GRAMMATIK FÜR EINE NACHHALTIGE ENTWICKLUNG. Skizze

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 20.Februar 2023 – 20.Februar 2023, 15:38h
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (cagent@cognitiveagent.org)

(For an English Version see HERE)

Kontext

Der folgende Text ist ein Zusammenfluss von Ideen, die mich seit vielen Monaten umtreiben. Teile davon finden sich als Texte in allen drei Blogs (Bürgerwissenschaft 2.0 für Nachhaltige Entwicklung, Integrated Engineering and the Human Factor, Philosophie jetzt (= dieser Blog)). Die Wahl des Wortes ‚Grammatik‘ [1] für den folgenden Text ist eher ungewöhnlich, scheint mir aber den Charakter der Überlegungen gut wieder zu spiegeln.

Nachhaltigkeit für Populationen

Das Konzept einer nachhaltigen Entwicklung wird hier betrachtet im Kontext von ‚biologischen Populationen‘. Solche Populationen sind dynamische Gebilde mit vielen ‚komplexen Eigenschaften‘. Für die Analyse der ‚Nachhaltigkeit‘ solcher Populationen gibt es einen Aspekt, der ‚fundamental‘ für ein angemessenes Verständnis erscheint. Es handelt sich um den Aspekt, ob und wie die Mitglieder einer Population — die Akteure — untereinander verbunden sind oder nicht.

Eine ‚unverbundene‘ Menge

Wenn ich ‚Akteure‘ einer ‚Population‘ habe, die in keinerlei direkter ‚Interaktion‘ miteinander stehen, dann ist auch das ‚Handeln‘ dieser Akteure voneinander isoliert. In einem weiten Gebiet kommen sie sich einander vermutlich ’nicht in die Quere‘; auf engstem Raum könnten sie sich leicht behindern oder gar wechselseitig bekämpfen, bis hin zur gegenseitigen Zerstörung.

Festzuhalten ist, dass auch solche unverbundene Akteure über ein minimales ‚Wissen‘ über sich und die Umgebung verfügen müssen, auch über minimale ‚Emotionen‘, um überhaupt leben zu können.

Ohne direkte Interaktion wird eine unverbundene Population als Population relativ schnell dennoch aussterben.

Eine ‚verbundene‘ Menge

Eine ‚verbundene Menge‘ liegt vor, wenn die Akteure einer Population über hinreichend viele direkte Interaktion verfügen, durch die sie ihr Wissen über sich und die Welt sowie ihre Emotionen soweit ‚abstimmen‘ könnten, dass sie zu einem ‚abgestimmten Handeln‘ fähig sind. Dadurch werden die einzelnen, individuellen Handlungen bezogen auf ihre mögliche Wirkung zu einer ‚gemeinsamen (= sozialen) Handlung‘ die mehr bewirken kann, als jeder einzeln es vermocht hätte.

Die beteiligten ‚Emotionen‘ müssen eher so sein, dass sie weniger ‚abgrenzen/ ausschließen‘, als vielmehr eher ‚einbeziehen/ anerkennen‘.

Das ‚Wissen‘ muss eher so sein, dass es nicht ’statisch‘ und nicht ‚unrealistisch‘ ist, sondern vielmehr ‚offen‘, ‚lernend‘ und ‚realistisch‘.

Das ‚Überleben‘ einer verbundenen Population ist grundsätzlich möglich, wenn die wichtigsten ‚Faktoren‘ eines Überlebens hinreichend erfüllt sind.

Übergänge von – zu

Der ‚Übergang‘ von einem ‚unverbundenen‘ zu einem ‚verbundenen‘ Zustand einer Population ist nicht zwangsläufig. Das primäre Motiv ist möglicherweise einfach der ‚Wille zum Überleben‘ (eine Emotion), und die wachsende ‚Einsicht‘ (= Wissen), dass dies nur bei ‚minimaler Kooperation‘ möglich ist. Ein einzelner kann allerdings Zeit seines Lebens im Zustand des ‚Einzelgängers‘ leben, weil er seinen individuellen Tod nicht als hinreichenden Grund erleben muss, sich mit anderen zu verbünden. Eine Population als solche kann aber nur überleben, wenn hinreichend viele einzelne überleben, die minimal miteinander interagieren. Die Geschichte des Lebens auf dem Planet Erde legt die Arbeitshypothese nahe, dass es in biologischen Populationen (einschließlich der menschlichen Population) seit 3.5 Milliarden Jahren immer hinreichend viele Mitglieder einer Population gegeben hat, die den ’selbst zerstörerischen Tendenzen‘ einzelner ein ‚aufbauende Tendenz‘ entgegen setzen konnten.

Das Entstehen und der Erhalt einer ‚verbundenen Population‘ benötigt zum Gelingen ein Minimum an ‚geeignetem Wissen‘ und ‚geeigneten Emotionen‘.

Es ist für alle biologischen Populationen eine bleibende Herausforderung, die eigenen Emotionen so zu gestalten, dass sie tendenziell eher nicht ausgrenzen, verachten, sondern tendenziell eher einbeziehen und anerkennen. Desgleichen muss das Wissen geeignet sein, ein realistisches Bild von sich, den anderen und der Umwelt zu erlangen, damit das jeweilige Verhalten ’sachlich angemessen‘ ist und tendenziell eher zum ‚Erfolg‘ führen kann.

Wie die Geschichte der menschlichen Population zeigt, wird sowohl die ‚Formung der Emotionen‘ wie die ‚Formung eines leistungsfähigen Wissens‘ in der Regel weitgehend unterschätzt und schlecht bis gar nicht organisiert. Es wird der notwendige ‚Aufwand‘ gescheut, man unterschätzt die notwendige ‚Dauer‘ solcher Prozesse. Innerhalb des Wissens gibt es zusätzlich das generelle Problem, dass die ‚kurzen Zeitspannen‘ innerhalb eines individuellen Lebens ein Hindernis sind, solche Prozesse dort zu erkennen und zu gestalten, wo größere Zeitspannen dies erfordern (das betrifft fast alle ‚wichtigen‘ Prozesse).

Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass ‚verbundene Zustände‘ von Populationen jederzeit auch wieder in sich zusammen fallen können, wenn jene Verhaltensweisen, die sie ermöglichen, abgeschwächt werden oder ganz verschwinden. Zusammenhänge im Bereich biologischer Populationen sind weitgehend ’nicht determiniert‘! Sie beruhen auf komplexen Prozessen in und zwischen den einzelnen Akteuren. Ganze Gesellschaften können ‚über Nacht kippen‘, wenn ein Ereignis das ‚Vertrauen in den Zusammenhang‘ zerstört. Ohne Vertrauen ist keinerlei Zusammenhang möglich. Das Entstehen und das Vergehen von Vertrauen sollte zum Grundanliegen jeder Gesellschaft im Zustand des Verbundenseins gehören.

Politische Spielregeln

‚Politik‘ umfasst die Gesamtheit der Regelungen, die die Mitglieder einer menschlichen Population vereinbaren, um gemeinsam verbindliche Entscheidungsprozesse zu organisieren.[2] In einer groben Skala könnte man zwei Extremwerte platzieren: (i) Einerseits eine Population mit einem ‚demokratischen System‘ [3] und eine Population mit einem maximal un-demokratischen System.[4]

Wie schon generell für ‚verbundene Systeme‘ angemerkt: das Gelingen von demokratischen Systeme ist in keiner Weise determiniert. Ermöglichung und Erhalt erfordern den totalen Einsatz aller Beteiligten ‚aus eigener Überzeugung‘.

Grundrealität ‚Körperlichkeit‘

Biologische Populationen sind grundlegend geprägt von einer ‚Körperlichkeit‘, die durch und durch von ‚Gesetzmäßigkeiten‘ der bekannten materiellen Strukturen bestimmt sind. In ihren ‚komplexen Ausgestaltungen‘ manifestieren biologische Systeme zwar auch ‚komplexe Eigenschaften‘, die sich nicht einfach aus ihren ‚Einzelteilen‘ ableiten lassen, aber die jeweiligen identifizierbaren ‚materiellen Bestandteile‘ ihres ‚Körpers‘ samt vieler ‚funktionalen Zusammenhänge‘ unterliegen grundlegend einer Vielzahl von ‚Gesetzen‘ die ‚vorgegeben‘ sind. Diese ‚abzuändern‘ ist — wenn überhaupt — nur unter bestimmten begrenzten Bedingungen möglich.

Alle biologischen Akteure bestehen aus ‚biologischen Zellen‘, die für alle gleich sind. Hierin sind die menschlichen Akteure Teil der Gesamtentwicklung des (biologischen) Lebens auf dem Planet Erde. Die Gesamtheit des (biologischen) Lebens nennt man auch ‚Biom‘ und den gesamten Lebensraum eines Bioms auch ‚Biosphäre‘. [5] Die Population des homo sapiens ist nur ein verschwindend kleiner Teil des Bioms, beansprucht aber mit der homo-sapiens typischen Lebensweise immer größere Teile der Biosphäre für sich zu Lasten aller anderen Lebensformen.

Das (biologische) Leben findet seit ca. 3.5 Milliarden Jahren auf dem Planet Erde statt.[6] Die Erde, als Teil des Sonnensystems [7], hatte eine sehr bewegte Geschichte und zeigt bis heute eine starke Dynamik, die sich unmittelbar auf die Lebensbedingungen des biologischen Lebens auswirkten kann und auswirkt (Kontinentalplatten-Verschiebung, Erdbeben, Vulkanausbrüche, Magnetfeld-Verschiebung, Meeresströmungen, Klima, …).

Biologische Systeme benötigen generell eine kontinuierliche Aufnahme von materiellen Stoffen (mit Energiepotentialen), um ihre eigenen Stoffwechselprozesse zu ermöglichen. Sie scheiden auch Stoffe aus. Menschliche Populationen brauchen bestimmte Mengen an ‚Nahrungsmitteln‘, ‚Wasser‘, ‚Behausungen‘, ‚Lagerstätten‘, ‚Transportmittel‘, ‚Energie‘, … ‚Rohstoffe‘, … ‚Produktionsprozesse‘, ‚Austauschprozesse‘ … Mit dem Anwachsen der schieren Größe einer Population multiplizieren sich die materiellen Bedarfsmengen (und auch Abfälle) in Größenordnungen, die das Funktionieren der Biosphäre zerstören können.

Prognosefähiges Wissen

Wenn eine zusammenhängende Population mögliche zukünftige Zustände nicht dem puren Zufall überlassen will, dann braucht sie ein ‚Wissen‘, das geeignet ist, aus dem Wissen über die Gegenwart und über die Vergangenheit ‚Voraussagen‘ (‚Prognosen‘) für eine mögliche Zukunft (oder sogar vielen ‚Varianten von Zukunft‘) zu konstruieren.

