BOLTZMANN ENTROPIE

16. Daraus ergibt sich, dass Shannon im gleichen Text zwei ganz verschiedene Informationsbegriffe benutzt: (i) Information1 im Sinne des Aufwands an binärer Kodierung; (ii) Information2 als die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten bestimmter Elemente bzw. Sequenzen von Elementen. Der zweite Begriff hat strukturell Ähnlichkeiten mit dem Entropiebegriff von Boltzmann (1844 – 1906.

17. Mit Bedeutungsanteilen hat keiner der beiden Informationsbegriffe etwas zu tun.

UNKLARHEITEN IM ENTROPIEBEGRIFF

18. Ferner muss man hier einblenden, dass der Begriff der Entropie, den Shannon einführt, keinesfalls so eindeutig ist, wie man im ersten Moment glauben möchte. Shannon zitiert Boltzmann mit seiner Entropieformel. Letzterer gehört zu den Mitbegründern dessen, was man heute Statistische Mechanik nennt, die im Rahmen der allgemeinen Thermodynamik nur einen Teilbereich abbildet. Wie der Philosoph Lawrence Sklar (Geb.1938) herausgearbeitet hat (siehe Lawrence Sklar (2015), Philosophy of Statistical Mechanics), sind die Begrifflichkeiten der verschiedenen Teiltheorien alles andere als klar (und hängen, sobald sie auf reale Bereiche angewendet werden, von sehr vielen speziellen Begriffen ab). Zudem ist nicht gesichert, ob und wie die vorausgesetzten Statistiken die unterstellten empirischen Strukturen tatsächlich so abbilden, wie diese sich in der empirischen Welt verhalten. Einen ‚Entropiebegriff‘ einzuführen erklärt damit nicht automatisch die Frage, die man beantworten möchte.

ABWESENHEIT DES MÖGLICHEN

19. Dass Deacon von der ‚Abwesenheit‘ des Inhalts, der Bedeutungsanteile, sprechen kann, liegt nur daran, dass er relativ zu einem Kommunikationsmedium mit seinen Symbolen einen Empfänger voraussetzt, der ‚in sich‘ (mental) relativ zu den wahrnehmbaren (und unmittelbar präsenten) Symbolen (mental) annimmt (!), dass diese wahrnehmbaren Symbole einen Bezug (‚about‘) zu etwas Anderem haben, das nicht ‚unmittelbar präsent‘ (in der empirischen Situation) ist. Natürlich ist der Bezug (about) zu dem Anderen in (!) den mentalen Zuständen des Interpreten gleichzeitig unmittelbar präsent. Ohne diese fundamentale Annahme gebe es keinerlei Grund, das Vorkommen von Symbolen so zu charakterisieren, dass ihnen Bedeutungsanteile fehlen würden. Diese fundamentale Annahme macht Deacon aber nicht explizit. Stattdessen analysiert er die Eigenschaften des Kommunikationsmediums weiter, das als solches keinerlei Bezug zu einer Bedeutung (about) hat.

SHANNON-BOLTZMANN ENTROPIE

20. Deacon benutzt dann die Bezugnahme von Shannon auf den Entropiebegriff von Boltzmann in dem Sinne, dass Boltzmann in seinem Entropiebegriff annimmt, dass die Veränderung eines wahrscheinlicheren Zustandes durch Ausführung von Arbeit in Richtung eines weniger wahrscheinlicheren Zustandes die Entropie bei Boltzmann verringert (da dieser Entropiebegriff am größten ist, je mehr Freiheitsgrade die Mikroteilchen des unterstellten Systems haben. Dies setzt die Annahme voraus, dass die Einschränkung der Freiheitsgrade durch ‚Bindungen‘ auftreten, die nur durch Energiezufuhr (Arbeit, Wärme, …) aufgelöst werden können). Arbeit impliziert eine extrinsische Einwirkung auf das System.

21. Mit dem Shannonschen Entropiebegriff ist die Entropie auch am größten, wenn alle Kommunikationselemente gleich wahrscheinlich sind. Im Shannonschen Entropiebegriff wird aber keinerlei Annahme darüber gemacht, wie eine Ungleichverteilung zustande kommt. Während die Physiker unterschiedliche Modellvorstellungen darüber entwickelt haben, wie sich Elemente eines System ‚binden‘ können und wie man diese Bindungen wieder auflöst, verzichtet Shannon darauf völlig, da er ja nur die Auswirkungen von den verschiedenen Verteilungen auf den Kommunikationskanal beschreiben wollte. Der Shannonschen Entropiebegriff leistet insofern formal annähernd das Gleiche wie der Entropiebegriff von Boltzmann, aber er bietet keinerlei Ansatzpunkte, etwas darüber zu sagen, was zu den unterschiedlichen Verteilungen führt. Würde man (was Shannon explizit nicht getan hat und wofür er keinerlei Grund hatte) das Modell der Informationsquelle dahingehend erweitern, dass man das formale Modell eines Sprecher-Hörers konzipieren würde, in dem man die Entstehung von Verteilungen mit modellieren würde, dann könnte man ein Äquivalent zum Begriff der ‚Arbeit‘ im Boltzmann Modell (und dann in allen thermodynamischen Modellen) bekommen, welches den ‚mentalen/ kognitiven‘ Aufwand modellieren würde, der notwendig ist, um die Elemente eines Kommunikationsereignisses mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten zu konfigurieren. So wie es aus technischer Sicht einen unterschiedlichen Schaltungsaufwand – gemessen in Bits – bedeutet, unterschiedliche große Symbolmengen zu realisieren, so kann man unterstellen, dass es aus technischer Sicht einen höheren Aufwand bedeutet, eine Menge von N Elementen mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten zu konfigurieren und zu verwalten. Möglicherweise kann man diesen technischen Aufwand auch in Bits messen; möglicherweise aber besser in der Anzahl notwendiger Elementaroperationen eines definierten idealen Rechners. Würde man zusätzlich eine Abbildung herstellen zwischen der technischen Maschinerie zur Konstruktion und Verwaltung von Elementen mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten zu dem formalen Modell eines ‚mentalen Raumes‘, dann könnte man die technisch-digitale Arbeit übersetzen in eine ‚mentale-kognitive‘ Arbeit.

22. Deacon spricht zwar von einer ‚intimen Beziehung‘ zwischen dem Entropiebegriff von Shannon und Boltzmann, beschränkt sich aber auf den sehr äußerlichen Aspekt, dass der physikalischen Kommunikationskanal die ‚Basis einer Signalreferenz‘ ist. Er verfolgt dann aber den Aspekt der ‚Referenz‘ (zu möglichen Umständen einer Bedeutung) nicht direkt, sondern reflektiert eher den Unterschied zwischen jenen Kommunikationsereignissen, die im Kanal zu einem bestimmten Zeitpunkt auftreten und jenen, die auch noch auftreten könnten, aber aufgrund bestimmter Beschränkungen (‚constraints‘) nicht jetzt aufgetreten sind. Auch hier stellt er fest, dass diese Beschränkungen zusammen mit der Differenz zwischen jetzt präsent und was sein könnte keine inhärenten Eigenschaften der physikalischen Beschaffenheit des Kanals oder der Kommunikationselemente als solcher ist, sondern eine ‚Beziehungseigenschaft‘ (‚relational property‘), die auf eine ‚extrinsische Intervention‘ (‚extrinsic intervention‘) verweisen. An anderer Stelle formuliert Deacon es so, dass die Abweichung von einem erwarteten Zustand genommen wird als Referenz zu einer ansonsten unbeobachteten Ursache. (vgl. Deacon 2010:162)

REFERENZ IN DER ABWESENHEIT

23. Es ist schon auffällig, dass Deacon einerseits sehr beharrlich den unvollständigen (reduktiven) Charakter des Sprechens über Kommunikationselemente ohne Bedeutungsbezug anspricht, dass er aber die dazu notwendigen Annahmen über spezielle Eigenschaften des Hörer oder Senders, zur ‚In-Beziehung-Setzung‘ von Kommunikationselementen mit möglichen Bedeutungen vollständig außen vor lässt. Wenn schon das Kommunikationselement als solches (und auch nicht der Kommunikationskanal) keinerlei Hinweis auf mögliche Bedeutungen liefert, er aber dennoch von ‚Bezug‘, ‚Erwartung‘, ‚Differenz‘ usw. spricht, wundert es, warum er nicht direkt die beteiligten Hörer-Specher in seine Modellierungen einbezieht. Stattdessen versucht er über die formale Ähnlichkeit zwischen der Entropie bei Shannon und Boltzmann eine Brücke zu ‚äußeren Einflüssen‘ zu bauen, die zwar der Entropiebegriff von Boltzmann dank seiner Einbettung in ein weiterführendes physikalisches Modell bietet, nicht (!!!) aber der Entropiebegriff von Shannon. Shannon hat dies nicht interessiert und er benötigt es auch nicht.

24. Dieses Beharren auf das Postulat von äußeren Einflüssen bei Änderung von Zuständen wird umso unverständlicher, als Deacon selbst feststellt, dass weder die Unterschied im Symbol selbst noch mögliche externe Arbeit aus sich heraus irgendeinen Bezug zu möglicher Bedeutung haben müssen. (vgl. Deacon 2010:162f)

NOTWENDIGKEIT DER INTERPRETATION

25. An einer Stelle stellt Deacon dann fest, dass die Einbettung eines Kommunikationselementes in eine Beziehung mit referentiellem Anteil einen ‚Prozess‘ voraussetzt, einen ‚Interpretationsprozess‘, für dessen Beschreibung jedoch eine geeignete Theorie fehle. Er greift dann Gregory Bateson (1904-1980) auf, der die Formel bietet „Eine Differenz die eine Differenz macht“. So kryptisch diese Formulierung ist, Deacon greift sie auf und verbindet diese Idee mit dem vorausgehenden Postulat, dass das Überschreiten eines Kommunikationselementes in Richtung einer möglichen Referenz einen Interpretationsprozess voraussetzt. Dieser Interpretationsprozess muss empfänglich (’susceptible‘, ’sensitiv‘) sein für Einwirkungen von außen, muss modifizierbar sein, und muss differenziert fähig sein, aufgrund dieser Änderungen Arbeit ausführen zu können. (vgl. Deacon 2010:164)

INTERPRETATIONSPROZESS ALS PHYSIKALISCH-BIOLOGISCHER PROZESS

26. Insofern dieser Interpretationsprozess ein biologischer Prozess sein soll, muss man nach Deacon verlangen, dass dieser Prozess sich nicht in einem thermodynamischen Gleichgewicht befindet. Dies ist aber nur möglich, wenn es eine Umgebung gibt, die hinreichende Unterstützung (z.B. freie Energie) zur Erhaltung des Nichtgleichgewichts bietet. Zugleich impliziert dies nach Deacon die Annahme, dass solch ein interpretatives System sich von der Umgebung abgrenzen muss, was eine gewisse körperliche Identität mit sich bringt. Auch sieht Deacon hier eine implizite Normativität gegeben, insofern die Vorgaben der Umgebung für das agierende Systeme eine Quasi-Norm darstellen, die das System erfüllen muss, sollen seine Nachkommen überleben (die Nachkommen erwähnt Deacon nicht).