In der bisherigen Geschichte des homo sapiens gibt es nur eine Wissensform, mit der nachweisbar demonstriert werden konnte, dass sie für belastbare nachhaltige Prognosen geeignet ist: die Wissensform der empirischen Wissenschaften. [8] Diese Wissensform ist bislang nicht perfekt, aber eine bessere Alternative ist nicht bekannt. Im Kern umfasst ‚empirisches Wissen‘ die folgenden Elemente: (i) Die Beschreibung einer Ausgangslage, die als ‚empirisch zutreffend‘ angenommen wird; (ii) Eine Menge von ‚Beschreibungen von Veränderungsprozessen‘, die man im Laufe der Zeit formulieren konnte, und von denen man weiß, dass es ‚hoch wahrscheinlich‘ ist, dass die beschriebenen Veränderungen unter bekannten Bedingungen immer wieder stattfinden; (iii) ein ‚Folgerungskonzept‘, das beschreibt, wie man auf die Beschreibung einer ‚gegebene aktuelle Situation‘ die bekannten Beschreibungen von Veränderungsprozessen so anwenden kann, dass man die Beschreibung der aktuellen Situation so abändern kann, dass eine ‚veränderte Beschreibung‘ entsteht, die eine neue Situation beschreibt, die als ‚hoch wahrscheinliche Fortsetzung‘ der aktuellen Situation in der Zukunft gelten kann.[9]

Die eben skizzierte ‚Grundidee‘ einer empirischen Theorie mit Prognosefähigkeit kann man konkret auf vielerlei Weise realisieren. Dies zu untersuchen und zu beschreiben ist Aufgabe der ‚Wissenschaftstheorie‘ bzw. ‚Wissenschaftsphilosophie‘. Allerdings, die Vagheiten, die sich im Umgang mit dem Begriff einer ‚empirischen Theorie‘ finden, finden sich auch im Verständnis dessen, was denn mit ‚Wissenschaftstheorie‘ gemeint sein soll.[10]

In dem vorliegenden Text wird die Auffassung vertreten, dass der ‚Grundbegriff‘ einer empirischen Theorie sich im normalen Alltagshandeln unter Benutzung der Alltagssprache vollständig realisieren lässt. Dieses Konzept einer ‚Allgemeinen Empirischen Theorie‘ kann man nach Bedarf durch beliebige spezielle Sprachen, Methoden und Teiltheorien erweitern. Damit ließe sich das bislang ungelöste Problem der vielen verschiedenen empirischen Einzeldisziplinen nahezu von selbst lösen.[11]

Nachhaltiges Wissen

Im Normalfall kann eine empirische Theorie im günstigsten Fall Prognosen generieren, denen eine gewisse empirisch begründete Wahrscheinlichkeit zugesprochen werden kann. In ‚komplexen Situationen‘ kann solch eine Prognose viele ‚Varianten‘ umfassen: A, B, …, Z. Welche dieser Varianten nun im Lichte eines ‚anzunehmenden Kriteriums‘ ‚besser‘ oder schlechter‘ ist, kann eine empirische Theorie selbst nicht bestimmen. Hier sind die ‚Produzenten‘ und die ‚Benutzer‘ der Theorie gefragt: Verfügen diese über irgendwelche ‚Präferenzen warum z.B. die Variante ‚B‘ der Variante ‚C‘ vorzuziehen sei‘?: „Fahrrad, U-Bahn, Auto oder Flugzeug?“ , „Gentechnik oder nicht?“, „Pestizide oder nicht?“, „Atomenergie oder nicht?“, „Unkontrollierter Fischfang oder nicht?“ …

Die zur Anwendung kommenden ‚Bewertungskriterien‘ verlangen selbst eigentlich einerseits nach ‚explizitem Wissen‘ zur Abschätzung eines möglichen ‚Nutzens‘, andererseits ist der Begriff des ‚Nutzens‘ verankert im Fühlen und Wollen von menschlichen Akteuren: Warum genau will ich etwas? Warum ‚fühlt sich etwas gut an‘? …

Die aktuellen Diskussionen weltweit zeigen, dass das Arsenal der ‚Bewertungskriterien‘ und ihre Umsetzung alles andere als ein klares Bild bieten.

ANMERKUNGEN

[1] Für die typische Verwendung des Begriffs ‚Grammatik‘ siehe die Deutsche Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Grammatik. In dem Text hier im Blog übertrage ich dieses Konzept von der ‚Sprache‘ auf jenen ‚komplexen Prozess‘, in dem die Population der Lebensform ‚homo sapiens‘ versucht, auf dem Planet Erde einen ‚Gesamtzustand‘ zu erreichen, der für möglichst viel ‚Leben‘ (mit den Menschen als Teilpopulation) eine ‚maximal gute Zukunft‘ ermöglicht. Eine ‚Grammatik der Nachhaltigkeit‘ setzt eine bestimmte Menge von Grundgegebenheiten, Faktoren voraus, die in einem dynamischen Prozess miteinander ‚wechselwirken‘, um in einer ‚Folge von Zuständen‘ möglichst viele Zustände realisiert, die für möglichst viele ein möglichst gutes Leben ermöglichen.

[2] Für die typische Verwendungsweise des Begriffs Politik siehe die Deutsche Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Politik. Diese Bedeutung wird in dem vorliegenden Text hier auch vorausgesetzt.

[3] Ein sehr aufschlussreiches Projekt zur empirischen Forschung zum Zustand und zur Entwicklung von ‚empirischen Systemen’Demokratien‘ auf dem Planet Erde ist das V-dem Institut: https://www.v-dem.net/

[4] Natürlich könnte man auch ganz andere Grundbegriffe für eine Skala wählen. Mit erscheint aber das Konzept eines ‚demokratischen Systems‘ (bei allen Schwächen) im Lichte der Anforderungen für eine nachhaltige Entwicklung als das ‚geeignetste‘ System zu sein; zugleich stellt es aber von allen System die höchsten Anforderungen an alle Beteiligten. Dass es überhaupt zur Ausbildung von ‚Demokratie ähnlichen‘ Systemen im Laufe der Geschichte kam, grenzt eigentlich fast an ein Wunder. Die weitere Entwicklung solcher Demokratie ähnlicher Systeme schwankt beständig zwischen Erhalt und Zerfall. Positiv könnte man sagen, dass das beständige Ringen um den Erhalt eine Art ‚Training‘ ist, um eine nachhaltige Entwicklung zu ermöglichen.

[5] Für die typischen Verwendungsweisen der Begriffe ‚Biom‘ und ‚Biosphäre‘ siehe die entsprechenden Einträge in der Deutschen Wikipedia: Biom (https://de.wikipedia.org/wiki/Biom) und Biosphäre (https://de.wikipedia.org/wiki/Biosph%C3%A4re).

[6] Einige Grunddaten zur Erde: https://de.wikipedia.org/wiki/Erde

[7] Einige Grunddaten zum Sonnensystem: https://de.wikipedia.org/wiki/Sonnensystem

[8] Der Begriff der ‚empirischen Wissenschaft‘ wird in der Deutschen Wikipedia sehr unterbestimmt dargestellt: https://de.wikipedia.org/wiki/Empirie#Empirische_Wissenschaften. Die englische Wikipedia ist hier auch nicht besser: https://en.wikipedia.org/wiki/Science. Der Begriff ‚empirische Wissenschaft‘ kommt erst gar nicht vor, nur der vage Begriffe ‚Science‘ (‚Wissenschaft‘).

[9] Wenn man eine Uhr mit Stunden- und Minutenzeiger besitzt, die aktuell 11:04h anzeigt, und man aus alltäglicher Erfahrung weiß, dass der Minutenzeiger jede Minute um einen Strich vorrückt, dann kann man mit einer ziemlich hohen Wahrscheinlichkeit folgern, dass der Minutenzeiger ’sehr bald‘ um einen Strich weiter wandert. Die Ausgangsbeschreibung ‚Die Uhr zeigt 11.04h an‘ würde dann zu der der neuen Beschreibung ‚Die Uhr zeigt 11:05h an‘ verändert werden können. Vor dem ’11:05h Ereignis‘ hätte die Aussage ‚Die Uhr zeigt 11:05h an‘ den Status einer ‚Prognose‘.

[10] In dem Übersichtsartikel in der Deutschen Wikipedia zum Begriff ‚Wissenschaftstheorie‘ (https://de.wikipedia.org/wiki/Wissenschaftstheorie) findet man eine große Zahl von Varianten zum Begriff, aber wichtige Teilgebiete, erste Recht nicht die Grundstruktur empirischer Theorien, findet man in diesem Artikel nicht. Etwas klarer erscheint hier die Englische Wikipedia, wenngleich auch sie neben dem großen Panorama keine alles zusammenfassende Arbeitshypothese für das bietet, was denn ‚empirische Wissenschaft‘ ist: https://en.wikipedia.org/wiki/Philosophy_of_science

[11] ‚Aus sich heraus‘ kann eine Einzeldisziplin (Physik, Chemie, Biologie, Psychologie, …) nicht ‚das Ganze‘ begrifflich fassen; muss sie ja auch nicht. Die verschiedenen Versuche, irgendeine Einzeldisziplin auf eine andere (besonders beliebt ist hier die Physik) zu ‚reduzieren‘, sind bislang alle gescheitert. Ohne eine geeignete ‚Meta-Theorie‘ kann keine Einzeldisziplin sich aus ihrer Spezialisierung befreien. Das Konzept einer ‚Allgemeinen Empirischen Theorie‘ versteht sich als solch eine Meta-Theorie. Eine solche Meta-Theorie passt in das Konzept eines modernen philosophischen Denkens.

DER AUTOR

Einen Überblick über alle Beiträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.

chatGPT – Wie besoffen muss man sein?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 13.Februar 2023 – 17.April 2023
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (cagent@cognitiveagent.org)

Kontext

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Seit der Freigabe des chatbots ‚chatGPT‘ für die größere Öffentlichkeit geht eine Art ‚Erdbeben‘ durch die Medien, weltweit, in vielen Bereichen, vom Privatpersonen über Institutionen, Firmen, Behörden …. jeder sucht das ‚chatGPT Erlebnis‘. Diese Reaktionen sind erstaunlich, und erschreckend zugleich.

Anmerkung: In meinem Englischen Blog hatte ich nach einigen Experimenten mit chatGPT eine erste Reflexion über den möglichen Nutzen von chatGPT geschrieben. Mir hatte es für ein erstes Verständnis geholfen; dieses hat sich dann bis zu dem Punkt weiterentwickelt, der im vorliegenden Text zum Ausdruck kommt.[6]

Form

Die folgenden Zeilen bilden nur eine kurze Notiz, da es sich kaum lohnt, ein ‚Oberflächenphänomen‘ so intensiv zu diskutieren, wo doch die ‚Tiefenstrukturen‘ erklärt werden sollten. Irgendwie scheinen die ‚Strukturen hinter chatGPT‘ aber kaum jemanden zu interessieren (Gemeint sind nicht die Details des Quellcodes in den Algortihmen).

chatGPT als Objekt

Der chatbot mit Namen ‚chatGPT‘ ist ein Stück Software, ein Algorithmus, der (i) von Menschen erfunden und programmiert wurde. Wenn (ii) Menschen ihm Fragen stellen, dann (iii) sucht er in der ihm bekannten Datenbank von Dokumenten, die wiederum Menschen erstellt haben, (iv) nach Textmustern, die nach bestimmten formalen Kriterien (z.T. von den Programmierern vorgegeben) einen Bezug zur Frage aufweisen. Diese ‚Textfunde‘ werden (v) ebenfalls nach bestimmten formalen Kriterien (z.T. von den Programmierern vorgegeben) in einen neuen Text ‚angeordnet‘, der (vi) jenen Textmustern nahe kommen soll, die ein menschlicher Leser ‚gewohnt‘ ist, als ’sinnvoll‘ zu akzeptieren.

Textoberfläche – Textbedeutung – Wahrheitsfähig

Ein normaler Mensch kann — mindestens ‚intuitiv‘ — unterscheiden zwischen den (i) ‚Zeichenketten‘, die als ‚Ausdrücke einer Sprache‘ benutzt werden, und jenen (ii) ‚Wissenselementen‘ (im Kopf des Hörer-Sprechers), die als solche ‚unabhängig‘ sind von den Sprachelementen, aber die (iii) von Sprechern-Hörer einer Sprache ‚frei assoziiert‘ werden können, so dass die korrelierten ‚Wissenselemente zu dem werden, was man gewöhnlich die ‚Bedeutung‘ der Sprachelemente nennt.[1] Von diesen Wissenselementen (iv) ‚weiß‘ jeder Sprachteilnehmer schon ‚vorsprachlich‘, als lernendes Kind [2], dass einige dieser Wissenselemente unter bestimmten Umständen mit Umständen der Alltagswelt ‚korrelierbar‘ sind. Und der normale Sprachbenutzer verfügt auch ‚intuitiv‘ (automatisch, unbewusst) über die Fähigkeit, solche Korrelation — im Lichte des verfügbaren Wissens — einzuschätzen als (v) ‚möglich‘ oder (vi) als eher ‚unwahrscheinlich‘ bzw. (vi) als ‚bloße Fantasterei‘.[3]

Die grundlegende Fähigkeit eines Menschen, eine ‚Korrelation‘ von Bedeutungen mit (intersubjektiven) Umweltgegebenheiten feststellen zu können, nennen — zumindest einige — Philosophen ‚Wahrheitsfähigkeit‘ und im Vollzug der Wahrheitsfähigkeit spricht man dann auch von ‚zutreffenenden‘ sprachlichen Äußerungen oder von ‚wahren (empirischen) Aussagen‘.[5]

Unterscheidungen wie ‚zutreffend‘ (‚wahr‘), ‚möglicherweise zutreffend‘, ‚eher nicht zutreffend‘ oder ‚auf keinen Fall zutreffend‘ deuten an, dass der Wirklichkeitsbezug menschlicher Wissenselemente sehr vielfältig und ‚dynamisch‘ ist. Etwas, das gerade noch zutreffend war, kann im nächsten Moment nicht mehr zutreffend sein. Etwas, das lange als ‚bloße Fantasterei‘ abgetan wurde, kann dann doch plötzlich als ‚möglich‘ erscheinen oder ‚trifft plötzlich zu‘. Sich in diesem ‚dynamisch korrelierten Bedeutungsraum‘ so zu bewegen, dass eine gewisse ‚innere und äußere Konsistenz‘ gewahrt bleibt, stellt eine komplexe Herausforderung dar, die von Philosophie und den Wissenschaften bislang eher nicht ganz verstanden, geschweige denn auch nur annähernd ‚erklärt‘ worden ist.

Fakt ist: wir Menschen können dies bis zu einem gewissen Grad. Je komplexer der Wissensraum ist, je vielfältiger die sprachlichen Interaktion mit anderen Menschen werden, umso schwieriger wird es natürlich.

‚Luftnummer‘ chatGPT

(Letzte Änderung: 15.Februar 2023, 07:25h)

Vergleicht man den chatbot chatGPT mit diesen ‚Grundeigenschaften‘ des Menschen, dann kann man erkennen, dass chatGPT nichts von alledem kann. (i) Fragen kann er von sich aus nicht sinnvoll stellen, da es keinen Anlass gibt, warum er fragen sollte (es sei denn, jemand induziert ihm eine Frage). (ii) Textdokumente (von Menschen) sind für ihn Ausdrucksmengen, für die er über keine eigenständigen Bedeutungszuordnung verfügt. Er könnte also niemals eigenständig die ‚Wahrheitsfrage‘ — mit all ihren dynamischen Schattierungen — stellen oder beantworten. Er nimmt alles für ‚bare Münze‘ bzw. man sagt gleich, dass er ’nur träumt‘.

Wenn chatGPT aufgrund seiner großen Text-Datenbank eine Teilmenge von Ausdrücken hat, die irgendwie als ‚wahr‘ klassifiziert sind, dann kann der Algorithmus ‚im Prinzip‘ indirekt ‚Wahrscheinlichkeiten‘ ermitteln, die andere Ausdrucksmengen, die nicht als ‚wahr‘ klassifiziert sind, dann doch ‚mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit‘ als ‚wahr erscheinen‘
lassen. Ob der aktuelle chatGPT Algorithmus solche ‚wahrscheinlichen Wahrheiten explizit‘ benutzt, ist unklar. Im Prinzip übersetzt er Texte in ‚Vektorräume‘, die auf verschiedene Weise ‚ineinander abgebildet‘ werden, und Teile dieser Vektorräume werden dann wieder in Form eines ‚Textes‘ ausgegeben. Das Konzept ‚Wahrheit‘ taucht in diesen mathematischen Operationen — nach meinem aktuellen Kenntnisstand — nicht auf. Wenn, dann wäre es auch nur der formale logische Wahrheitsbegriff [4]; dieser liegt aber mit Bezug auf die Vektorräume ‚oberhalb‘ der Vektorräume, bildet in Bezug auf diese einen ‚Meta-Begriff‘. Wollte man diesen auf die Vektorräume und Operationen auf diesen Vektorräumen tatsächlich anwenden, dann müsste man den Code von chatGPT komplett neu schreiben. Würde man dies tun — das wird aber keiner schaffen — dann würde sich der Code von chatGPT dem Status einer formalen Theorie nennen (wie in der Mathematik) (siehe Anmerkung [5]). Von einer empirischen Wahrheitsfähigkeit wäre chatGPT dann immer noch meilenweit entfernt.

Hybride Scheinwahrheiten

Im Anwendungsfall, bei dem der Algorithmus mit Namen ‚chatGPT‘ Ausdrucksmengen benutzt, die den Texten ähneln, die Menschen produzieren und lesen, navigiert sich chatGPT rein formal und mit Wahrscheinlichkeiten durch den Raum der formalen Ausdruckselemente. Ein Mensch, der die von chatGPT produzierten Ausdrucksmengen ‚liest‘, aktiviert aber automatisch (= unbewusst!) sein eigenes ’sprachliches Bedeutungswissen‘ und projiziert dieses in die abstrakten Ausdrucksmenge von chatGBT. Wie man beobachten kann (und hört und liest von anderen), sind die von chatGBT produzierten abstrakten Ausdrucksmengen dem gewöhnten Textinput von Menschen in vielen Fällen — rein formal — so ähnlich, dass ein Mensch scheinbar mühelos seine Bedeutungswissen mit diesen Texten korrelieren kann. Dies hat zur Folge, dass der rezipierende (lesende, hörende) Mensch das ‚Gefühl‘ hat, chatGPT produziert ’sinnvolle Texte‘. In der ‚Projektion‘ des lesenden/hörenden Menschen JA, in der Produktion von chatGPT aber NEIN. chatGBT verfügt nur über formale Ausdrucksmengen (kodiert als Vektorräume), mit denen er ‚blind‘ herumrechnet. Über ‚Bedeutungen‘ im menschlichen Sinne verfügt er nicht einmal ansatzweise.

Zurück zum Menschen?

(Letzte Änderung: 27.Februar 2023)

Wie leicht sich Menschen von einer ‚fake-Maschine‘ so beeindrucken lassen, dass sie dabei sich selbst anscheinend vergessen und sich ‚dumm‘ und ‚leistungsschwach‘ fühlen, obgleich die Maschine nur ‚Korrelationen‘ zwischen menschlichen Fragen und menschlichen Wissensdokumenten rein formal herstellt, ist eigentlich erschreckend [7a,b], und zwar mindestens in einem doppelten Sinne: (i)Statt die eigene Potentiale besser zu erkennen (und zu nutzen), starrt man gebannt wie das berühmte ‚Kaninchen auf die Schlange‘, obgleich die Maschine immer noch ein ‚Produkt des menschlichen Geistes‘ ist. (ii) Durch diese ‚kognitive Täuschung‘ wird versäumt, das tatsächlich ungeheure Potential ‚kollektiver menschlicher Intelligenz‘ besser zu verstehen, das man dann natürlich durch Einbeziehung moderner Technologien um mindestens einen evolutionären Level weiter voran bringen könnte. Die Herausforderung der Stunde lautet ‚Kollektiver Mensch-Maschine Intelligenz‘ im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung mit Priorität bei der menschlichen kollektiven Intelligenz. Die aktuelle sogenannte ‚Künstliche (= maschinelle) Intelligenz‘ sind ziemlich primitive Algorithmen. Integriert in eine entwickelte ‚kollektive menschliche Intelligenz‘ könnten ganz andere Formen von ‚Intelligenz‘ realisiert werden, solche, von denen wir aktuell höchstens träumen können.

Kommentierung weiterer Artikel von anderen Autoren zu chatGPT

(Letzte Änderung: 17.April 2023)

Achtung: Einige der Text in den Anmerkungen sind aus dem Englischen zurück übersetzt worden. Dies geschah unter Benutzung der Software www.DeepL.com/Translator (kostenlose Version).

Siehe [8], [9], [10], [12],[13],[14],[15]

Anmerkungen

[1] In den vielen tausend ’natürlichen Sprachen‘ dieser Welt kann man beobachten, wie ‚erfahrbare Umweltgegebenheiten‘ über die ‚Wahrnehmung‘ zu ‚Wissenselementen‘ werden können, die dann in jeder Sprache mit unterschiedlichen Ausdrücken korreliert werden. Die Sprachwissenschaftler (und Semiotiker) sprechen daher hier von ‚Konventionen‘, ‚frei vereinbarte Zuordnungen‘.

[2] Aufgrund der körperlichen Interaktion mit der Umgebung, die ‚Wahrnehmungsereignisse‘ ermöglicht, die von den ‚erinnerbaren und gewussten Wissenselementen‘ unterscheidbar sind.

[3] Die Einstufung von ‚Wissenselementen‘ als ‚Fantasterei‘ kann falsch sein, wie viele Beispiele zeigen, wie umgekehrt, die Einstufung als ‚wahrscheinlich korrelierbar‘ auch falsch sein kann!

[4] Nicht der ‚klassischen (aristotelischen) Logik‘ da diese noch keine strenge Trennung von ‚Form‘ (Ausdruckselementen) und ‚Inhalt‘ (Bedeutung) kannte.

[5] Es gibt auch Kontexte, in denen spricht man von ‚wahren Aussagen‘, obgleichgar keine Beziehung zu einer konkreten Welterfahrung vorliegt. So z.B. im Bereich der Mathematik, wo man gerne sagt, dass eine Aussage ‚wahr‘ ist. Dies ist aber eine ganz ‚andere Wahrheit‘. Hier geht es darum, dass im Rahmen einer ‚mathematischen Theorie‘ bestimmte ‚Grundannahmen‘ gemacht wurden (die mit einer konkreten Realität nichts zu tun haben müssen), und man dann ausgehend von diesen Grundannahmen mit Hilfe eines formalen Folgerungsbegriffs (der formalen Logik) andere Aussagen ‚ableitet‘. Eine ‚abgeleitete Aussage‘ (meist ‚Theorem‘ genannt), hat ebenfalls keinerlei Bezug zu einer konkreten Realität. Sie ist ‚logisch wahr‘ oder ‚formal wahr‘. Würde man die Grundannahmen einer mathematischen Theorie durch — sicher nicht ganz einfache — ‚Interpretationen‘ mit konkreter Realität ‚in Beziehung setzen‘ (wie z.B. in der ‚angewandten Physik‘), dann kann es unter speziellen Bedingungen sein, dass die formal abgeleiteten Aussagen einer solchen ‚empirisch interpretierten abstrakten Theorie‘ eine ‚empirische Bedeutung‘ gewinnen, die unter bestimmten Bedingungen vielleicht ‚korrelierbar‘ ist; dann würde man solche Aussagen nicht nur ‚logisch wahr‘ nennen, sondern auch ‚empirisch wahr‘. Wie die Geschichte der Wissenschaft und der Wissenschaftsphilosophie zeigt, ist der aber ‚Übergang‘ von empirisch interpretierten abstrakten Theorien zu empirisch interpretierbaren Folgerungen mit Wahrheitsanspruch nicht trivial. Der Grund liegt im benutzten ‚logischen Folgerungsbegriff‘. In der modernen formalen Logik gibt es mahezu ‚beliebig viele‘ verschiedene formale Folgerzungsbegriffe. Ob ein solcher formaler Folgerungsbegriff tatsächlich die Struktur empirischer Gegebenheiten über abstrakte Strukturen mit formalen Folgerungen ‚angemessen wiedergibt‘, ist keinesfalls gesichert! Diese Problemstellung ist in der Wissenschaftsphilosophie bislang nicht wirklich geklärt!

[6] Gerd Doeben-Henisch, 15.-16.Januar 2023, „chatGBT about Rationality: Emotions, Mystik, Unconscious, Conscious, …“, in: https://www.uffmm.org/2023/01/15/chatgbt-about-rationality-emotions-mystik-unconscious-conscious/

[7a] Der chatbot ‚Eliza‘ von Weizenbaum von 1966 war trotz seiner Einfachheit in der Lage, menschliche Benutzer dazu zu bringen, zu glauben, dass das Programm sie ‚versteht‘ selbst dann, wenn man ihnen erklärte, dass es nur ein einfacher Algorithmus sei. Siehe das Stichwort ‚Eliza‘ in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/ELIZA

[7b] Joseph Weizenbaum, 1966, „ELIZA. A Computer Program For the Study of Natural Language. Communication Between Man And Machine“, Communications of the ACM, Vol.9, No.1, January 1966, URL: https://cse.buffalo.edu/~rapaport/572/S02/weizenbaum.eliza.1966.pdf Anmerkung: Obwohl das Programm ‚Eliza‘ von Weizenbaum sehr einfach war, waren alle Benutzer fasziniert von dem Programm, weil sie das Gefühl hatten „Es versteht mich“, dabei spiegelte das Programm nur die Fragen und Aussagen der Benutzer. Anders gesagt: die Benutzer waren ‚von sich selbst‘ fasziniert mit dem Programm als eine Art ‚Spiegel‘.