27. An dieser Stelle behauptet Deacon dann, dass diese physikalische Beziehungen zwischen System und Umgebung dann in eine Informationsbeziehung verwandelt wird. Dies ist eine überraschende Formulierung. Bislang gibt es ja nur zwei Informationsbegriffe: Information1 bezogen auf den Entscheidungsaufwand zur Darstellung eines Kommunikationselementes in einer Menge (Alphabet); Information2 als gewichteter Logarithmus der Wahrscheinlichkeiten aller aktuell verfügbaren Elemente. Wie diese Begriffe sich jetzt in den postulierten Prozess im thermodynamischen Ungleichgewicht einfügen sollen, ist nicht klar. Wenn er dann noch die Begriffe ‚Evolutionär‘ und ‚emergent‘ einwirft, wird es nicht klarer, was er eigentlich meint. Man kann nur ahnen, dass er in der dynamischen Wechselbeziehung zwischen ‚inneren‘ Zuständen des Interpretationsprozesses in Abhängigkeit von Gegebenheiten der externen Umgebung Differenzen im Innern des Systems sieht, die als ‚Ursache‘ des beobachtbaren Verhaltens (= Arbeit?) dienen und in diesem Sinne jene möglichen Referenzen repräsentieren, die dann zur Produktion nicht nur von Verhalten allgemein sondern auch von speziellem Kommunikationsverhalten führen können, die sich in der Produktion von Kommunikationselementen manifestieren. Dies motiviert ein wenig seine begriffliche Hierarchie von (i) syntaktischer Information (Shannon), (ii) semantischer Information (Shannon-Boltzmann) sowie (iii) pragmatischer Information (Shannon-Boltzmann-Darwin). (vgl. Deacon 2010:166)

SEMIOTIK

28. So schön dies klingt, hier bleibt Deacon viele wichtigen Erklärungen schuldig. Aus dem, was er zuvor erläutert hatte, lassen sich diese Begriffe nicht motivieren. Die Begriffe ’syntaktisch‘, ’semantisch‘ und pragmatisch‘ gehören in das Begriffsnetzwerk der Semiotik (ausführlich bei Noeth 2000), von der Deacon zuvor nichts erklärt hatte. Außerdem bietet die Semiotik keine einheitliche Theorie. Den Ansatz von Shannon ’syntaktisch‘ zu beschreiben könnte partiell funktionieren. Die Kombination aus Shannon und Boltzmann als ’semantisch‘ zu bezeichnen, ist nicht nachvollziehbar; das Dreigestirn Shannon-Boltzmann-Darwin mit der Pragmatik in Beziehung zu setzen, könnte irgendwo funktionieren, würde aber voraussetzen, dass man entsprechend die syntaktische und semantische Dimension herausgearbeitet hat. Das ist in diesem Text nicht zu sehen. (Anmerkung: Deacon verweist hier auf zwei Artikel von ihm selbst, in denen dieses Thema behandelt worden sein soll: Deacon 2007, Deacon 2008. Grob erscheint der Beitrag im Buch 2010 als eine verkürzte Fassung dieser beiden Artikel. Es wird sich lohnen, diese zusätzlich zu lesen).

MENTALES ALS PRODUKT DER INTERAKTION MIT UMWELT

29. In den abschließenden Überlegungen Deacons (Deacon 2010: 168ff) blitzt ein wenig das Motiv auf, warum Deacon nach dem Konstatieren der Bedeutungsanteile im Modell von Shannon nicht einfach ein erweitertes Modell vorgestellt hat. Er will nicht das Mentale/ Kognitive einfach so separat vom gesamten Systemdarstellen, sondern als ein ein Moment des dynamischen Entwicklungsprozesses (Phylogenese, Ontogenese), innerhalb dessen ein System seine Unterschiede und Beschränkungen in der Interaktion mit der Umgebung ausbildet. Deacon will die Referenz nicht nur formal fundieren (wie z.B. im Paradigma des ‚Embodyments‘ oder ‚Groundings‘), sondern physikalisch-biologisch. Dies kann man nur begrüßen. Allerdings gibt es schon sehr viele Ansätze, die dieses versucht haben oder versuchen. Allerdings nicht so explizit hart orientiert an den Entropiebegriffen von Shannon und Boltzmann. Und mehr als eine erste grobe Idee hat Deacon hier nicht geliefert. Es ist noch nicht einmal klar, ob die Konzepte von Shannon, Boltzmann und Darwin tatsächlich all das hergeben, was Deacon innovativ ihnen einfach mal so unterstellt hat.

 

Eine weitere Zwischenreflexion war notwendig. Zum Mitlesen klicke HIER

QUELLEN

  1. Terrence W.Deacon (2010), „What is missing from theories of information“, in: INFORMATION AND THE NATURE OF REALITY. From Physics to Metaphysics“, ed. By Paul Davies & Niels Henrik Gregersen, Cambridge (UK) et al: Cambridge University Press, pp.146 – 169
  2. Hans Jörg Sandkühler (2010), „Enzyklopädie Philosophie“, Bd.2,, 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, Meiner Verlag, Hamburg 2010, ISBN 978-3-7873-1999-2, (3 Bde., parallel dazu auch als CD erschienen)
  3. Lawrence Sklar (2015), Philosophy of Statistical Mechanics in Stanford Encyclopedia of Philosophy
  4. Schroedinger, E. „What is Life?“ zusammen mit „Mind and Matter“ und „Autobiographical Sketches“. Cambridge: Cambridge University Press, 1992 (‚What is Life‘ zuerst veröffentlicht 1944; ‚Mind an Matter‘ zuerst 1958)
  5. Claude E. Shannon, A mathematical theory of communication. Bell System Tech. J., 27:379-423, 623-656, July, Oct. 1948
  6. Claude E. Shannon; Warren Weaver (1949) „The mathematical theory of communication“. Urbana – Chicgo: University of Illinois Press.
  7. Deacon, T. (2007), Shannon-Boltzmann-Darwin: Redfining information. Part 1. in: Cognitive Semiotics, 1: 123-148
  8. Deacon, T. (2008), Shannon-Boltzmann-Darwin: Redfining information. Part 2. in: Cognitive Semiotics, 2: 167-194
  9. Bateson, G. (2000 reprint. First published 1972). Steps to an Ecology of Mind: Collected Essays in Anthropology, Psychiatry, Evolution, and Epistemology. Chicago, Illinois: University of Chicago Press
  10. John Maynard Smith (2000), „The concept of information in biology“, in: Philosophy of Science 67 (2):177-194
  11. Noeth, W., Handbuch der Semiotik, 2. vollst. neu bearb. und erw. Aufl. mit 89 Abb. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler, xii + 668pp, 2000
  12. Monod, Jacques (1971). Chance and Necessity. New York: Alfred A. Knopf
  13. Introduction to Probability von Charles M. Grinstead und J. Laurie Snell, American Mathematical Society; Auflage: 2 Revised (15. Juli 1997)

BUCHPROJEKT 2015 – Zwischenreflexion 19.August 2015 – INFORMATION – WHAT IS MISSING – Terrence W.Deacon

Der folgende Beitrag bezieht sich auf das Buchprojekt 2015.

!!! ACHTUNG: Noch nicht vollständig !!!

VORIGER BEITRAG

1. Im vorigen Beitrag war die Kritik von John Maynard Smith an der Informationstheorie von Shannon vorgestellt worden. Diese fokussierte im wesentlichen auf der direkten Anwendung des Shannonschen Begriffs auf die informationsvermittelnden Prozesse bei der Selbstreproduktion der Zelle, und er konnte deutlich machen, dass viele informationsrelevanten Eigenschaften bei dem Reproduktionsprozess mit dem Shannonschen Informationsbegriff nicht erfasst werden.

NOCHMALS ZU SHANNON (1948)

2. Nochmals kurz zurück zu Shannon selbst. Claude Elwood Shannon (1916-2001) macht gleich zu Beginn seiner Schrift klar, dass er sich nicht um bedeutungsrelevante Eigenschaften kümmern will, sondern, als Ingenieur und Mathematiker interessieren ihn vor allem jene allgemeinen Eigenschaften bei der Übermittlung von Nachrichten, durch die eine abgesendete Nachricht (‚message‘) möglichst eindeutig auch wieder bei einem Empfänger ankommt. Dabei wird davon ausgegangen, dass die aktuell zu übermittelnde Nachricht von einer bekannten Menge von möglichen Nachrichten ausgewählt wurde (Anmerkung: diese Menge muss sowohl dem Sender wie auch dem Empfänger bekannt sein). Der Sender muss in der Lage sein, die Nachricht in eine Ereignisform zu übersetzen (kodieren, encode), die innerhalb eines Kommunikationskanals übermittelt werden kann. Dazu werden in der Regel Sequenzen konkreter ‚Symbole‘ aus unterschiedlichen endlichen ‚Alphabeten‘ benutzt, die dann u.U. weiter übersetzt werden in konkrete physikalische Ereignisse in einem Kommunikationskanal. Das empfangende System wiederum muss diese Ereignisse so rückübersetzen können (dekodieren, decode), dass das System entscheiden kann, ob die ‚empfangenen Symbole‘ eine Nachricht im Sinne der vorausgesetzten Menge darstellen oder nicht.

3. Wichtig ist, dass Shannon im Allgemeinen zwar von Kommunikation spricht, die untersucht werden soll, und dass Kommunikation sich innerhalb der kommunizierenden Systeme über Nachrichten vermittelt, dass aber diese Nachrichten im realen physikalischen Austausch zwischen den Systemen als ephysikalische Ereigniss in einem Kommunikationskanal auftreten. Diese physikalischen Ereignisse (nicht die Nachrichten als solche!) müssen sich durch ihre Häufigkeit und durch ihren Unterscheidungsaufwand charakterisieren lassen.

4. Der ‚Unterscheidungsaufwand‘ resultiert daraus, dass ein physikalisches Ereignis in minimale Schaltereignisse aufgelöst werden muss, durch die es realisiert wird. So besteht zwischen den physikalischen Eigenschaften eines Signals, mittels dessen sich Nachrichten realisieren lassen, und den erzeugenden Schaltereignissen, ein transparenter Zusammenhang. Es hat sich eingebürgert, elementare Schaltvorgänge mit ‚1‘ und ‚0‘ zu charakterisieren und die Anzahl von benötigten Schaltvorgängen mittels des binären Zahlensystems zu ‚kodieren‘. In Anlehnung an John Wilder Tukey (1915-2000) übernahm Shannon die Sprechweise, dass ein physikalischer Zustand mit zwei möglichen Werten als binärer Zustand bezeichnet wird; er soll die Menge von 1 bit Information repräsentieren. Nur auf diesen Aspekt bezieht Shannon den Begriff der Information! Es geht um ein Maß für den Aufwand an unterscheidbaren technischen binären Schaltzuständen, die zur Realisierung von Signalen notwendig ist, mittels deren Nachrichten kodiert werden. Die Nachrichten selbst, die möglicherweise (und im Normalfall) noch zusätzlich komplexe Bedeutungen kodieren, bleiben in dieser Betrachtung völlig außen vor.

5. Man muss also davon ausgehen, dass es zwischen der Menge der möglichen Nachrichten in einem Sender und der Übersetzung dieser Nachrichten in geeignete Symbolketten, die dann weiter für physikalische Ereignisse im Kanal kodiert werden, eine hinreichende Korrespondenzbeziehung gibt, die im Übersetzungsvorgang (in der Enkodierung) festgelegt ist. In seinem theoretischen Modell geht Shannon dann davon aus, dass jedem unterscheidbaren Symbol im Übermittlungsprozess ein unterscheidbarer Zustand in seinem Modell einer Quelle entspricht, und dass es von jedem solchen Zustand zum nächsten möglichen Zustand eine Übergangswahrscheinlichkeit gibt, die man im realen Prozess über Häufigkeiten messen kann. Das Modell einer solchen Quelle nennt er ein ’stochastisches‘ Modell, hier genauer ein ‚Markov Modell‘, das zudem noch ‚ergodisch‚ sein soll.

 

DIE POSITION VON DEACON

ALLTAGSERFAHRUNG

6. Terrence W.Deacon (Geb.1950) beginnt seine Überlegungen mit der Alltagserfahrung, dass die physikalischen Ereignisse (Schallwellen, Schriftzeichen, …) als solche keinerlei Hinweise auf irgendetwas anderes Zusätzliches enthalten. Erst in der Interpretation durch einen Empfänger werden diese physikalischen (= extrinsischen) Ereignisse zu möglichen Hinweisen, Zeichen für etwas Anderes (Anmerkung: Deacon benutzt hier ‚about‘); dieses Andere können irgendwelche intrinsische abstrakte Sachverhalte sein, die als ’nicht existente‘ Objekte dennoch eine Wirkung auf einen Kommunikationsteilnehmer entfalten können. Wie diese Abbildung von erkannten empirischen extrinsischen Kommunikationsereignisse auf nicht empirische mentale intrinsische Sachverhalte genau vonstatten geht, dazu fehlt nach Deacon noch eine angemessene wissenschaftliche Erklärung. Der ontologische Status dieser intrinsischen abstrakten mentalen Sachverhalte ist unklar.

COMPUTER PARADIGMA

7. An dieser Stelle bringt Deacon das Computer-Paradigma ins Spiel. Er charakterisiert es so, dass man in einem Computer, der ein physikalisches Objekt mit vielen möglichen physikalischen Prozessen darstellt, sehr wohl Beziehungen zwischen unterschiedlichen physikalischen Prozessen und Zuständen herstellen kann, die man abstrakt als Abbildungs- und Bedeutungsbeziehungen interpretieren könnte. Anders als bei einem natürlichen physikalischen Prozess kann man in einem Computer das Verhalten eines physikalischen Prozesses von anderen physikalischen Eigenschaften abhängig machen; diese anderen ‚willkürlich zugeordneten‘ physikalischen Eigenschaften funktionieren in einer abstrakten Sehweise als ‚Referenz‚, als mögliche ‚Bedeutung‘. Insofern wäre der Computer prinzipiell ein theoretisches Modell für Interpretations- und Bedeutungsprozesse. Dennoch meint Deacon hier auf die Bremse treten zu müssen, da für ihn das Computerparadigma nur ‚syntaktisch‚ definiert sei und die möglichen Bedeutungen nur ‚implizit‘ besitzt. Auch jene Ansätze, die die syntaktische Maschinerie des Computers über ‚Verkörperung‘ (Englisch: ‚embodiment‘) und ‚Fundierung in der Realwelt‘ (Englisch: ‚grounding‘) mit Bedeutung aufladen wollen, akzeptiert er nicht als ‚Lösung‘ des Geist-Körper (‚mind-body‘) Problems.

8. Es wird nicht ganz klar, warum Deacon dieses offensichtlich über Shannon hinausgehende Computer-Paradigma nicht akzeptiert; man spürt nur einen starken Vorbehalt, der von einem inneren Widerstand gespeist wird, dessen innere Logik sich dem Leser verschließt. Er spricht an späterer Stelle nochmals von einem ‚mechanistischem Determinismus‚, wobei aber nicht klar ist, ob das Computer-Paradigma wirklich ‚deterministisch‘ ist; viele unterstellen dies spontan. Deswegen muss es aber nicht zutreffen. Deacon legt sich jedenfalls darin fest, dass im klassischen Computer-Paradigma nur das syntaktische Konzept von Information berücksichtigt sei. (vgl. S.157) Wenn er dann emphatisch behauptet, dass berechenbare Prozesse in einem Computer nichts haben, was sie von normalen physikalischen Prozessen unterscheidet (vgl. S.157), widerspricht er sich selbst, da er zuvor bei der Charakterisierung des Computer-Paradigmas geschrieben hat, dass sich Prozesse in einem Computer von anderen bloß physikalischen Prozessen gerade dadurch unterscheiden, dass sie Abbildungsbeziehungen (‚maping relationship‘) realisieren können. (vgl. S.155) Was gilt nun? Als Leser hat man den Eindruck, dass Deacon einerseits zwar gewisse Besonderheiten bei Berechnungsprozessen im Computer sehr wohl erkennt, dass er aber offensichtlich ‚innerlich‘ ein Problem damit hat, diesen Erkenntnissen weiter zu folgen.

QUANTENMECHANIK

9. Deacon diskutiert auch den möglichen Beitrag der Quantenmechanik für die Frage der potentiellen abstrakten Objekte. Die Quantenmechanik beobachtet und misst Eigenschaften am Verhalten der Materieteilchen, die sowohl dem alltäglichen Kausalverständnis wie auch einem platten Determinismus zu widersprechen scheinen. Dennoch konstatiert Deacon, dass dieses scheinbar nichtdeterministische Verhalten die Frage nach potentiellen Beziehungen zu anderen Tatbeständen nicht beantwortet. Die beobachtbaren sonderbaren Korrelationen zwischen bestimmten Teilchen sind nicht vergleichbar mit den intentionalen Sachverhalten, bei denen ein etwas ‚für‘ (‚about‘) ein ‚anderes‘ ’steht‘. (vgl. S.157)

DEACON UND DER INFORMATIONSBEGRIFF

10. In der Begegnung mit der Schrift A mathematical theory of communication erkennt Deacon sehr wohl den spezifischen Beitrag von Shannon an, kritisiert aber, dass durch die Ausklammerung möglicher Bedeutungsanteile bei Shannon in der nachfolgenden Rezeption des Informationsbegriffs der Begriff der Information unzulässig vereinfacht und eingeengt wurde. Dies behinderte später eine angemessene Behandlung jener ausgelassenen Eigenschaften.

11. An dieser Stelle muss man fragen, ob die – in dieser Weise auch von vielen anderen – erhobene Kritik an einer Engführung des Begriffs Information am allerwenigsten Shannon selbst trifft, da dieser sehr klar und unmissverständlich schon auf der ersten Seite feststellt, dass er hier aufgrund des Interesses des Engineerings alle diese bedeutungsrelevanten Aspekte ausgeklammert hat. Man muss sich eher wundern, warum nicht andere nach Shannon, nachdem er solch eine exzellente Analyse einiger logischer Eigenschaften von Zeichenträgern in einem Kommunikationskanal vorgelegt hat, aufbauend auf diesen Analysen dann nicht weiterführende mathematische Modelle vorgelegt haben, die sich gerade um die von Shannon ausgeklammerte Bedeutungsproblematik kümmern. Ständig nur darüber zu klagen, dass Shannon nicht die ganze Breit des Problems behandelt hat, ist wenig hilfreich und wird seiner innovativen Leistung nicht gerecht.

12. Wenn Deacon behauptet, dass der Begriff ‚Information‘ ’nach Definition‘ die Beziehung von etwas zu etwas anderem bezeichnet, dann muss man hier viele Fragezeichen setzen. In der Zeit vor der sogenannten Informationstheorie (begründet u.a. durch Shannon und Norbert Wiener (1894-1964)) wurde der Begriff der ‚Information‘– wenn überhaupt – damals nicht so benutzt, wie wir ihn heute gerne benutzen. Im Vordergrund standen allgemeine philosophische Aspekt wie die ‚Formung der Materie‘, später die ‚Formung des Menschen‘ durch Erziehung, noch später die ‚Fixierung von Wissen‘. (vgl. Sandkühler 2010:1105f) Die explizite Frage nach der Bedeutung war eher gebunden an Reflexionen über Zeichen und ihren Bedeutungen, die erst in der Semiotik (vgl. Noeth 2000) und dann durch Wittgensteins Philosophische Untersuchungen (1953) explizit thematisch wurden. Allerdings stellte sich das Bedeutungsproblem in der Neuzeit mehr und mehr in einer Weise dar, die die Frage nach der Bedeutung als ’schwierig‘ oder gar ‚unbeantwortbar‘ erscheinen lässt. Und es ist sicher kein Zufall, dass auch im Gebiet der Logik, spätestens mit dem Aufkommen der modernen formalen Logik, alle möglichen Bedeutungsanteile genauso ‚entfernt‘ wurden wie in der modernen Informationstheorie. Dies wird gerne großzügig übersehen. Dass die moderne Logik weniger über das alltägliche Denken sagen kann als noch die antike Logik, ist bizarr.