[8] Ted Chiang, 2023, „ChatGPT Is a Blurry JPEG of the Web. OpenAI’s chatbot offers paraphrases, whereas Google offers quotes. Which do we prefer?“, The NEW YORKER, February 9, 2023. URL: https://www.newyorker.com/tech/annals-of-technology/chatgpt-is-a-blurry-jpeg-of-the-web . Anmerkung: Chang betrachtet das Programm chatGPT im Paradigma eines ‚Kompressions-Algorithmus‘: Die Fülle der Informationen wird ‚verdichtet/ abstrahiert‘, so dass ein leicht unscharfes Bild der Textmengen entsteht, keine 1-zu-1 Kopie. Dies führt beim Benutzer zum Eindruck eines Verstehens auf Kosten des Zugriffs auf Details und Genauigkeit. Die Texte von chatGPT sind nicht ‚wahr‘, aber sie ‚muten an‘.

[9] Dietmar Hansch, 2023, „Der ehrlichere Name wäre ‚Simulierte Intelligenz‘. An welchen Defiziten Bots wie chatGBT leiden und was das für unseren Umgang mit Ihnen heißen muss.“, FAZ, 1.März 2023, S.N1 . Bemerkung: Während Chiang (siehe [8] sich dem Phänomen chatGPT mit dem Konzept ‚Kompressions-Algorithmus‘ nähert bevorzugt Hansch die Begriffe ’statistisch-inkrementelles Lernen‘ sowie ‚Einsichtslernen‘. Für Hansch ist Einsichtslernen an ‚Geist‘ und ‚Bewusstsein‘ gebunden, für die er im Gehirn ‚äquivalente Strukturen‘ postuliert. Zum Einsichtslernen kommentiert Hansch weiter „Einsichtslernen ist nicht nur schneller, sondern auch für ein tiefes, ganzheitliches Weltverständnis unverzichtbar, das weit greifende Zusammenhänge erfasst sowie Kriterien für Wahrheit und Wahrhaftigkeit vermittelt.“ Es verwundert dann nicht wenn Hansch schreibt „Einsichtslernen ist die höchster Form des Lernens…“. Mit Bezug auf diesen von Hansch etablierten Referenzrahmen klassifiziert er chatGPT in dem Sinne dass er nur zu ’statistisch-inkrementellem Lernen‘ fähig sei. Ferner postuliert Hansch für den Menschen, „Menschliches Lernen ist niemals rein objektiv, wir strukturieren die Welt immer in Bezug auf unsere Bedürfnisse, Gefühle und bewussten Zwecke…“. Er nennt dies den ‚Humanbezug‘ im menschlichen Erkennen, und genau diesen spricht er chatGPT auch ab. Für geläufige Bezeichnung ‚KI‘ als ‚Künstliche Intelligenz‘ postuliert er, dass der Terminus ‚Intelligenz‘ in dieser Wortverbindung nichts mit der Bedeutung zu tun habe, die wir im Fall des Menschen mit ‚Intelligenz‘ verbinden, also auf keinen Fall etwas mit ‚Einsichtslernen‘, wie er zuvor schon festgestellt hat. Um diesem Umstand mehr Ausdruck zu verleihen würde er lieber den Begriff ‚Simulierte Intelligenz‘ benutzen (siehe dazu auch [10]). Diese begriffliche Strategie wirkt merkwürdig, da der Begriff Simulation [11] normalerweise voraussetzt, dass es eine klare Sachlage gibt, zu der man ein vereinfachtes ‚Modell‘ definiert, mittels dem sich dann das Verhalten des Originalsystems in wichtigen Punkten — vereinfacht — anschauen und untersuchen lässt. Im vorliegenden Fall ist aber nicht ganz klar, was denn überhaupt das Originalsystem sein soll, das im Fall von KI simuliert werden soll. Es gibt bislang keine einheitliche Definition von ‚Intelligenz‘ im Kontext von ‚KI‘! Was die Begrifflichkeit von Hansch selbst angeht, so sind die Begriffe ‚statistisch-inkrementelles Lernen‘ sowie ‚Einsichtslernen‘ ebenfalls nicht klar definiert; der Bezug zu beobachtbarem menschlichen Verhalten geschweige den zu den postulierten ‚äquivalenten Gehirnstrukturen‘ ist beliebig unklar (was durch den Bezug zu bis heute nicht definierten Begriffen wie ‚Bewusstsein‘ und ‚Geist‘ nicht gerade besser wird).

[10] Severin Tatarczyk, 19.Februar 2023, zu ‚Simulierter Intelligenz‘: https://www.severint.net/2023/02/19/kompakt-warum-ich-den-begriff-simulierte-intelligenz-bevorzuge-und-warum-chatbots-so-menschlich-auf-uns-wirken/

[11] Begriff ‚Simulation‘ in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Simulation

[12] Doris Brelowski machte mich auf folgenden Artikel aufmerksam: James Bridle, 16.März 2023, „The stupidity of AI. Artificial intelligence in its current form is based on the wholesale appropriation of existing culture, and the notion that it is actually intelligent could be actively dangerous“, URL: https://www.theguardian.com/technology/2023/mar/16/the-stupidity-of-ai-artificial-intelligence-dall-e-chatgpt?CMP=Share_AndroidApp_Other . Anmerkung: Ein Beitrag, der kenntnisreich und sehr differenziert das Wechselspiel zwischen Formen der AI beschreibt, die von großen Konzernen auf das gesamte Internet ‚losgelassen‘ werden, und was dies mit der menschlichen Kultur und dann natürlich mit den Menschen selbst macht. Zwei Zitate aus diesem sehr lesenwerten Artikel: Zitat 1: „The entirety of this kind of publicly available AI, whether it works with images or words, as well as the many data-driven applications like it, is based on this wholesale appropriation of existing culture, the scope of which we can barely comprehend. Public or private, legal or otherwise, most of the text and images scraped up by these systems exist in the nebulous domain of “fair use” (permitted in the US, but questionable if not outright illegal in the EU). Like most of what goes on inside advanced neural networks, it’s really impossible to understand how they work from the outside, rare encounters such as Lapine’s aside. But we can be certain of this: far from being the magical, novel creations of brilliant machines, the outputs of this kind of AI is entirely dependent on the uncredited and unremunerated work of generations of human artists.“ Zitat 2: „Now, this didn’t happen because ChatGPT is inherently rightwing. It’s because it’s inherently stupid. It has read most of the internet, and it knows what human language is supposed to sound like, but it has no relation to reality whatsoever. It is dreaming sentences that sound about right, and listening to it talk is frankly about as interesting as listening to someone’s dreams. It is very good at producing what sounds like sense, and best of all at producing cliche and banality, which has composed the majority of its diet, but it remains incapable of relating meaningfully to the world as it actually is. Distrust anyone who pretends that this is an echo, even an approximation, of consciousness. (As this piece was going to publication, OpenAI released a new version of the system that powers ChatGPT, and said it was “less likely to make up facts”.)“

[13] David Krakauer in einem Interview mit Brian Gallagher in Nautilus, March 27, 2023, Does GPT-4 Really Understand What We’re Saying?, URL: https://nautil.us/does-gpt-4-really-understand-what-were-saying-291034/?_sp=d9a7861a-9644-44a7-8ba7-f95ee526d468.1680528060130. David Krakauer, Evolutionstheoretiker und Präsident des Santa Fe Instituts für Complexity Science, analysiert die Rolle von Chat-GPT-4-Modellen im Vergleich zum menschlichen Sprachmodell und einem differenzierteren Verständnis dessen, was „Verstehen“ und „Intelligenz“ bedeuten könnte. Seine Hauptkritikpunkte stehen in enger Übereinstimmung mit der obigen Position. Er weist darauf hin, dass (i) man klar zwischen dem „Informationskonzept“ von Shannon und dem Konzept der „Bedeutung“ unterscheiden muss. Etwas kann eine hohe Informationslast darstellen, aber dennoch bedeutungslos sein. Dann weist er darauf hin (ii), dass es mehrere mögliche Varianten der Bedeutung von „Verstehen“ gibt. Die Koordinierung mit dem menschlichen Verstehen kann funktionieren, aber Verstehen im konstruktiven Sinne: nein. Dann setzt Krakauer (iii) GPT-4 mit dem Standardmodell der Wissenschaft in Beziehung, das er als „parsimony“ charakterisiert; chat-GPT-4 ist eindeutig das Gegenteil. Ein weiterer Punkt (iv) ist die Tatsache, dass die menschliche Erfahrung einen „emotionalen“ und einen „physischen“ Aspekt hat, der auf somato-sensorischen Wahrnehmungen im Körper beruht. Dies fehlt bei GPT-4. Dies hängt (v) mit der Tatsache zusammen, dass das menschliche Gehirn mit seinen „Algorithmen“ das Produkt von Millionen von Jahren der Evolution in einer komplexen Umgebung ist. Die GPT-4-Algorithmen haben nichts Vergleichbares; sie müssen den Menschen nur ‚überzeugen‘. Schließlich (vi) können Menschen „physikalische Modelle“ generieren, die von ihren Erfahrungen inspiriert sind, und können mit Hilfe solcher Modelle schnell argumentieren. So kommt Krakauer zu dem Schluss: „Das Narrativ, das besagt, dass wir das menschliche Denken wiederentdeckt haben, ist also in vielerlei Hinsicht falsch. Einfach nachweislich falsch. Das kann nicht der richtige Weg sein.“ Anmerkungen zum Text von Krakauer: Benutzt man das allgemeine Modell von Akteur und Sprache, wie es der Text oben annimmt, dann ergeben sich die Punkt (i) – (vi) als Folgerungen aus dem allgemeinen Modell. Die Akzeptanz eines allgemeinen Akteur-Sprache Modells ist leider noch nicht verbreitet.

[14] Von Marie-José Kolly (Text) und Merlin Flügel (Illustration), 11.04.2023, „Chatbots wie GPT können wunderbare Sätze bilden. Genau das macht sie zum Problem“. Künstliche Intelligenz täuscht uns etwas vor, was nicht ist. Ein Plädoyer gegen die allgemeine Begeisterung. Online-Zeitung ‚Republik‘ aus der SChweiz, URL: https://www.republik.ch/2023/04/11/chatbots-wie-gpt-koennen-wunderbare-saetze-bilden-genau-das-macht-sie-zum-problem? Hier einige Anmerkungen:

Der Text von Marie-José Kolly sticht hervor weil der Algorithmus mit Namen chatGPT(4) hier sowohl in seinem Input-Output Verhalten charakterisiert wird und zusätzlich ein Vergleich zum Menschen zumindest in Ansätzen vorgenommen wird.

Das grundsätzliche Problem des Algorithmus chatGPT(4) besteht darin (wie auch in meinem Text oben herausgestellt), dass er als Input-Daten ausschließlich über Textmengen verfügt (auch jene der Benutzer), die nach rein statistischen Verfahren in ihren formalen Eigenschaften analysiert werden. Auf der Basis der analysierten Regelmäßigkeiten lassen sich dann beliebige Text-Kollagen erzeugen, die von der Form her den Texten von Menschen sehr stark ähneln, so sehr, dass viele Menschen sie für ‚von Menschen erzeugte Texte‘ nehmen. Tatsächlich fehlen dem Algorithmus aber das, was wir Menschen ‚Weltwissen‘ nennen,es fehlt echtes ‚Denken‘, es fehlen ‚eigene‘ Werte-Positionen, und der Algorithmus ‚versteht‘ seine eigenen Text ’nicht‘.