Die vollständige Fassung findet sich HIER.

QUELLEN

  1. Terrence W.Deacon (2010), „What is missing from theories of information“, in: INFORMATION AND THE NATURE OF REALITY. From Physics to Metaphysics“, ed. By Paul Davies & Niels Henrik Gregersen, Cambridge (UK) et al: Cambridge University Press, pp.146 – 169
  2. Hans Jörg Sandkühler (2010), „Enzyklopädie Philosophie“, Bd.2,, 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, Meiner Verlag, Hamburg 2010, ISBN 978-3-7873-1999-2, (3 Bde., parallel dazu auch als CD erschienen)
  3. Schroedinger, E. „What is Life?“ zusammen mit „Mind and Matter“ und „Autobiographical Sketches“. Cambridge: Cambridge University Press, 1992 (‚What is Life‘ zuerst veröffentlicht 1944; ‚Mind an Matter‘ zuerst 1958)
  4. Claude E. Shannon, A mathematical theory of communication. Bell System Tech. J., 27:379-423, 623-656, July, Oct. 1948
  5. Claude E. Shannon; Warren Weaver (1949) „The mathematical theory of communication“. Urbana – Chicgo: University of Illinois Press.
  6. John Maynard Smith (2000), „The concept of information in biology“, in: Philosophy of Science 67 (2):177-194
  7. Noeth, W., Handbuch der Semiotik, 2. vollst. neu bearb. und erw. Aufl. mit 89 Abb. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler, xii + 668pp, 2000
  8. Monod, Jacques (1971). Chance and Necessity. New York: Alfred A. Knopf
  9. Introduction to Probability von Charles M. Grinstead und J. Laurie Snell, American Mathematical Society; Auflage: 2 Revised (15. Juli 1997)

EINLADUNG ZUR PHILOSOPHIEWERKSTATT v2.0 am So, 10.Mai 2015 – WIEWEIT KÖNNEN WIR NOCH ENTSCHEIDEN?

philosophieWerkstatt v2.0
philosophieWerkstatt v2.0

EINLADUNG ZUR NÄCHSTEN

philosophieWerkstatt v2.0

am

Sonntag, 10.Mai 2015

16:00 – 19:00h

in der
DENKBAR Frankfurt
Spohrstrasse 46a

Essen und Trinken wird angeboten von Michas Essen & Trinken. Parken ist im Umfeld schwierig; evtl. in der Rat-Beil-Strasse (entlang der Friedhofsmauer).

Anliegen der Philosophiewerkstatt ist es, ein philosophisches Gespräch zu ermöglichen, in dem die Fragen der TeilnehmerInnen versuchsweise zu Begriffsnetzen verknüpft werden, die in Beziehung gesetzt werden zum allgemeinen Denkraum der Philosophie, der Wissenschaften, der Kunst und Religion. Im Hintergrund stehen die Reflexionen aus dem Blog cognitiveagent.org, das Ringen um das neue Menschen- und Weltbild.

PROGRAMMVORSCHLAG

Nachdem wir in den vorausgehenden letzten drei Sitzungen die spannenden Themen SIND KINDER GUT? WIE KOMMT DAS BÖSE IN DIE WELT?, WEISHEIT ALS REVOLUTIONÄRER BEGRIFF FÜR EINE ZUKUNFTSFÄHIGE WELT sowie Wieweit können wir den ‘biologischen Geist’ durch einen ‘künstlichen Geist’ nachbilden? – Nachreflexion zur Philosophiewerkstatt vom 12.April 2015

diskutieren konnten, hat die Mehrheit für den 10.Mai folgende Problemstellung vorgeschlagen:

Kann sich ein einzelner innerhalb einer multikausalen Welt überhaupt noch sinnvoll entscheiden? Kann man überhaupt noch eine Wirkung erzielen? Ist nicht irgendwie alles egal?

Als Programmablauf wird vorgeschlagen:

1. Nach der Begrüßung und Kurzeinführung
2. eine gemeinsame Reflexion zum Thema mit begleitender Erstellung eines gemeinsamen Begriffsnetzwerkes.
3. ‚Blubberphase‘ – jeder kann mit jedem reden, um das zuvor gesagte ‚aktiv zu verdauen‘ ….
4. Schlussdiskussion mit Zusammenfassung der Ergebnisse
5. Mögliche Aufgabenstellung für das nächste Treffen (letztes Treffen vor der Sommerpause)
6. Offener Ausklang

HINTERGRUND

Schon wenn wir die alltäglichen Prozesse betrachten, in denen wir uns bewegen, können wir eine Vielzahl von Faktoren finden, die alle zusammenwirken müssen, damit diese Prozesse stattfinden. Auf diese gestalterisch einzuwirken erfordert vielfachen Einsatz, der nicht leicht oder über weite Strecken nur teilweise erbracht werden kann. Dehnen wir den Horizont aus, treffen wir auf immer mehr Prozesse, die unser Leben bestimmen, auf die wir wenig oder gar keinen Einfluss zu haben scheinen. Endet hier Freiheit? Endet hier Rationalität? Ende hier der Sinn des Individuums? Ist Demokratie nur eine Scheinveranstaltung? Worin kann hier Sinn liegen? Dies sind einige der vielen Fragen, die sich hier stellen können.

PHILOSOPHIEWERKSTATT ÜBERBLICK

Einen Überblick über alle Beiträge zur Philosophiewerkstatt nach Themen findet sich HIER

WAS IST MENSCHENWÜRDE? – Überlegungen im Umfeld des Buches von Paul Tiedemann – Teil 8

Paul Tiedemann, „Was ist Menschenwürde? Eine Einführung“, 2. aktualisierte Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2014

KONTEXT

Nach einem kurzen Aufriss zur historischen Genese des juristischen Begriffs ‚Menschenwürde‘ im Kontext der UN-Deklaration und der Übernahme in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Kap.1) stellt Paul Tiedemann im 2. Kapitel wichtige Interpretationsrichtungen in der deutschen Rechtsauslegung vor. Es folgte dann im Kapitel 3 ein Ausflug in die Philosophiegeschichte. Dieser endet für Tiedemann in einer ‚Verwirrung‘. Er versuchte daraufhin eine weitere Klärung über die ‚Wortbedeutung‘ im Kapitel 4. Dieser ‚Umweg‘ über die Wortbedeutung wird in seiner Methodik nicht selbst problematisiert, liefert aber für den Fortgang der Untersuchung im Buch einen neuen Anknüpfungspunkt durch das Konzept des Werturteils. Es folgt dann der Versuch, einen absoluten Referenzpunkt für Werturteile zu identifizieren, mittels dem sich dann vielleicht das Werturteil als grundlegend erweisen lässt. Diesen absoluten Referenzpunkt findet P.Tiedemann in der ‘Identitätstheorie der Menschenwürde’: diese geht aus von einer grundsätzlichen Selbstbestimmungskompetenz des Menschen und enthält als ein Moment auch den Aufbau einer individuellen Identität (‘Ich’). Dann folgt eine Anzahl möglicher Einwände gruppiert nach vier Themen: Anderer, Determiniert, Böse, nichtpersonale Menschen.

Es folgen nun weitere Präzisierungen.

KAPITEL 7 (SS.119-148)

Tiedemann (2014), Stichworte Kap.7
Tiedemann (2014), Stichworte Kap.7

1. Der Begriff der ‚Selbstbestimmung‘ mit dem Moment der ‚Willensfreiheit‘ klingt für die meisten zu Beginn sehr abstrakt. Geht man aber den verschiedenen Konkretisierungen nach, die diesem Begriff im Laufe der Geschichte zugeordnet wurden – zumindest in aufgeklärten, säkularen Gesellschaften –, dann kann man sehr schnell ein ‚Gefühl‘ dafür entwickeln, was mit ‚Menschenwürde‘ als ‚Selbstbestimmung‘ an Werten verbunden ist.

2. Das Schaubild zeigt hin auf die verschiedenen Achtungsbereiche, die Paul Tiedemann mit dem Begriff ‚Menschenwürde‘ in Verbindung sieht. Sehr anschaulich führt er die verschiedenen Punkte aus, so dass man nachvollziehen kann, wie verschiedene Verhaltensweisen/ Lebensweisen tief in das Selbst- und Lebensgefühl eines Menschen eingreifen können, bis dahin, dass er in der Wurzel getroffen, verletzt oder gar nachhaltig zerstört wird. Es sind weniger die äußerlichen Dinge als solche, sondern ihre Wirkung auf das ‚Innere‘ eines Menschen, sein Fühlen, seine Fähigkeit zu vertrauen, sein Denken usw.

3. Es werden jetzt hier nicht die vielen Details wiederholt; dies sei der eigenen Lektüre jeden Lesers vorbehalten. Nur ein paar wenige Anmerkungen.

KRITISCHER DISKURS

4. Wenn zuvor einige Male kritisch angemerkt wurde, dass die Methodik der Klärung der ‚Bedeutung‘ unbefriedigend war, so erwecken diese konkret-anschaulichen Beispiele des Kap.7 aus den unterschiedlichen Bereichen den Eindruck, als ob solch ein ‚bottom-up‘ Ansatz möglicherweise — auch ganz im Sinne der Sprachspielidee vom späten Wittgenstein – der ‚realistischere‘ Ansatz sein könnte, um im Lichte eines aufgeklärten säkularen Menschenbildes jene Handlungsansätze sichtbar zu machen, die auf die inneren Prozesse eines Menschen schwächend, behindernd, verletzend, zerstörerisch einwirken.

5. All die angestrengten Versuche, eine gewisse ‚Absolutheit‘ zu retten, deren Umschreibung und Definition letztlich dann doch an der unüberwindlichen Endlichkeit unsres Wissens scheitern muss, würde möglicherweise überzeugender erscheinen, wenn es nicht um eine metaphysische Absolutheit ginge sondern um eine empirisch motivierte abstrakte Struktur, die sich im Wechselspiel von hypostasierter Struktur und empirischem Verhalt jene ‚Achtung‘ erwerben würde, die der ‚Realität‘ als unhintergehbarer Vorgabe vorbehalten ist.

6. Die Zahl und Qualität jener Situationen, die wir heute in ihrer Bedeutung für eine positiv-konstruktive Entwicklung eines Menschen empirisch begründet einschätzen können, ist mittlerweile so groß und inhaltlich so reichhaltig, dass wir nicht nur die klassischen Begriffe von Selbstbestimmung weiter verwenden könnten, sondern eben ein großes Netzwerk von Eigenschafte unter einem dynamischen Prozessmodell versammeln könnten, das einen ‚Quasistandard‘ für Menschenwürde darstellen würde. Der Mangel an metaphysischer Absolutheit würde durch empirische Gültigkeit und wachsender Differenziertheit möglicherweise mehr als aufgewogen.

7. Ein letztes Urteil hierzu kann aber erst in der Abschlussreflexion gewonnen werden.

Eine Fortsetzung findet sich HIER.

Einen Überblick über alle Blogeinträge von cagent nach Titeln findet sich HIER: cagent.

Einen Überblick über alle Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER: Blog gesamt.

WAS IST MENSCHENWÜRDE? – Überlegungen im Umfeld des Buches von Paul Tiedemann – Teil 7

Paul Tiedemann, „Was ist Menschenwürde? Eine Einführung“, 2. aktualisierte Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2014

KONTEXT

Nach einem kurzen Aufriss zur historischen Genese des juristischen Begriffs ‚Menschenwürde‘ im Kontext der UN-Deklaration und der Übernahme in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Kap.1) stellt Paul Tiedemann im 2. Kapitel wichtige Interpretationsrichtungen in der deutschen Rechtsauslegung vor. Es folgte dann im Kapitel 3 ein Ausflug in die Philosophiegeschichte. Dieser endet für Tiedemann in einer ‚Verwirrung‘. Er versuchte daraufhin eine weitere Klärung über die ‚Wortbedeutung‘ im Kapitel 4. Dieser ‚Umweg‘ über die Wortbedeutung wird in seiner Methodik nicht selbst problematisiert, liefert aber für den Fortgang der Untersuchung im Buch einen neuen Anknüpfungspunkt durch das Konzept des Werturteils. Es folgt jetzt der Versuch, einen absoluten Referenzpunkt für Werturteile zu identifizieren, mittels dem sich dann vielleicht das Werturteil als grundlegend erweisen lässt. Diesen absoluten Referenzpunkt findet P.Tiedemann in der ‘Identitätstheorie der Menschenwürde’: diese geht aus von einer grundsätzlichen Selbstbestimmungskompetenz des Menschen und enthät als ein Moment auch den Aufbau einer individuellen Identität (‘Ich’).

Es folgen nun mögliche Einwände gegen diese Deutungshypothese.

KAPITEL 6 (SS.103-118)

Tiedemann (2014), Kap.6, Stichworte
Tiedemann (2014), Kap.6, Stichworte

1. Paul Tiedemann versucht auf mögliche wichtige Einwände gegen seinen Deutungsansatz einzugehen. Er greift dazu vier wichtige Punkte auf: ‚Bezugspersonen‘, ‚Determinismus‘, das ‚Böse‘ und ‚Nichtpersonale Menschen‘.

(NICHT)ANERKENNUNG VON BEZUGSPESONEN (103f)

2. Die Anerkennung von Menschenwürde in jedem Menschen setzt voraus, dass ich Menschen nicht nur nach seiner ‚Nützlichkeit‘, seiner ‚Brauchbarkeit‘ bewerte, also nach einem möglichen ‚Preis‘, sondern nach seiner grundsätzlichen Fähigkeit der Selbstbestimmung und persönlichen Identitätsausbildung. In dieser Hinsicht haben alle Menschen die gleiche Würde und bilden darin für jeden den Kontext meiner ‚Menschwerdung‘.

DETERMINISMUS – KEINE WILLENSFREIHEIT (105-107)

3. Hier greift Paul Tiedemann neuere Befunde von Neurowissenschaftler auf, nach denen die Messwerte zu ‚bewussten Entscheidungen‘ zeitlich später sind als die Messwerte, die mit den ‚aus den Entscheidungen folgenden Ereignissen korrelieren‘ sollen. Statt diese neurowissenschaftlichen Behauptungen zu hinterfragen (da gäbe es genug Fragepunkte) lenkt Tiedemann den Blick – dabei dem Philosophen Bieri folgend – auf den ganzheitlichen Charakter unseres Entscheidens. Jedes Entscheiden ist ein komplexer Prozess, bei dem viele wechselseitige Abhängigkeiten bestehen und es nicht darum gehen kann, keinerlei Voraussetzungen zu haben, sondern im Feld der unterschiedlichen Voraussetzungen jene zu selektieren, die in diesem Kontext eine Präferenz besitzen.

4. Selbst wenn verfügbares Wissen unvollständig und falsch sein kann, schließt Tiedemann nicht aus, dass wir faktisch Entscheidungen treffen können, da wir grundsätzlich in unserem Entscheidungsraum selektieren und entscheiden können. Zugleich gibt es ‚Schuldgefühle‘ und ‚Schamgefühle‘ und ‚Dankbarkeit‘.

5. Ganz wichtig: diese Phänomene haben nach Tiedemann die höchste Priorität unabhängig davon, ob und wie man sie philosophisch erklären kann. (vgl. S.107)

DAS BÖSE (108-111)

6. Wenn die Willensfreiheit in jedem Menschen einen absoluten Wert darstellt, warum erkennen dann trotzdem Menschen andere Menschen in ihrer Würde nicht an? Zwar setzt Tiedemann voraus, dass Menschen grundsätzlich über ein Wertgefühl verfügen, das sich in Gestalt von ‚Konsonanz-‚ und ‚Dissonanzgefühlen‘ zeigt, aber er konstatiert, dass es dennoch Menschen gibt, die aus vielerlei Faktoren (Dummheit, andere ’niedere‘ Interesse, …) dem absoluten Wert dennoch keinen Vorzug, keine Präferenz geben.

7. Erfolgt solch ein Nichtbefolgen unter ‚bewusster Unterdrückung‘ höherer Werte, dann wir dies entsprechend ‚empfunden‘ (‚Scham‘, ‚Dissonanz‘, ‚Schlechtes Gewissen‘ …) und in diesem Fall ist dieses Handeln ‚böse‘.

8. Liegen solche Gefühle einer ‚Dissonanz mit dem absoluten Wert‘ vor, dann können sich daraus weitere Gefühle wie ‚Scham‘, ‚Wut‘ usw. ergeben.

NICHTPERSONALE MENSCHEN (111-118)

9. Schließlich stellt sich auch die grundlegende Frage, unter welchen Bedingungen man einem (biologischen?) Wesen Willensfreiheit und damit die Voraussetzung für Person sein, Menschenwürde unterstellen muss?

10. Anhand von Grenzfällen (schlafender Mensch, bewusstloser Mensch, Embryo …) führt Tiedemann den Begriff der ‚aktiven Potentialität‘ ein. Damit ist gemeint, dass man bei einem Menschen aufgrund seiner biologischen Verfasstheit davon ausgehen kann, dass er sich – nach der Vereinigung von Sperma und Ei – unter ’normalen Umständen‘ zu einem Wesen entwickeln wird, das das Kriterium der Willensfreiheit und Selbstbestimmung erfüllt. D.h. es ist dieses Wissen um den kommenden Zustand (‚aktives Potential‘), wodurch wir befähigt sind, sowohl die ‚Menschenwürde‘ im anderen zu sehen als auch in uns aktiv zu leben.

11. Dass es Menschen gibt, die aufgrund von Krankheit oder einer belastendenden Biographie in ihrer Fähigkeit eingeschränkt sind, ihre Selbstbestimmung samt Anerkennung der anderen ‚in vollem Umfang‘ zu leben, darf nach Tiedemann kein Grund dafür sein, diesen Menschen die Menschenwürde abzusprechen. Solange diese teilweise ihre Selbstbestimmung noch wahrnehmen können oder potentiell ihre volle Selbstbestimmung wiedergewinnen könnten, gehören sie in den Bereich der Anerkennung von Menschenwürde.

12. Grenzfälle liegen vor, wenn alle verfügbaren Kriterien keinen Ansatzpunkt für eine aktuelle oder potentiale Selbstbestimmung mehr erkennen lassen (z.B. ‚klinisch tote Menschen‘). In diesem Fall verlieren sie den Anspruch auf Menschenwürde.

KRITISCHE DISKUSSION

13. An dieser Stelle eröffnen sich viele Fragen. Zunächst mal ein sehr genereller Eindruck: wenn man die vorausgehenden, z.T. sehr grundsätzlichen Überlegungen erinnert, in denen um die ‚Absolutheit‘ des Anspruchs gerungen wurde, dann wirken die Klärungen zu den vier Einwänden allesamt eher ‚pragmatisch‘, ad hoc, und nicht sehr ‚philosophisch‘.

14. Allen vier Einwänden gemeinsam ist die Dimension der ‚realen Welt‘ als Ort, von dem wir wissen, dass wir hier allenthalben nur über begrenzte Einsichten verfügen, über endlichen Ressourcen, nur über fehlbares Wissen, und wo fehlbare Entscheidungen getroffen werden.

15. Was nützt es uns da überhaupt, die Existenz eines ‚absoluten Wertes‘ zu postulieren, wenn er weder erkennbar noch lebbar ist?

16. Natürlich wissen wir im nächsten Atemzug, dass wir ohne solch ein Postulat in einer scheinbaren ‚Beliebigkeit‘ versinken, in ein ‚anything goes‘, alles geht.

17. Und von daher versucht Paul Tiedemann gegen mögliche Einwände die Menschenwürde als ‚absoluten Bezugspunkt‘ zu bewahren.

Zu: EMPIRIE DER AKTIVEN POTENTIALITÄT

18. Zunächst einmal versucht Paul Tiedemann den Gegenstandsbereich mit dem Begriff der ‚aktiven Potentialität‘ zu bestimmen. Damit nimmt er aber in Kauf, dass er sich hier nicht auf reine philosophische Prinzipien gründen kann, sondern dass er auf ‚Erfahrung‘ rekurrieren muss, auf empirische Erfahrung. Denn ohne diese gibt es kein Wissen um ‚potentielle Entwicklung von biologischen Systemen‘.

19. Damit wird klar, dass die Anerkennung des Anderen als einer mit Menschenwürde ausgestatteten Person in direkte Abhängigkeit von einem komplexen empirisch-theoretischen Wissensnetz gerät, ohne das Entscheidungen gar nicht möglich sind (und in der Vergangenheit auch unterschiedlich ausfielen, je nach Wissensstand).