Aufgrund dieses fehlenden eigenen Weltbezugs kann der Algorithmus über die verfügbaren Textmengen sehr leicht manipuliert werden. Eine ‚Massenproduktion‘ von ‚Schrott-Texten‘, von ‚Desinformationen‘ ist damit sehr leicht möglich.

Bedenkt man, dass moderne Demokratien nur funktionieren können, die Mehrheit der Bürger über eine gemeinsame Faktenbasis verfügt, die als ‚wahr‘ angenommen werden können, über eine gemeinsame Wissensmenge, über zuverlässige Medien, dann können mit dem Algorithmus chatGPT(4) genau diese Anforderungen an eine Demokratie massiv zerstört werden.

Interessant ist dann die Frage, ob chatGPT(4) eine menschliche Gesellschaft, speziell eine demokratische Gesellschaft, tatsächlich auch positiv-konstruktiv unterstützen kann?

Vom Menschen ist jedenfalls bekannt, dass dieser den Gebrauch seiner Sprache von Kindes Beinen an im direkten Kontakt mit einer realen Welt erlernt, weitgehend spielerisch, in Interaktion mit anderen Kindern/ Menschen. Für Menschen sind ‚Worte‘ niemals isolierte Größen sondern sie sind immer dynamisch eingebunden in ebenfalls dynamische Kontexte. Sprache ist nie nur ‚Form‘ sondern immer zugleich auch ‚Inhalt‘, und dies auf mannigfaltige Weise. Dies geht nur weil der Mensch über komplexe kognitiven Fähigkeiten verfügt, die u.a. entsprechende Gedächtnisleistungen wie auch Fähigkeiten zur Verallgemeinerung/ Generalisierung umfassen.

Die kulturgeschichtliche Entwicklung von gesprochener Sprache, über Schrift, Buch, Bibliotheken bis hin zu gewaltigen digitalen Datenspeichern hat zwar bezüglich der ‚formen‘ von Sprache und darin — möglicherweise — kodiertem Wissen Gewaltiges geleistet, aber es besteht der Eindruck, dass die ‚Automatisierung‘ der Formen diese in die ‚Isolation‘ treibt, so dass die Formen ihren Kontakt zur Realität, zur Bedeutung, zur Wahrheit immer mehr verlieren. Aus der Sprache als zentralem Moment der Ermöglichung von mehr komplexem Wissen und mehr komplexem Handeln wird damit zunehmend ein ‚Parasit‘, der immer mehr Raum beansprucht und dabei immer mehr Bedeutung und Wahrheit vernichtet.

[15] Gary Marcus, April 2023, Hoping for the Best as AI Evolves, Gary Marcus on the systems that “pose a real and imminent threat to the fabric of society.” Communications of the ACM, Volume 66, Issue 4, April 2023 pp 6–7, https://doi.org/10.1145/3583078 . Anmerkung: Gary Marcus schreibt anlässlich der Wirkungen von Systemen wie chatGPT(OpenAI), Dalle-E2 und Lensa über die ernst zunehmenden negativen Wirkungen, die diese Werkzeuge innerhalb einer Gesellschaft haben können, und zwar in einem Ausmaß, das eine ernsthafte Bedrohung für jede Gesellschaft darstellt! Sie sind inhärent fehlerhaft in den Bereichen Denken, Tatsachen und Halluzinationen. Mit nahezu Null Kosten lassen sich mit ihnen sehr schnell umfangreiche Desinformationskampagnen erstellen und ausführen. Am Beispiel der weltweit wichtigen Webseite ‚Stack Overflow‘ für Programmierer konnte (und kann) man sehen, wie der inflationäre Gebrauch von chatGPT aufgrund der inhärenten vielen Fehler dazu führt, dass das Management-Team von Stack Overflow seine Benutzer dringend bitten musste, den Einsatz von chatGPT komplett zu unterlassen, um den Zusammenbruch der Seite nach 14 Jahren zu verhindern. Im Falle von großen Playern, die es gezielt auf Desinformationen absehen, ist solch eine Maßnahme unwirksam. Diese Player zielen darauf ab, eine Datenwelt zu erschaffen, in der niemand mehr irgend jemandem vertrauen kann. Dies vor Augen stellt Gary Marcus 4 Postulate auf, die jede Gesellschaft umsetzen sollte: (1) Automatisch generierter Inhalt sollte komplett verboten werden; (2) Es müssen rechtswirksame Maßnahmen verabschiedet werden, die ‚Missinformationen‘ verhindern können; (3) User Accounts müssen fälschungssicher gemacht werden; (4) Es wird eine neue Generation von KI Werkzeugen gebraucht, die Fakten verifizieren können.

DER AUTOR

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DIE LETZTE GESCHICHTE DER MENSCHHEIT. Theaterstück. Notizen von einem Abend

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 24.Januar 2023 – 25.Januar 2023
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (cagent@cognitiveagent.org)

Kontext

Ein Theaterbesuch gestern Abend im Schauspiel Frankfurt. Ein junger Regisseur, Leon Bornemann, eine tolle Schauspielerin Tanja Merlin Graf, ein junger Autor Sören Hornung ( Mehr Informationen: https://www.schauspielfrankfurt.de/spielplan/a-z/die-letzte-geschichte-der-menschheit/ ).

Form

Der folgende Text stellt eine spontane Wiedergabe einiger Impressionen dar, die sich während und nach dem Theaterstück ergeben haben. Leider gab es nach der Aufführung keine Möglichkeit zu einem Gespräch mit dem Publikum, was schade ist: da wird mit viel Aufwand, Engagement, ja, vermutlich auch mit viel ‚Liebe‘, ein wunderbares Stück vorbereitet, und dann lässt man die ‚Wirkung‘ dieses Stücks quasi ‚ins Leere‘ laufen … natürlich nicht ganz ‚leer‘, da es ja immerhin ‚Menschen‘ sind, die in ihrem Erleben und Denken in der Direktheit des Geschehens ‚betroffen‘ sind, ob sie wollen oder nicht. Eine Wirkung, die man ja eigentlich ‚wollen sollte‘ als Theatertruppe, aber die Wirkungen werden in die ‚Einsamkeit des individuellen Erlebens‘ verbannt, so, als wolle man ja gar nicht wissen, was solch eine Aufführung ‚anrichtet‘.

Dabei ist es ja eigentlich toll, wenn eine Aufführung eine ‚Wirkung‘ hat.

Allerdings, wenn es nicht nur um ‚Unterhaltung‘ geht, sondern irgendwie doch auch um Mitteilen, Kommunizieren, Anregen, vielleicht sogar ‚zum Denken bringen‘ als Vorstufe eines möglichen ‚Verstehens‘ (was man einem Theaterstück unterstellen darf?), dann ist die ‚Wucht des Aufpralls des Bühnengeschehens‘ im individuellen Erleben zu groß — und sicher auch zu ‚komplex‘ –, als dass man dies alleine ohne Austausch, so einfach ‚verdauen‘ kann.

… also schreibe ich hier ein paar verstreute Impressionen auf.

DIE LETZTEN TAGE DER MENSCHHEIT (Stück)

Ich gebe hier jetzt nicht das Stück wieder. Wer es kennen lernen will, hat am 7.Februar 2023 nochmals Gelegenheit, es sich anzuschauen.

Worum es geht, wird einem gleich zu Beginn von einer weiblichen Person, die sich als Roboter darstellt, ‚ins Gesicht geredet‘: „Mein Name ist KARL. Ich bin eine KI und komme aus dem Jahr 5.144. So, jetzt ist es raus.“ Und zur Hintergrundgeschichte kann man erfahren, dass es um eine
„Künstliche Intelligenz aus der Zukunft geht, die „mithilfe einer selbstgebauten Zeitmaschine … in die Vergangenheit gereist [ist], um uns Menschen zu begegnen. Alles, was KARL über uns weiß, hat KARL auf Youtube gelernt. Beim Binge-Watching aller jemals produzierten Videos hat KARL leider verpasst, dass die Menschheit währenddessen ausgestorben ist. Jetzt ist KARL enorm einsam und vermisst die Menschen, die KARL nie persönlich Kennenlernen konnte. In KARLs postapokalyptischer Gegenwart (also unserer Zukunft bzw. der Zukunft der Erde, denn uns gibt es in der Zukunft, also in KARLs Gegenwart ja nicht mehr) sieht es insgesamt ziemlich trostlos aus. Durch eine Zeitverwerfung tritt KARL deshalb mit uns in Kontakt und möchte uns das Aussterben ausreden.“

Was dann folgt ist eine beeindruckende Einzeldarstellung der Schauspielerin, die ca. 48 Minuten lang ohne Pause eine Komposition von Körperhaltungen, Bewegungen und Monologen darbietet, die zu keinem Moment Spannung vermissen lassen.

Der Bühnenraum, durchgehend ohne Veränderungen, bietet in vielen Dimensionen Anregungen an, die bekannte Bilder aus dem Alltag wachrufen und im Zuschauer entsprechende Gefühle und gedankliche Assoziationen lebendig werden lassen.

Das Drehbuch führt den Zuschauer hinein in die Welt des Autors, der ein Bild von KI (Künstlicher Intelligenz) entstehen lässt, das letztlich den vielen Mustern ähnelt, die sich in den vielen Science Fiction Filmen (und zahllosen Science Fiction Romanen) [1] auch finden. Allerdings, die Art und Weise wie der Autor diese bekannten Bilder auf der Bühne durch eine einzige Schauspielerin — warum eigentlich nicht Frau + Mann + X? — umsetzt, wirkt in dieser Form packend, zieht einen in Bann.

Und diese KI wird instrumentalisiert zu einer Art ‚Spiegel der Menschheit‘, zum Menschen, und darin — indirekt — leicht anklagend auch an die Zuschauer, von denen der Autor annimmt, dass sie auch zu der Menschheit gehören, über die sein Stück handelt.

Auch hier, trotz innovativer Darstellungsform, die hier zum Vorschein kommenden Bilder sind die üblichen: die Menschheit ‚vergeigt‘ es, sie inszeniert ’sehenden Auges‘ ihren eigenen Untergang; warum wohl? Na ja, weil sie eben schlecht ist (obwohl sich viele doch so toll finden?).

Bei diesen Impressionen könnte man es belassen; immerhin hat man ja etwas ‚erlebt‘, ‚emotional‘, dazu ungewohnte kreative Bilder einer Bühne, einer Schauspielerin, von ungewohnten Dialogen und Bewegungen ….

ZWISCHENFRAGE(n)

Da ich als Autor Wissenschaftler bin (dann auch noch in der Nähe des Themas), aber auch Philosoph (Erkenntnistheorie und Wissenschaftsphilosophie), dann auch tatsächlich und real auch ‚Hochschul-Lehrer‘ (nicht nur ‚Forscher‘), habe ich zum Thema natürlich eine Meinung, auch zur ‚Form‘ als ‚Theaterstück‘ (Keine Angst, ich bin NICHT gegen Theater, eher für mehr Theater).

Was mich beschäftigt, und geradezu ‚weh tut‘, das sind die ‚Bilder in den Köpfen‘, die im Medium des Theaterstücks ’sichtbar‘ werden und darin ‚zur Wirkung kommen‘. Bilder einer KI, die es so weder gibt noch jemals geben wird; aber auch Bilder der Menschheit, die im ersten Moment so ‚plausibel‘ erscheinen‘, in einem zweiten Moment aber — wenn man über ‚andere Bilder‘ verfügt — nur noch teilweise plausibel sind, und in den Teilen, wo sie ’nicht plausibel sind‘, sind sie das, was man normalerweise als ‚falsch‘ versteht.

Folgt daraus, dass das Theaterstück ‚Fake News‘ verbreitet?

Würde man ‚Ja‘ sagen, dann würden letztlich alle Menschen täglich ‚Fake News‘ verbreiten, da jeder Mensch nur über ein kleines Fragment des ungeheuren Wissens verfügt, das zur Zeit die Bibliotheken, Datenbanken und Blogs dieser Welt überschwemmt, vielfach aufbereitet durch immer mehr Algorithmen, die alles, was sie finden, mit statistischen Modellen zu immer neuen Texten zusammenbauen, ohne jegliche Realitätskontrolle.[2]

Die wenigstens Menschen glauben, dass sie etwas ‚Falsches‘ tun, fühlen sich engagiert, sind oft voller Emotionen, die für sie Realität markieren.