Zu: ANERKENNUNG DES ANDEREN

20. Neben der zuvor festgestellten stark empirisch beeinflussten Einschätzung der ‚absoluten‘ Fähigkeiten eines Menschen gibt es aber auch auf Seiten des jeweiligen Akteurs, der jemanden anerkennen soll, das Phänomen eines begrenzten Wissens, eingebettet in soziale-kulturelle Muster, biographische Belastungen, bedürfnis- und trieb-beeinflussten Bewusstseinszuständen, die eine ‚optimale‘ an ‚absoluten Werten orientierte Entscheidung kaum erlauben. Die absolute Idee einer absoluten Menschenwürde zu postulieren bei gleichzeitiger Anerkennung der empirisch-praktischen Unmöglichkeit, diese immer und überall einlösen zu können, wirft Fragen auf.

Zu: DAS BÖSE

21. Die Annahme, dass Menschen kognitive ‚Konsonanz‘ oder ‚Dissonanz‘ verspüren, dazu weitere orientierende Empfindungen wie ‚Scham‘, ‚Wut‘, Schuld‘ usw. basiert letztlich auf empirischen Annahmen. Die Vielzahl der berichteten Gefühle, ihr wesentlich ’subjektive‘ Charakter, der klare Aussagen nicht zulässt, war bislang immer Quelle vieler Hypothesen und Widersprüchlichkeiten; eine klare empirisch-wissenschaftliche Forschungslage kann ich nicht erkennen.

22. Aus dieser Unvollkommenheit er Erkenntnislage folgt nicht notwendigerweise, dass diese Phänomene unwichtig sind. Letztlich hängt an dieser Art von Phänomenen viel von dem was man ‚Spiritualität‘ hängt, von ‚innerer religiöser Orientierung‘.

23. Allerdings ist schwer zu sehen, wie man bei einer solch unüberschaubaren Phänomenlage daraus die These ableiten kann, dass Menschen, die ’nicht‘ die Absolutheit des Wertes der Menschenwürde im anderen hinreichend erkennen, deswegen unausweichlich etwas ‚Böses‘ tun. Eher würde man daraus die Notwendigkeit ableiten können, sich umfassend für eine ’notwendige Aufklärung‘ einsetzen zu müssen, die die sozialen Voraussetzungen für eine entsprechende Erkenntnis liefern könnte. Dies wiederum würde entsprechende Strukturen von Öffentlichkeit und Bildung implizieren.

Zu: DETERMINIERTHEIT

24. Die Fokussierung der Argumentation auf die – wenngleich eingeschränkte – Fähigkeit zur Entscheidung in einem Feld von phänomenalen Wechselbeziehungen setzt die Argumente der Neurowissenschaftler (sofern sie überhaupt so zutreffen) nicht wirklich außer Kraft. Deren Argumentation stellt ja die Kausalität von Wollen zum Tun grundsätzlich in Frage. Damit würde das Konzept der Willensfreiheit und der Selbstbestimmung grundsätzlich aufgehoben (zumindest im bisherigen Sinne).

25. Aus diesen Gründen scheint mir eine wissenschaftstheoretische Analyse der neurobiologischen Argumentation nicht nur geraten, sondern geradezu unumgänglich.

26. An anderer Stelle in diesem Blog wurden die Methodenprobleme der Neurowissenschaften ja schon mehrfach diskutiert (siehe alle Beiträge zu den Kategorieen, die mit ‚Neuro…‘ beginnen). Die Korrelation von Messwerten aus dem Bereich Gehirn (M_nn) und solchen aus dem Bereich Bewusstsein (M_ph) ist in sich mehrfach problematisch:

27. Das ‚genaue‘ Messen im Bereich Gehirn ist bis heute nur in sehr eng umgrenzten Bereich von wenigen Neuronen möglich. Da wir wissen, dass komplexen kognitiven Prozessen höchst komplexe Prozesse mit vielen Millionen verteilten Neuronen korrespondieren können – wo bis heute nicht in allen Details klar ist, was mit wem wie warum wann interagiert –, nützt die ‚genaue‘ Messung von einzelnen Neuronen nicht all zu viel. Solche Einzelereignisse mit komplexen kognitiven Prozessen zu korrelieren erscheint fragwürdig.

28. Das ‚genaue‘ Messen im Bereich subjektiver Phänomene war noch niemals möglich und ist bis heute nicht möglich; was wir haben sind vage symbolisch vermittelte Beschreibungen von Phänomenen, von denen niemand weiß, was wirklich damit gemeint ist, nicht einmal derjenige, der die Beschreibung liefert. Von ‚Vergleichbarkeit‘ der ‚Bedeutungen‘ kann keine Rede sein.

29. Will man nun eine Korrelation herstellen zwischen vagen subjektiven Sachverhalten mit gemessenen neuronalen Erregungsmustern, so sind mehr Fragen offen als beantwortet. Abgesehen davon, dass man nicht weiß, was denn da überhaupt gemessen wurde bietet die zeitliche Lokalisierung weitere Probleme. Mag man bei neuronalen Prozessen manche Vorgänge im Millisekundenbereich messen können, im Falle komplexer subjektiver Empfindungen, die sprachlich oder instrumentell kodiert werden, wird man wohl kaum zu zeitlich genauen Lokalisierungen kommen können.

30. Demnach müsste man das berichteten neurowissenschaftlichen Experiment erst einmal einer kritischen wissenschaftstheoretischen Überprüfung unterziehen, bevor an seine Argumente übernimmt. Begriffe wie ‚Wille‘, ‚Willensentscheidung‘, ‚Willensfreiheit‘ sind in der wissenschaftlichen Psychologie bis heute nicht wirklich befriedigend definierbar.

VORLÄUFIGES FAZIT

31. Man sieht, die Position von der ‚Identitätstheorie der Menschenwürde‘ wirft genügend Fragen auf, deren Beantwortung nicht ganz so einfach ist.

Eine Fortsetzung findet sich HIER.

Einen Überblick über alle Blogeinträge von cagent nach Titeln findet sich HIER: cagent.

Einen Überblick über alle Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER: Blog gesamt.

EINLADUNG ZUR NÄCHSTEN PHILOSOPHIEWERKSTATT AM So 8.März 2015, 16:00h

philosophieWerkstatt v2.0
philosophieWerkstatt v2.0

EINLADUNG ZUR NÄCHSTEN

philosophieWerkstatt v2.0 am

Sonntag, 8.März 2015

16:00 – 19:00h
in der
DENKBAR Frankfurt
Spohrstrasse 46a

Essen und Trinken wird angeboten von Michas Essen & Trinken. Parken ist im Umfeld schwierig; evtl. in der Rat-Beil-Strasse (entlang der Friedhofsmauer).

Anliegen der Philosophiewerkstatt ist es, ein philosophisches Gespräch zu ermöglichen, in dem die Fragen der TeilnehmerInnen versuchsweise zu Begriffsnetzen verknüpft werden, die in Beziehung gesetzt werden zum allgemeinen Denkraum der Philosophie, der Wissenschaften, der Kunst und Religion. Im Hintergrund stehen die Reflexionen aus dem Blog cognitiveagent.org, das Ringen um das neue Menschen- und Weltbild.

PROGRAMMVORSCHLAG

Die TeilnehmerInnen des der letzten Philosophiewerkstatt vom 8.Februar hatten sich auf folgenden Programmvorschlag geeinigt:

1. Eingangsbeispiel eines Experimentes zur ‘Neuen Musik’ mit kurzem Gespräch (für den 08.März 2015 ist ein Experiment zum Verhältnis von Klang und bewegtem Bild geplant, von cagentArtist; dieser Beitrag hatte aufgrund technischer Probleme am 8.2. nicht stattfinden können).
2. Kurze Einführung zum Thema „Weisheit”, vorbereitet von eine Teilnehmer der Philosophiewerkstatt, der Arzt ist und sich seit vielen Jahrzehnten auch mit philosophischen Fragen beschäftigt.
3. Gesprächsrunde zum Thema
4. ‚Blubberphase‘ – jeder kann mit jedem reden, um das zuvor gesagte ‚aktiv zu verdauen‘ …
4. Zusammenfassung der Ergebnisse mit Schlussbemerkungen
5. Mögliche Aufgabenstellung für das nächste Treffen
6. Offener Ausklang

ANREGUNGEN ZUM NÄCHSTEN TREFFEN

  • Zum Begriff ‚Weisheit‘ gibt es viele Texte und Vorstellungen. Eine Grundströmung scheint zu sein, dass es etwas ‚Positives‘ ist, etwas, was uns ‚hilft‘, etwas ‚Gutes‘ …
  • Eine genauere Umschreibung, was man unter ‚Weisheit‘ verstehen soll/ kann, wäre also hilfreich. Was, wenn Weisheit vielleicht doch nichts ‚Positives‘ wäre, gar ein Hindernis zum Guten?
  • Interessant ist auch die Frage, wie Weisheit entsteht? Fällt sie vom Himmel? Ist sie angeboren? Muss man sie mühsam lernen? Gibt es spezielle Begabungen für Weisheit? Was muss ein Mensch tun, um ‚weise‘ zu werden?
  • Woran erkennt man einen ‚weisen‘ Menschen? Kennt jemand in seiner Umgebung einen Menschen, von dem er/ sie sagen würde, er/ sie ist ‚weise‘? Gibt es viele oder wenige Menschen dieser Art? Treten sie irgendwo und irgendwann ‚gehäuft‘ auf? Sind es nur Fabelwesen aus Legenden, Märchen, Mythos …?
  • Was würde man sich von einem weisen Menschen erwarten? Möchte man selber ‚weise‘ sein? Falls ja: was würde man sich persönlich davon versprechen? Falls nein: wovor hätte man Angst? Warum möchte man nicht weise sein?
  • …. ??? …

Hier die MEMO zum Treffen.

BERICHT VOM LETZTEN TREFFEN

Einen Bericht von der letzten philosophieWerkstatt v.2.0 vom 8.Februar 2015 findet sich HIER.

PHILOSOPHIEWERKSTATT ÜBERBLICK

Einen Überblick über alle Beiträge zur Philosophiewerkstatt nach Themen findet sich HIER

Das Böse in der Soziologie

Als Beitrag für den blog von cagent und den philosophischen workshop hier ein paar Gedanken zum Thema „Das Böse“ in der Soziologie:

Das Böse ist das Abweichende

Das Böse setzt immer schon ein Wertesystem (das Richtige) voraus, nach dem es sich von seinem Gegenpart „dem Guten“ abgrenzen lässt. Ein von Geburt an böses Verhalten (genetisch bedingter schlechter Mensch) ist zu verneinen (abgesehen von psychischen Defekten), vielmehr ist von gelerntem Verhalten (Frustration – Belohnung, Abgrenzung – Anerkennung) auszugehen. Insofern ist alles böse, was nicht den anerkannten – herrschenden – gesellschaftlichen Normen entspricht (du „böses“ Kind). Das heißt nicht, dass es sich nur um Sozialisierungsdefizite handelt, es geht auch um bewußt abweichendes Verhalten, das der Mensch aus freien Stücken wählt, um sich selber in seiner Individualität zu bestärken oder als zu einer Gruppe gehörig auszuweisen, in der das Verhalten akzeptiert wird.
Aufgrund der Relativität seiner Bedeutung findet sich keine Definition des Bösen; was in einem Wertesystem böse ist, kann in einem anderen gut sein. Ob es gesellschaftsübergreifende, allgemein anerkannte Werte gibt (Menschenrechte) wäre zu diskutieren.

Das Böse ist der Preis der Freiheit

Es gibt aber Versuche der Bestimmung durch Ersatzbegriffe.
In theologischer Sicht ist die „Sünde“ zu nennen – in psychologischer die „Aggression„. Das Böse ist aber nicht einfach der Teufel oder die Destruktion, es ist da als Preis der Freiheit, den der Mensch zu bezahlen hat. Er kann wählen und daher auch das Falsche wählen. Insofern gehört das Böse zum Menschlichen.

Das Böse trennt die Menschen in Täter und Opfer

In einem harmloseren Sinne ist das Böse so zu verstehen, dass ein Mensch nicht das Richtige tut, weil er zuwenig weiß oder aus Unvermögen; als verfestigter Habitus wäre das als asoziales Verhalten zu bezeichnen. Tritt bewußt regelverletzendes oder gar gewaltsames Handeln (ohne Rücksicht auf Regeln und Respektierung der menschlichen Grundrechte, Würde und Unversehrtheit) hinzu, so äußert es sich In einem bedrohlichen Sinne, wenn der Mensch aus Fanatismus (er übt das Köpfen von Ungläubigen an Tieren) oder Lust am Bösen handelt (er stiehlt nicht die Birnen vom Baum wegen der Früchte, sondern weil das Verbotene reizt). Dies Böse ist nicht nur der lustvolle Regelverstoß, das gegen das Gemeinwohl gerichtete Zerstörerische, sondern geht über das abstrakt-Destruktive hinaus bis zum Sadistischen, Nekrophilen; es äußert sich im Quälen und Töten von Mitmenschen.

Das Böse ist das Ende eines friedlichen Zusammenlebens und gleichberechtigter Verständigung unter Menschen

Mit einem solchen, seine Mitmenschen nicht nur diskriminierenden oder verletzenden Verhalten, sondern einem sie bewußt vernichten wollenden Gewaltanwenden überschreitet der böse Mensch eine Grenze. Er verkörpert dann das Böse als Person und wendet sich als solche gegen seine Mitmenschen; er wird zum Feind. Das Böse in dieser Ausprägung lässt auch keinen Dialog mehr zu; die Ebene von Worten wurde verlassen; die Ebene der Gewalttaten hat sie ersetzt. Der solcherart Böse will weder verstanden noch akzeptiert werden; er will mit dem Bösen als Mittel seine Interessen durchsetzen und/oder seine Werte (das Falsche) als neues Wertesystem etablieren – ohne wenn und aber. Die Menschen gegen die er sich durchsetzt sind nicht seinesgleichen; er unterwirft oder versklavt sie, er nimmt ihnen ihre Freiheit und Würde.

Die Bösen sind keine Menschen mehr

Hier reden wir nun nicht mehr über das Böse, sondern über den oder die Bösen.  Das Böse ist personifiziert. Es ist nicht mehr kalkulierbar, findet außerhalb unseres Regelsystems und jenseits unserer Wertvorstellungen statt. Als Erklärungsversuch sehen wir in solchem Verhalten eine Entartung, eine Perversion und halten die Bösen evtl. auch für krank. Gerade weil wir bereit sind, „gute“ Aggressivität zur Erhaltung unserer vitalen Interessen (bis hin zur Kriegsführung) als äußerstes Mittel menschlichen Verhaltens zu akzeptieren, ist hier eine Grenze zu erkennen, wenn der Böse dem Menschen seine Freiheit nimmt und Gewalt ausübt, ohne eine wie auch geartete Zustimmung der Gesellschaft zu haben. Inwieweit ein derart böse handelnder Mensch noch als menschlich zu bezeichnen ist (oder dann eben als Bestie oder Monster), wäre zu diskutieren.
Holger

GEHÖRT JESUS VON NAZARETH NICHT DEN ATHEISTEN?

…. Wenn man den ‚Glauben‘ gegen den ‚Unglauben‘ retten will, muss man sich manchmal mit der ‚Wahrheit‘ beschäftigen …

SCHREIBEN ODER NICHT SCHREIBEN

1. Auch in diesem Fall stehe ich vor der Entscheidung, entweder nichts zu schreiben, weil ich nicht die Zeit habe, alle die hier einschlägigen Punkte ausgiebigst nochmals zu recherchieren, hin und her abzuwägen, und mit den notwendigen Quellenangaben zu versehen, oder aber den Gedanken zu retten auf die Gefahr hin, dass manches zu schwarz-weiß, zu schroff, zu ungenau wird. Doch gibt es ja andere kundige Menschen, die an der einen oder anderen Stelle mit ihrem Wissen aushelfen können – so sie denn wollen –, und darüber hinaus, sehr grundsätzlich, unser Wissen, selbst das noch umfassender recherchierte, bleibt immer ein gewisser Torso, unvollständig, vorläufig, fragmentarisch. Unser Heil liegt nicht im aktuell absolut verfertigten Traktat (den es unter aktuellen Bedingungen niemals geben kann), sondern im andauernden Prozess eines Ideenaustausches, wo sich die verschiedenen Perspektiven und Fragmente im Hin und Her zu einem je größeren Ganzen ‚ergänzen‘. Auch dieses wird lange nicht ‚perfekt‘ sein, aber es wird mehr darstellen, ‚enthüllen‘ (offenbaren) als jede einzelne, individuelle Perspektive alleine. Das ‚Wahre‘ ist das ‚Ganze‘ und die Totengräber der Wahrheit das sind die ‚Ideologen‘, die selbst deklarierten ‚Alleswisser‘, die ‚eingebildeten‘ Lehrer der Nation, oder wie immer sie sich inszenieren.

DIE FRAGE

2. Nach diesen Vorbemerkungen zurück zum aktuellen ‚gedanklichen Erregungspunkt‘: gehört Jesus von Nazareth nicht eigentlich den Atheisten und gerade nicht den verschiedenen Kirchen, die sich auf ihn berufen?

EINGELULLT?

3. Noch vor wenigen Monaten hätte ich die Frage so niemals gestellt. Aber, seit einigen Wochen macht mir eine Tatsache mehr zu schaffen als früher, eine Tatsache, die ich eigentlich ’schon immer‘, also so lange ich denken kann, ‚kenne‘, die mich aber noch nie besonders beschäftigt hatte, nämlich das Leiden und Sterben des Menschen Jesus von Nazareth. Gewiss, jeder der in einem Land mit christlichen Traditionen aufwächst (in meinem Fall dominante katholische und evangelische Bekenntnisse) hört schon sehr früh vom Leiden und Sterben in der Schule, in diversen Gottesdiensten, auch mal im Film, aber dieses Leiden und Sterben war immer stark abgefedert durch die historische Entfernung, durch die kirchlich-liturgischen Verpackungen, durch den ‚Zuckerglanz‘ der zuvor, danach, und drum herum angestimmten ‚Göttlichkeit‘, die diesem Leiden und Sterben letztlich den Stachel nimmt. Ja, er stirbt, aber nicht wirklich; er erstand ja dann doch auf von den Toten und offenbarte sich als der ‚Sohn Gottes’…

REALE ENDLICHKEIT

4. Im Laufe des eigenen Lebens lernt man immer wieder – und tatsächlich immer mehr – aus eigener Hand Krankheiten kennen, Leiden, und Sterben. Je älter man wird umso öfter erlebt man wie Menschen, die man kannte, die man schätzte, die man liebte, sterben; mal schnell, mal langwierig, aber sie sterben. Man erlebt sich selbst in dem, was man seinen Körper nennt, vielfältig abhängig von seinem Körper, im Guten (was er alles ermöglicht) wie im Schlechten (in konkreten Grenzen, Endlichkeiten, Schmerzen, Unbeholfenheiten, sozial auffällig, ausgegrenzt, …). Man erfährt die täglichen Abläufe permanent ambivalent als Ermöglichung von Leben und zugleich als anstrengend, verschleißend, reibend, nervend usw. Und in der Tat hat dies alles eine gewisse Unausweichlichkeit, die sich nicht dadurch verändert, dass man etwas glaubt oder nicht glaubt. Dass wir mit unserer Körperlichkeit in dieser uns bekannten körperlichen Welt ein zeitlich definiertes Ende finden, das ist eine Grundeigenschaft der natürlichen biologischen Prozesse. Eine gewisse zeitliche Verlängerung um ein paar Jahre, oder Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte (in der Zukunft) tut nichts wesentliches zur Sache. Die realen physikalischen Prozesse als solche sind auf Endlichkeit, auf Energieausgleich ausgelegt, und sobald zentrale Prozesse oder die Energiebeschaffung nicht mehr möglich sind, dann bricht das ‚Wunder des körperlich fundierten Geistes‘ in sich zusammen. Dies ist unabhängig davon was man glaubt und wie man glaubt.

WIE GEHT MAN DAMIT UM?

5. Eigentlich kann dies jeder Mensch wissen. Aber scheinbar ist die ‚Angst‘ vor diesem unausweichlichen endlichen Ereignis bei manchen so stark, dass Sie bereit sind, alles zu glauben, was von dieser Wahrheit ablenkt, und damit ein mehr oder weniger elaboriertes ‚Gebäude der Unwahrheiten‘ zu stricken, als den Dingen ins Auge zu sehen.