‚Fake News‘ im Sinne von unfertigen oder falschen Texten sind aber — so scheint es — eher der ‚Normalfall‘, in den wir hineingeboren werden, der uns durch die Arbeitsweise unseres Gehirns — unbewusst ! — ‚angeboren‘ ist. Wenn wir keine besonderen Maßnahmen ergreifen, dann sind wir alle ohne Ausnahme jeden Tag ‚Fake News Produzenten‘, begleitet von vielen Emotionen.[3].

WISSENSCHAFT – SPIEL – THEATER ???

Wir leben in einer Welt, in der neben Wirtschaft und Wissenschaft das Theater immer noch eine gewisse gesellschaftliche (kulturelle!?) Anerkennung besitzt. ‚Spielen‘ besitzt keine gleichwertige Anerkennung, obgleich es die wichtigste allgemeine ‚Form des Lernens‘ ist, über die wir Menschen verfügen. Gibt es zwischen ‚Wissenschaft‘, ‚Theater‘ und ‚Spielen‘ einen irgendwie gearteten Zusammenhang?

‚Fake News‘, jenes Wissen, das in den Köpfen von Menschen existiert, aber keinen oder stark deformierten Zusammenhang mit der ‚realen Welt‘ besitzt, hat die Menschen von Anbeginn begleitet. Die Erkenntnis, dass ‚die Welt‘, die wir als gegeben voraussetzen, gar nicht die Welt ist, wie sie existiert, sondern zunächst mal nur die Welt, die unser Gehirn mit Hilfe unseres Körpers als Teil der realen Welt ‚in uns erzeugt‘ — für uns ‚real‘, verglichen aber mit der ‚realen Welt um uns herum (einschließlich unserer Körper) nur ‚virtuell‘ –, diese Erkenntnis ist vergleichsweise neu. In den ca. 3.5 Milliarden Jahre vor dem Auftreten des homo sapiens (unsere Lebensform) war sie noch nicht verfügbar. Und in den ca. 300.000 Jahren Geschichte des homo sapiens — also ‚unsere‘ Geschichte — beginnt sie erst in den letzten ca. 5000 Jahren ‚aufzublitzen‘, wird aber erst seit ca. 300 – 400 Jahren schrittweise systematisiert. Irgendwann nannten wir Menschen dies ‚Wissenschaft‘, ‚empirische Wissenschaft‘, die versucht, das ‚virtuelle Wissen im Kopf eines einzelnen Menschen‘ durch nachvollziehbare und reproduzierbare Experimente — zwischen Menschen — , mit der realen Welt abzugleichen. Das daraus entstandene und immer noch entstehende überprüfbare, reproduzierbare Wissen ist seitdem explodiert. Plötzlich können wir ‚in die Tiefen des Universums‘ schauen, können ‚in der Zeit rückwärts gehen‘, sogar zu den Anfängen des Lebens auf unserem Planeten, können in die ‚Tiefen der Materie‘ schauen, können in die Bausteine des Lebens schauen; nicht nur Atome und Moleküle, sondern auch in die Zellen, aus denen alle Lebensform bestehen, auch wir Menschen. Jeder einzelne Mensch besteht z.B. aus so vielen Zellen, wie 450 Galaxien im Format der Milchstraße Stern umfasst. Insgesamt gibt es auf dem kleinen blauen Planet Erde weit mehr biologische Zellen, als das bekannte Universum nach Hochrechnungen an Sternen besitzt! Anders gesagt, auf der unscheinbaren Erde hat sich im scheinbar so großen Universum eine ‚Zell-Universum‘ gebildet, das weit größer und um ein Vielfaches komplexer ist als das Universum der Sterne. Wir nennen es schlicht ‚Leben‘.

Was bedeutet dies?

Eigentlich bedeutet es sehr viel. Die sogenannten ‚heiligen Bücher‘ der Menschheit erzählen von all dem nichts. Wie auch.

Aber, was erzählen wir selbst, die wir ‚als Menschheit‘ diese — schaurig schönen — Ungeheuerlichkeiten entdeckt haben?

Die Wissenschaft als primäre ‚Akteurin‘ dieses Erkenntnisprozesses ‚verheddert sich‘ seit Jahren in ihren eigenen Datenmengen, im Sprachwirrwarr ‚zwischen den Disziplinen‘. In den Theatern dieser Welt begnügt man sich damit — täuscht der Eindruck? — , vom Abfall der täglichen Klischees zu leben (nur besser aufbereitet). Und jene Lernform, mit der alle Kinder dieser Welt ohne Lehrer und Schulen ihre Welt ‚fast von selbst‘ ‚erobern‘, die Form des ‚Spiels‘, fristet ein Schattendasein im Schlagschatten von Wissenschaft, offizieller Bildung und Theater, obgleich Menschen ein großes Bedürfnis haben, zu spielen.[4]

Im Rahmen der Hochschullehre experimentieren wir an der Frankfurt University of Applied Sciences seit Jahren mit neuen Lehrformaten, durch die die Studierenden — so die Idee — vielleicht besser erkennen können, welcher Zusammenhang zwischen dem Thema ‚Nachhaltige Entwicklung‘, der ‚Rolle der Bürger‘ und der ‚Wissenschaft‘ besteht, und wie man diese Themen für eine gemeinsame bessere Zukunft vereinen könnte. Unsere letzten Überlegungen dazu kann man im oksimo.org Blog nachlesen.[5] Bei diesen Experimenten, für die wir auf viele verschiedene ‚Instrumente‘ zurückgreifen, haben wir eher zufällig entdeckt, dass es eine starke strukturelle Ähnlichkeit zwischen dem Konzept einer ’nachhaltigen empirischen Theorie‘, dem Format ‚Spiel‘ und dem Format ‚Theaterstück‘ gibt (und vermutlich gibt es noch mehr potentielle Mitglieder dieser ‚Äquivalenzklasse‘).[6]

Aus diesen Erkenntnissen könnte man den Schluss ziehen, dass die bislang ‚harte Trennung‘ zwischen Wissenschaft (damit auch den Hochschulen), Spielen und Theater eine ‚Artefakt‘ eines kulturellen Musters ist, das noch stark in der ‚Vergangenheit‘ lebt und zu wenig in jener ‚Vor-Form von Zukunft‘, die wir brauchen, um unsere Chancen, als Menschheit auch in der ‚Zukunft‘ [7] leben zu können, zu erhöhen.

Post Script

Ich konnte diese Zeilen jetzt nur schreiben, weil ich dieses Theaterstück gesehen habe. Theaterstücke können — neben vielen anderen Aspekten –, wenn sie gut gemacht sind (dieses war gut ‚gemacht‘) , genau dieses bewirken: wie eine Art Katalysator jenes Wissen und Erleben heraus kitzeln, das uns auszeichnet. Sie müssten dann vielleicht aber auch den Mut haben und den Aufwand wagen, sich dem ‚Post Processing‘ ihrer Wirkungen zu stellen. Es geht nicht nur um das altertümliche Kunstverständnis eines esoterischen ‚Kunsterlebnisses‘; es geht sehr wohl um ‚Lernprozesse‘, an denen wir alle teilhaben sollten, um uns wechselseitig zu helfen, unser gemeinsames Dasein und mögliches Schicksal besser zu verstehen. Die im Stück apostrophierte ‚Einsamkeit‘ des einzelnen im Netzwerk der ’sozialen Medien‘, vor dem Terminal im Gespräch mit einer KI, die sollte vielleicht für Theaterbesucher nicht zwanghaft reproduziert werden. Wenn man schon erkennt, dass ‚Vereinsamung‘ ein Thema ist, dann müsste Theater sich hier vielleicht etwas ‚Moderneres‘ einfallen lassen, etwas, was dem ‚mehr Mensch sein‘ helfen könnte …

KOMMENTARE

[1] Eine kleine Liste von Science fiction Filmen (mit Kurzkommentar) findet sich hier: https://wiki.cognitiveagent.org/doku.php?id=cagent:sciencefiction

[2] Die KI-Forscher selbst sprechen hier davon, dass diese Algorithmen ‚träumen’…

[3] Demokratien sind hier besonders gefährdet, da ja alles über Mehrheiten läuft. Wenn einflussreiche Gruppen mit bestimmten Meinungsbildern die Gehirne der Bevölkerung ‚überschwemmen‘ (früher sprach man von ‚Propaganda‘ oder gar ‚Gehirnwäsche‘), dann kann man in einer Demokratie nahezu alles umsetzen, ohne zu Waffen greifen zu müssen. Und da Politiker nicht anders sind als ihre Wähler, merken viele nicht unbedingt, dass sie selbst zur Verstärkung von Fake News und ‚Zerstörung von Öffentlichkeit‘ beitragen ….(Woraus keineswegs folgt, dass Demokratien schlecht sind! Jedes tolle Instrument wirkt schlecht, wenn man es falsch bedient …)

[4] Laut statista ( https://de.statista.com/statistik/daten/studie/712928/umfrage/anzahl-der-computerspieler-in-deutschland/ ) gab es im Jahr 2020 allein in Deutschland ca. 34 Millionen Menschen, die Computerspiele machen, nicht die gezählt, die ’normale‘ Spiele spielen.

[5] Der ganze Blog widmet sich dem Thema ‚Bürgerwissenschaft 2.0‘ und ‚Nachhaltigkeit‘. Hier am Beispiel möglicher Lehrformate: https://www.oksimo.org/2022/11/04/anwendung-lehre/

[6] Siehe dazu die Überlegungen hier: https://www.oksimo.org/2022/12/14/nachhaltige-empirische-theorie-verschiedene-formate/

[7] Den wenigstens ist — so der Anschein — bewusst, dass die ‚Zukunft‘ kein ‚Objekt wie irgendein anderes‘ ist, sie ist ‚radikal unbekannt‘. Wir könne sie in ‚möglichen Umrissen‘ nur ‚erahnen‘ im Lichte eines Wissens, das ansatzweise die ‚Veränderungsdynamik‘ des Universums ‚versteht‘. Der homo sapiens als Teil der Biosphäre ist Teil dieser Veränderungsdynamik. Solange wir aber eher in ‚Fake News‘ verharren als in brauchbarem realem Wissen können wir natürlich nicht allzu viel Konstruktives tun; wir bestaunen dann nur die immer größeren Schäden, die wir auf dem Planeten, an der Biosphäre (zu der wir gehören) anrichten…. „Hier spricht KI Karl“ …

DER AUTOR

Einen Überblick über alle Beiträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.