DER STERBENDE JESUS

6. Es waren genau solche Gedanken die mir das lang bekannte Leiden und Sterben des Jesus von Nazareth ’neu‘ ins Bewusstsein treten ließen. Für ihn – wie für alle anderen Menschen auch — war das finale Sterben am Kreuz ein reales Geschehen, ein reales Leiden, und was immer das Wort ‚Gott‘ (zu übersetzen in die vielen hundert Sprachen der vielen verschiedenen Kulturen) irgendwo und irgendwie bedeuten mag, für ihn, der da am Kreuz real endete, war das da am Kreuz hängen, Schmerzen empfinden, und sich fragen, was das Ganze eigentlich soll, worin der Sinn liegt, ob sein zurückliegenden Taten nun sinnlos sind, weil er hier sinnlos am Kreuz hängt, sinnlich konkret real. Und ob die Worte ‚Mein Gott, warum hasst Du mich verlassen‘, die ihm in den überlieferten Texten zugeschrieben werden, tatsächlich gesprochen wurden, weiß man nicht. Die offizielle Überlieferungstradition hat die Worte sofort ‚entschärft‘ und sie als die Anfänge eines Psalms gedeutet, der letztlich einen tiefen Gottesglauben artikulieren soll … Wie auch immer, wer als Mensch real an einem Kreuz hängt, oder sich in einer von Menschen inszenierten Foltersituation befindet, oder einfach nur elendig krank ist und das Leben aus seinem Körper ‚entrinnen‘ sieht, oder einfach nur an sich, an seinem Alltag leidet, real leidet, Schmerzen empfindet, verzehrende Gefühle von Verlust und Trauer …. solch ein Mensch, jeder, ist in diesen Momenten der Sollbruchstelle des real-physikalischen Scheiterns ausgeliefert und kein ‚Gott‘ kann und wird in diesem Moment daran etwas ändern.

AUTHENTISCHER KERN

7. Im Leiden und Sterben des Menschen Jesus von Nazareth besitzt die christliche Tradition einen authentischen Kern, der sie mit allen realen lebenden, leidenden und sterbenden Menschen dieser unserer Erde verbindet. Glauben im christlichen Sinne heißt bezogen darauf auf keinen Fall ‚Erhaben zu sein‘ über das physikalisch-Konkrete, heißt auf keinen Fall das physikalisch-Konkrete außer Kraft zu setzen, installiert keine Wahrheit ‚gegen‘ die Konkretheit dieser Welt. Jesus von Nazareth war vollständig eingehüllt in den materiellen Prozesse, vollständig darin sich vorfindet, vollständig davon abhängig, bis hin zur Zerstörung seines Körpers und seines körperlichen Lebens, ganz qualvoll, beschleunigt herbeigeführt durch Menschenhände, durch Menschen, die glaubten, sie hätten die bessere Wahrheit; die glaubten, sie hätten mehr Rechte als er; die glaubten, sie ständen über dem Leben. Diese Menschen – waren sie schlechter wie wir, die wir doch alle glauben, wir wüssten es jetzt besser, wir hätten das Recht auf unserer Seite? Im Falle Jesus von Nazareth waren es jüdische Volksgenossen die sowohl Leidende, Unterstützende, Handlanger, Täter und Opfer zugleich waren; es gibt keine klare Trennung wo Wahrheit beginnt und die Unwahrheit aufhört. Anhänger Jesu sollen ihn nach der Überlieferung verleugnet haben, andere sollen ihn sogar verraten haben … Die imaginären Trennlinien verlaufen überall, mitten hindurch durch jeden Menschen.

IN ALLEN KULTUREN

8. Ist es tröstlich, dass wir zu allen Zeiten und in allen Kulturen Menschen finden, die ähnlich wie ein Jesus von Nazareth für ihre Überzeugungen ‚freiwillig‘ Leiden und sterben auf sich genommen haben (und vermutlich immer wieder auf sich nehmen werden!)? Ist es nicht verwunderlich, dass es immer wieder Menschen gab und gibt, die trotz eines endlich-gebrechlichen Körpers, die trotz materieller Einschränkungen, trotz Mühen, Anstrengungen, sozialen Ausgrenzungen, Ängsten, Zweifel … an Gedanken, Überzeugungen festhalten, ein Verhalten zeigen, das von der Umgebung, der Mehrheit, vom Trend … abweicht? Dass sie dies nicht tun weil sie sich auf ein viel schillerndes Wort ‚Gott‘ berufen (das bislang jeder so interpretiert, wie es ihm gerade gefällt), sondern weil sie als konkrete körperliche Menschen in sich und in ihrer Verwobenheit mit der konkreten endlichen Welt etwas ‚verspüren‘, etwas ‚fühlen‘, etwas zu ‚erkennen meinen‘, was dem alltäglichen Geschehen eine ‚Bedeutung‘, eine ‚Wertigkeit‘ verleiht, die ihr ‚Herz‘ und ihren ‚Verstand‘ so bewegt, dass sie bereit sind, dafür Teile ihrer körperlichen Existenz ‚aufs Spiel‘ zu setzen, um diesen ‚gefühlt erkannten Wertigkeiten‘ Ausdruck und möglicherweise Existenz zu verleihen.

9. Hierher gehören sehr wohl auch all die vielen Wissenschaftler der Vergangenheit, die unter höchstem Einsatz ihres Lebens versucht haben, der uns umgebenden Wirklichkeit (‚Natur‘) Antworten zu entlocken, die etwas davon verraten, wie die Welt ‚tatsächlich funktioniert‘ und die dafür nicht selten soziale Ausgrenzung, Verachtung, Spott oder gar Verfolgung erleiden mussten. Dass die Wissenschaft heute weitgehend unter politische und kommerzielle Kontrolle geraten ist, in der sie weitgehend ‚instrumentalisiert‘ wird zum Machterhalt oder für parteilich-kommerzielle Nutzung, nützt gelegentlich einzelnen Akteuren, nimmt aber der Wissenschaft als Ganzer einen Großteil ihrer Erkenntniswucht. Wissenschaftler, die sich bekriegen müssen, weil ihre Geldgeber das verlangen, neutralisieren sich gegenseitig.

FÜHLENDES ERKENNEN

10. Doch auch hier gilt, es gibt diesen überall glimmenden Funken eines Wertempfindens quer zu allem, über allem hinweg, entgegen allen Widerständen, und dieses ‚fühlende Erkennen‘ ist nicht da, weil wir Menschen es ‚wollen‘ oder weil es Machthaber befehlen, sondern weil die ‚Geschichte des Lebens‘ auf dieser Erde eine Spur gezeichnet hat, die diese grundlegende Fähigkeit als ‚innere Logik allen Lebens‘ manifestiert. Dieses ‚fühlende Erkennen‘ ist nicht etwas was als ‚Nebenprodukt‘ aus der Materialität der Atome und Moleküle ‚folgt‘, sondern es geht dieser Materialität notwendigerweise voraus! Atome und Moleküle können nur deshalb charakteristische ‚Eigenschaften‘ zeigen, weil diese Eigenschaft ihnen voraus liegen, als implizite Eigenschaft jener Quantenwelt, aus denen sich Atome und komplexere Strukturen ‚ergeben‘. Natürlich kann man dann die Frage weiter stellen, warum und wieso die Quantenwelt solche impliziten Eigenschaften besitzt, doch geraten wir damit an die ‚vorläufigen‘ Grenzen unserer Fragekunst; aber fehlende Antworten sind nicht so schlimm wie keine Fragen haben. Die Fragen haben wir, wir können sie stellen. … und das ist das Wunder.

SCHIZOPHRENIE VON WISSENSCHAFT UND KULTUR

11. Es hat eine gewisse Tragik, dass wir in einer schizophrenen Welt leben, in der eine radikale Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften (und Religionen) gezogen werden, in der die sogenannten Geisteswissenschaften (inklusive Kulturbetrieb) sich an einem Menschenbild orientieren, das punktuell-geschichtslos ist, wo das vereinzelte Individuum in seinem ‚Hingeworfensein‘ sich in seinem Gefühlschaos hin- und herwälzt, wo das leidende – oder wahlweise das lustvolle — Individuum in allen Varianten durchgehexelt wird, aber schon die politische-soziologischen Vernetzungen kommen kaum noch vor und die evolutionäre Dimension samt physikalischem Universum sind aus dem Denken geradezu verbannt. Beliebiges Wortgestammel wird als Manifestation von ‚Geist‘ gefeiert während die wahren geistigen Großtaten z.B.der Mathematik, der Ingenieurkunst, oder der theoretischen Wissenschaften in gesellschaftliche Abstellkammern verbannt sind. Das Bildungsbürgertum dröhnt sich mit einer Bild- und Klangwelten zu, die außer historischen Zufälligkeiten und modischen Trends nichts vorzuweisen haben. Ist Musik nur das, was ein Mensch hören und ein anderer spielen kann? Ist Musik nur das, was bestimmte Neuronen zum ‚Summen‘ bringt? Ist Musik nur das, was man auf einem bestimmten Instrument spielen kann, weil Menschen zu dieser Zeit nicht in der Lage waren, ein anderes Instrument zu bauen? Ist Musik nur das, was sich ein bestimmter Mensch ausgedacht hat, weil er zu dem Zeitpunkt nichts anderes denken konnte? Ist Musik nur das, was man mit einer bestimmten Notenschrift aufschreiben kann? Ist Musik nur das, was ein Orchester spielen kann, weil man sich daran gewöhnt hat, dass Orchester nur so sein dürfen, wie man sie einmal dekretiert hat? ist Musik nur das, was man aus Radiokanälen hört, weil die Sender nur das spielen, was die großen Produzenten liefern und die produzieren nur das, was ihnen kommerziell Erfolg bringt, weil …. ? (Jeden Tag werden auf bestimmte Musikplattformen tausende neue Musikstücke hochgeladen, aber Monatelang hört man in Radiosendern nur ein paar hundert Musikstücke, und die haben eine hohe Wiederholungsrate)…..

12. Solange unsere Gesellschaft geistig mit sich selbst entzweit ist, sich im Natur-Wissenschaft-Kultur-Geist Grabenkampf eingebunkert hat, solange besteht kaum eine Chance, dass wir die zeitübergreifenden Botschaften eines universalen Lebens gemeinsam erfassen, verdauen, weiter entwickeln können. Wahrheitsunfähige Religionen und Kulturkonzepte sind anfällig für beliebige Ideologien, sind wie Blätter im Wind, sind willige Instrumente in den Händen von Geld, Macht und Ideologie.

13. Trotz allem gibt es immer wieder wunderbare Menschen, wunderbare Gedanken, wunderbare Bücher, wunderbare Musik, wunderbares Schauspiel, …. das ist das Paradox, das auf das ‚je Größere‘ verweist.

PS: Jetzt habe ich viele Aspekte ausgelassen, z.B. auch die Frage, wer denn nun die ‚Atheisten‘ sind … oft sind es nicht die, die sich so nennen oder so genannt werden. Aber ich habe einige kennen gelernt, die sich ‚Theisten‘ nennen, die für mich die radikaleren Atheisten waren ….

Einen Übrblick über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.