Glauben statt Wissen – Neuer Ausbruch einer alten kognitiven Pandemie?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 7.Dezember 2022 – 22.Dezember 2022
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (cagent@cognitiveagent.org)

Kontext

Hier nur der allgemeine Blog-Kontext.[0]

Inhalt

Es beginnt mit Beispielen aus dem Alltag …

Was um uns herum passiert …

Im auslaufenden Jahr 2022 kann man in Deutschland — aber auch weltweit — sehr leicht viele unterschiedliche ‚Meinungen‘ zu unserer Welt, zu unserer Gesellschaft, zu unserem Alltag, ja auch ‚zu sich selbst‘ wahrnehmen. Meinungen, die sich unterscheiden, die ‚gegenteilig‘ und damit ‚widersprüchlich‘ erscheinen. Und solche gegenteiligen Meinungen haben — gesehen aus der eigenen Perspektive — vorzugsweise ‚die anderen‘ (Rechte, Linke, Konservative, Liberale, Moderne, Altvordere, Schmarotzer, Demokraten, Autoritäre, …). Man selbst wundert sich aber eventuell (viele wundern sich nicht) darüber, dass die anderen die eigene Meinung nicht akzeptieren wollen. „Wie das, habe ich nicht Recht? Ich weiß es doch ganz genau …“

Wissen ist nicht Wissen

Für die allermeisten Menschen ist das, was sie zu wissen meinen, und auch alles andere, was sie selbst auszeichnet, ‚real‘. Das was sie denken, schreiben und lesen ist erst einmal ‚real‘. Daran zu zweifeln käme für die meisten einer Selbstzerstörung gleich. Ich ’sehe‘ es doch; ich ‚weiß‘ es doch; ich habe es doch ‚gelesen‘; der XYZ hat es doch ‚gesagt’…

Die ernüchternde (eigentlich befreiende, für die meisten aber bedrohliche) Wahrheit ist, dass alles, was wir so meinen, fühlen, denken, erinnern usw. sich erst einmal ausschließlich in unserem eigenen Kopf befindet, genauer: in unserem Gehirn. Da es ‚unser‘ Gehirn ist, ist alles, was sich im Gehirn abspielt (nur weniges ist ‚bewusst‘) für uns ‚real‘. Für uns als ‚Besitzer‘ unseres Gehirns ist grundsätzlich alles, was dieses Gehirn unermüdlich rund um die Uhr für uns produziert ‚das Reale‘, die ‚reale Welt‘. Und was immer wir fühlen und denken: es ist erst einmal für uns als ‚Besitzer‘ und ‚Produzenten‘ maximal ‚real‘. So sind wir geboren. So funktionieren wir. [1]

In den empirischen Wissenschaften (experimentelle Psychologie, experimentelle Neurowissenschaften, …) kann man diese Sachverhalte heute sehr direkt untersuchen und kann dann die Arbeitshypothese aufstellen, dass die Prozesse in unserem Gehirn, sofern sie Eigenschaften der Welt außerhalb des Gehirns in unserem eigenen Körper wie auch außerhalb unseres eigenen Körpers ‚repräsentieren‘, in dieser Beziehung als ‚virtuell‘ zu bezeichnen sind gegenüber den ‚realen‘ Prozessen außerhalb des Gehirns. Für uns selbst bleiben diese virtuellen Prozesse aber ‚real‘, es sind eben ‚unsere‘ Prozesse.

Ein wunderbares Medium, anhand dessen man sehr viele (die meisten) Phänomene dieser ‚Welt – Gehirn‘ Diskrepanz illustrieren kann, ist die Alltagssprache, unsere ’normale Sprache‘.

Wenn wir mit anderen am Frühstückstisch sitzen und jemand sagt „Kannst Du mir den Kaffee rüber reichen“, dann weiß der andere normalerweise (aufgrund seines Situationswissens, seiner aktuellen Wahrnehmung, und seines erlernten Sprachwissens) welcher Gegenstand auf dem Frühstückstisch gemeint ist. Irritiert wäre man dann aber, wenn der andere statt der Kaffeekanne zu einem leeren Glas greifen würde (was bei Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen sehr wohl geschehen könnte).

Würde einer der Frühstücksteilnehmer nebenbei in eine Zeitung schauen, könnte es passieren,dass er plötzlich laut sagt: „Toll das Politiker XY das sagt“, worauf es genauso passieren könnte, dass ein anderer Frühstücksteilnehmer spontan erwidert: „Das ist doch nur Betrug. Weißt Du denn nicht …“ Und schon entwickelt sich möglicherweise ein Streitgespräch, das emotional ausarten kann.

Jeder der Sprecher würde für sich reklamieren, dass er es doch ‚richtig‘ weiß, dass es doch ‚wahr‘ sei, dass der und die das doch ‚geschrieben‘ hat, dass der und die das doch ‚gesagt‘ haben …

Wie jeder heute im Jahr 2022 überall und jederzeit erleben kann, finden solche wundersamen Dialoge statt: jeder behauptet Recht zu haben und kann sich nicht vorstellen, dass er nicht Recht hat.

Die moderne Philosophie hätte dazu einfache klare Antworten (im Geiste Kants, der sich modernisiert hat). Aber wer kennt schon Philosophie? Wer hat die Zeit und Kraft, sich damit zu beschäftigen? Und, vor allem, wer hätte auch nur das Minimum einer Motivation, seine eigene Meinung, die doch so ‚wahr‘ und ‚wunderbar‘ ist, in Frage zu stellen? Da würde ja ein ‚Abgrund‘ drohen, womöglich ein ‚Fall‘ ins ‚Nichts’… [1],[2]

Ich komme so nicht weiter …nur in mir …

Ein sehr lieber Mensch schrieb mir die Tage: „Wenn es darum geht, zu handeln, muss man irgendwann sagen, ‚Jetzt brauche ich diese Sicherheit‘. Und wo finde ich die? Nur in mir. …..Text, jeder sagt etwas anderes….Ich als Laie komme so nicht weiter. Ich muss dann in mich gehen und einen intuitiven Zugang dazu entwickeln.“

Dieses Zeugnis von einer Person kann man von vielen anderen auch hören und lesen. Sofern man noch nicht völlig verzweifelt ist, nicht völlig ‚abgeschaltet‘ hat, noch irgendwie einen ‚Funken Leben‘ in sich verspürt, wird jeder sich ‚aufbäumen‘ gegen die Verwirrung und Unsicherheit um sich herum und wird laut sagen: ich will mich nicht einfach ergeben. Ich will leben. Ich will ‚das Richtige‘ tun. Und wem soll ich glauben wenn nicht zuerst mir selbst. Ich selbst kann doch nicht falsch sein.

Dem wird man erst einmal zustimmen müssen: die eigene Existenz ist der Dreh- und Angelpunkt für alles, was wir fühlen, denken und tun. Und das eigene Erleben wirkt so unmittelbar, so echt, so wahr, dass viele kaum einen Ansatzpunkt sehen, dass sie dies alles — und damit vermeintlich sich selbst — ‚in Frage stellen sollten‘.

Solange Menschen sehr direkt von den realen Gegebenheiten ‚um sie herum‘ abhängen (nichts zu essen, nichts zu trinken, direkte körperliche Bedrohung, Hitze und Kälte, …), gibt es ein ‚reales Grundrauschen‘, das sich mit dem ‚inneren Grundrauschen‘ zu einem ‚Sound‘ vermischt, der eine einfache ‚Dominanz‘ des inneren Rauschens verhindert. Dies bedeutet nicht automatisch, dass man deswegen ‚versteht‘, wie ‚Wirklichkeit funktioniert‘, warum man ’so und so fühlt‘, ’so und so denkt‘ usw., aber die Gefahr, sich nicht in seinen eigenen Gefühlen und Gedanken wie in einen ‚Kokon‘ einfach einzuweben ohne Rücksicht auf die Realitäten um einen herum, ist ein klein wenig geringer; der ‚realitätsgeschwängerte Sound‘ in mir kann meine ‚Introvertiertheit‘ ein wenig abmildern.

Das eigene ‚Fühlen‘: ja, es ist sehr real, man kann sich davon leiten lassen. Aber wenn man nicht versteht, dass ‚Gefühle‘ (welcher Art auch immer)‘ ‚Signale des Körpers‘ an — ja: an wen? — sind, die man ‚deuten‘ kann, aufgrund deren man ‚Erkenntnisse‘ über den Körper, die Umwelt, sein eigenes Verhalten gewinnen könnte, dann sind die ‚Gefühle‘ nur eine Form von ‚Rauschen‘, das einen irgendwie ‚betäuben‘ kann, ohne dass man daraus ein ‚besseres Verhalten‘ ableiten kann. Meistens bietet eine bestimmte Gesellschaft mit ihren kulturellen Mustern ‚Interpretationshilfen‘, was man tut, wenn man ‚Durst‘ verspürt, ‚Hunger‘, ‚Müdigkeit‘, ‚Zahnschmerzen‘, ’sexuelle Erregungen‘, … aber selbst bei diesen ‚vergleichsweise einfachen‘ Gefühlen lassen gesellschaftliche Muster ein sehr breites Verhaltensspektrum zu. Die Antwort auf das Gefühl ‚Hunger‘ verweist z.B. auf das Muster ‚Ernährung‘, zu dem es heute eine Unmenge an ‚Rezepten‘ gibt, was man wann wie essen sollte, um sich ‚gesund‘ zu ernähren (für viele Millionen Menschen auf diesem Planeten irrelevant, weil sie sowieso kaum etwas zum Essen haben…). Bei anderen Gefühlen wie ‚Zuneigung‘, ‚Verliebtsein‘, ‚Angst‘ … wird es schon schwieriger. Was sind dies überhaupt für ‚Signale‘ aus ‚meinem Inneren‘?

Verschiedene Wissenschaften haben mittlerweile ‚Indizien‘ dafür geliefert, dass bestimmte Gefühle (z.B. Angstgefühle) nicht nur aufgrund einer aktuellen Gegebenheit entstehen, sondern auf intensive Erfahrung in der eigenen Geschichte zurück verweisen, die anlässlich von Situationen, die eigentlich nicht bedrohlich sind, wieder ‚aufgeweckt‘ werden und uns überfluten. Wer sich spontan seinen ‚aktuellen Gefühlen‘ hingibt, der kann zu dem falschen Schluss kommen, dass es dieser merkwürdige Gesichtsausdruck in einem Gegenüber ist, der mir zufällig begegnet. Tatsächlich ist es aber eine Form von ‚erinnerter Vergangenheit‘, die in mir ‚aufpoppt‘ und mich mit einem Gefühl flutet, für das die aktuelle Situation nur als ‚Katalysator‘ wirkt. Die meisten Menschen bräuchten ‚professionelle Hilfe‘ (eine Art ‚Gefühls-Trainer‘), um zu ‚lernen‘, dass bestimmte Gefühle eben gerade nicht das sind, für das wir sie halten.

Dieses Beispiel gilt nicht nur für die ‚Angst‘, es gilt eigentlich für alle (!) Gefühle. Jedes Gefühl folgt einer klaren ‚Logik‘; diese Logik liegt aber nicht ‚einfach so auf dem ‚Tisch‘. Man muss sich damit beschäftigen, immer wieder, über längere Zeiträume, um Zusammenhänge zwischen ‚aktuellem Gefühl‘ und konkreten Erlebnissen und eigenem Tun schrittweise zu erkennen. Eine Gesellschaft könnte mit geeigneten kulturellen Mustern dem einzelnen helfen, geeignete ‚Lernprozesse‘ durchleben zu können. Populär — und zugleich bei vielen kritisch beäugt — sind moderne psychologisch basierte ‚Therapien‘, letztlich ‚Trainingsprozesse‘. Ebenfalls populär — bei einigen — sind vielfältige Formen von Meditation und ‚geistlicher Beratung‘. Alle diese Methoden sind ‚anfällig für Fehler‘, da der Gegenstand dieser ‚Trainingsformen‘ das Komplexeste ist, was es auf diesem Planeten gibt: die Gefühlswelt eines ‚Hochleistungslebewesens‘, das in komplexe Körper- und Weltprozesse eingebettet ist, die zusätzlich durch das eigene Verhalten verändert werden. Niemand kann hier wirklich der ‚absolute Guru‘ sein, der ‚alles‘ versteht (er kann aber so tun und die ‚Gläubigen‘ des Gurus können sich in ihr Vertrauen an ihn wie in einen ’selig spendenden Kokon‘ einwickeln lassen). Aber vor dem ‚alles‘ stehen sehr viele ‚Fragmente‘, die — jedes für sich — ein ‚Mosaikstein‘ sein kann für ein immer größer werdendes Gesamtbild, das dann der Kultur einer Gesellschaft — und damit allen — nützen kann. Besser sollten wir vielleicht sagen ‚könnte‘, denn bislang scheinen wir in unserem gesellschaftlichen Selbstverständnis von solch einem Bild noch weit entfernt zu sein; noch gibt es zu viele, die glauben, sie alleine könnten das Heil für alle bringen.

Ozean der Erregungen

Der Geist in der Flasche

Das Gehirn in einer Galaxie von Ereignissen

Chimäre Digitalisierung: Engel oder Teufel?

Wo bitte geht’s zur Welt?

Die großen Erzählungen der Religionen: viel Gift und wenig Heil?

Stadt der Erleuchtung …

Die Geschichte zur Geschichte vom Großvater, seinen Enkeln, und der Stadt der Erleuchtung.

Die Welt als Erleuchtung?

Noch nicht fertig

… man muss Geduld haben, nicht nur als Leser, auch als Autor: Wenn der Kopf ‚voll‘ ist, die Zeit aber ‚knapp‘ … wer entscheidet dann eigentlich ‚was‘ ‚wie‘ getan werden soll? … Pläne sind oft nur eine faule Ausrede um nicht das zu tun, was man ‚eigentlich‘ tun sollte … das ‚Geheimnis des Lebens‘ lässt sich nicht immer und überall durch Pläne lösen … es ‚pocht in uns‘ …

Kommentare

[0] Es gibt zwei andere Blogs, die eng mit diesem Blog verbunden sind, ohne dass man den Zusammenhang ‚auf den ersten Blick‘ erkennen wird: ‚Citizen Science 2.0/ Bürgerwissenschaft 2.0‘ und ‚Integrating Engineering and the Human Factor‘. Jeder der drei Blogs beschreibt — aus einer unterschiedlichen Perspektive — ein und dieselbe Sache: uns Menschen, wir auf unserem Planeten, und unsere täglichen Versuche, damit klar zu kommen. …. und natürlich gibt es unendlich mehr, was nicht in diesen drei Blogs steht … das tröstet: unser Denken ist nicht alles, auch wenn wir das gerne glauben.

[1] Der große Philosoph Immanuel Kant würde sein berühmtes Werk ‚Kritik der reinen Vernunft‘ (Erste Auflage 1781) heute im Kontext der modernen Philosophie (mit den empirischen Wissenschaften als Teildisziplinen) vermutlich komplett umschreiben. Das Transzendentale wäre (was Konrad Lorenz in einem Beitrag über Kant 1941 schon getan hat [2]) dann verankert in der Struktur unseres Körpers mit dem Gehirn, und die Arbeitsweise des Körpers mit seinem Gehirn legt fest, ob und wie wir denken, wahrnehmen, erinnern usw.

[2] K. Lorenz: Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie. In: Blätter für Deutsche Philosophie. Band 15, 1941, S. 94–125

DER AUTOR

Einen Überblick über alle Beiträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.

Jetzt doch ein Buch?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 27.November 2022 – 27.November 2022, 15:52h
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (cagent@cognitiveagent.org)

Kontext

Hier nur der allgemeine Blog-Kontext

Jetzt doch ein Buch?

Alle, die in den vergangenen Jahren immer wieder Artikel in diesem Blog gelesen haben, werden bemerkt haben, dass es immer wieder den Versuch gab, die Vielfalt der Ideen in einem Buch zu einer besser fassbaren ‚Einheit‘ zusammen zu fassen. Doch alle diese ‚Versuche‘ scheiterten daran, dass der Autor irgendwann das Gefühl hatte, dass das Konzept einfach noch nicht ’stimmig‘ ist: angesichts der Unzahl an Büchern in dieser Welt macht es keinen Sinn, einfach nur ein weiteres Buch zu schreiben, damit der Autor das Gefühl hat, „jetzt habe ich auch ein Buch geschrieben“.

Dazu kommt der Umstand, dass der Autor in zwei anderen Blogs auch eher grundsätzlichen Fragen nachging, wenngleich mit leicht veränderter Perspektive.

Prozess als Realität

Irgendwann gab es dann die ‚Kapitulation‘ des Autors und er beerdigte die Vision eines abschließenden einen Buches ganz offiziell, indem er das ‚Existieren in einem Prozess‘ mit offenem Ende zum ‚eigentlichen Zustand‘ erklärte [1]

Diese klare Entscheidung wirkte irgendwie ‚befreiend‘: wenn schon die Erkenntnissituation des einzelnen keine abschließende, für alles gültige Erkenntnis zulässt, dann eben mit dem ‚Aufenthalt in einem Prozess‘ so ehrlich und transparent wie möglich umgehen.

Die Realität des ’normalen Bürgers‘

Es dauerte von da ab nur wenige Monate, bis sich die Lage grundsätzlich änderte. Nicht so, dass das Prozesshafte des Daseins und des Erkennens sich änderte, aber aus dem Prozess heraus entstand in einem anderen Blog die Notwendigkeit, anderen ein neues theoretisches und praktisches Konzept so zu erklären, dass ‚die anderen‘ in die Lage versetzt werden, ihren ‚eigenen Prozess‘ im Lichte eines bestimmten theoretischen und praktischen Konzepts ’selbst in die Hand‘ nehmen können: die Ermöglichung eines Denkens und Handelns bei anderen; nicht unbestimmt sondern ganz konkret.

Was war geschehen?

Parallelität von Perspektiven

Die Überlegungen in diesem Philosophie-Blog kreisten im Wesentlichen immer um die Frage nach den Grundlagen des Verstehens, der Natur des Wissens, Sprache, Lernen, um einen angemessenen Begriff von Wissenschaft. Parallel hat der gleiche Autor unter uffmm.org versucht, diese Fragen aus der Perspektive seiner Lehrtätigkeit in Informatik zu reflektieren: hier die konkreten Tatbestände der Informatik, dort das philosophische Denken, das versucht, sich daran abzuarbeiten. Erste Erfolge bestanden darin, dass sich die verschiedenen Themen (Disziplinen innerhalb der Informatik) mit wissenschaftsphilosophischen Methoden ‚besser‘ aufarbeiten und darstellen ließen als ohne. Speziell das Fach ‚Mensch-Maschine Interaktion‘ bot die Gelegenheit, das ‚Ineinander‘ von Mensch und Maschine sehr detailliert und umfassend zu beleuchten und in eine komplette Theorie eines integrierten Prozesses zu überführen.[2] Im Jahr 2018 schien es so, als ob die Ingenieure die Theorie bieten, die die Philosophen seit langem suchen, aber bislang noch nicht gefunden haben.

Wiedereinsetzung der normalen Sprache

Als der Autor dann versuchte, diesen Theorieansatz auf Prozesse jenseits des Engineering anzuwenden, z.B. auf Prozesse kommunaler Planung in Kommunen, Kreisen usw., in Interaktion mit beliebigen Bürgern, zeigte sich eine bis dato wenig ernst genommene ‚Schwachstelle‘: die Sprache. Informatiker und Ingenieure sind gewohnt mit Mathematik zu arbeiten, mit Programmiersprachen, diese wirksam mittels Computern. Bis heute gehören diese technisch-bedingten Sprache nicht zum allgemeinen Weltverständnis eines Bürgers. Der bisherige Theorieansatz sah ’normale Sprache‘ nicht wirklich vor. Oder, genauer gesagt: der neue Theorieansatz im Bereich des Engineering arbeitete mit normaler Sprache in der Kommunikation, setzte aber dabei voraus, dass sich dies alles — bei Bedarf — dann doch ‚leicht‘ in formale Sprachen übersetzen lässt, damit eine Computerunterstützung möglich ist. Dazu braucht ein normaler Bürger dann aber wieder ‚Spezialisten‘; er selbst konnte es nicht richten …

Die Hinwendung zum ’normalen Bürger‘, die sehr ernst gemeint war, konnte dieses ‚Restproblem‘ aber nicht akzeptieren. Diese kompromisslose Anforderungen an das neue Paradigma — normale Sprache, keine Spezialsprache! — führte dann doch plötzlich zu einem radikalen Paradigmenwechsel. Dieser Paradigmenwechsel wurde möglich, da jetzt Dinge in den Vordergrund rückten, die seit der Wende vom 20. zum 21.Jahrhundert als ‚erledigt‘ galten. Die Abtrennung des ‚Formalen‘ von der Welt der ‚Bedeutung‘ war mit dem Aufkommen der modernen formalen Logik und der weiteren Formalisierung der Mathematik zum neuen leitenden Paradigma geworden und begründete damit die ‚weltlose Welt‘ des Formalen und der Computer. Neben den unschätzbaren Vorteilen einer Formalisierung und einer davon geleiteten Computerisierung verabschiedete sich diese formale Welt vom Menschen in einer bis dahin nie gekannten Radikalität. Die Philosophie schaute weitgehend tatenlos zu, wurde sprachlos, und die sogenannten Geisteswissenschaften mit ihr.

In vielen aufeinander folgenden Diskussionspapieren (siehe [3]) konnte gezeigt werden, dass man den Folgerungsbegriff der modernen formalen Logik direkt auf solche Texte übertragen kann, die nur mit ’normaler Sprache‘ arbeiten. Und nicht nur das, es konnte auch gezeigt werden, dass die Kernstruktur von modernen empirischen Theorie damit ebenfalls ohne Verlust auf Texte mit normaler Sprache übertragen werden kann.

So schön diese Gedanken klingen, und so mächtig die Konzepte sind, die sich dahinter verbergen, in ihrer Mischung aus ’neu‘ und ‚komplex‘ besteht kaum eine Chance, dass jemand außerhalb dieses Diskurses dies versteht. Verschiedene Experimente mit unterschiedlichen Gruppen von Bürgern und Studierenden bestätigten dies.

Ein Buch muss her …

An dieser Stelle erschien mit einem Mal die Notwendigkeit eines Buches unausweichlich: alle wichtigen Erklärungen an einem Ort, dazu direkt die passenden Anwendungsbeispiele; das Ganze als ‚philosophischer Essay‘ … der Entschluss zu solch einem Buch (vielleicht sogar dann mehrere Bücher) war kaum gefasst, da kam unerwartet die Anfrage eines internationalen Verlages wegen gemeinsamer Bücher. … Man wird sehen.

Hier geht es zum START 🙂

Der experimentelle Text zum Buch entsteht zunächst mal im oksimo.org Blog, und zwar HIER. Alles weitere basierend darauf.

Kommentar

[1] Am intensivsten vielleicht im englischsprachigen Blog formuliert: HIER.

[2] Ein Zeugnis dieser Überlegungen findet sich HIER.

[3] Einige der Diskussionspapiere, in denen sich der Übergang von Formal-Sprache zu Normal-Sprache für folgerungsbasiertes Denken abzeichnete finden sich HIER.

DER AUTOR

Einen Überblick über alle Beiträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.

Gibt es noch einen zweiten und dritten Elefanten?

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 29.September 2022 – 29. September 2022
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (cagent@cognitiveagent.org)

Kontext

Diesem Text ging eine philosophische Reflexion zum Buch von Glaubrecht „Ende der Evolution. …“ voraus, insbesondere Teil 2 der Reflexion.[1]

Der erste Elefant

Dabei wurde sichtbar, dass sich all die großen globalen — und auch vielfach dann regionalen — Probleme auf einen ‚Elefanten im Raum‘ zurückführen lassen: auf die Menschheit selbst. Man hat den Eindruck, dass die Menschheit — zumindest teilweise — zu begreifen beginnt, dass es überhaupt globale Probleme gibt, auch, dass wir als Menschen — so richtig klar ist es den meisten dann doch nicht — irgendwie dafür verantwortlich sind, aber über ‚Wunschvorstellungen‘ hinaus, wie es dann doch vielleicht anders sein sollte, kommen wir kaum hinaus. Die tausenden Seiten der internationalen Klimaforschungs Experten kann ein Nicht-Experte ernsthafterweise nicht wirklich verstehen, nur glauben. Und dann ist die Veränderung des Klimas ja nicht das wirkliche Problem (wenngleich unangenehm in seinen zunehmend verheerenden Auswirkungen), sondern eine Folge von anderen Faktoren, die — so deutet es sich an — wir als Menschen weltweit beeinflusst haben und weiter beeinflussen. Aber wer kennt sich tatsächlich aus mit der Bevölkerungsentwicklung global und regional? Wieso und wie beeinflussen die Menschen ein katastrophales Artensterben weltweit? Was heißt dies genau? Wenn tatsächlich — wie behauptet wird — Gase wie z.B. CO2 die Atmosphäre so beeinflussen, dass sie zu einer deutlichen Erwärmung der Erde beitragen, was vielfältige Veränderungen im Gesamtklima und damit auf der Erdoberfläche, in den Ozeanen, in den Wetterphänomenen hat, was bedeutet dies dann für die Biosphäre als Ganze mit der Teilpopulation des homo sapiens? Energie verbrauchen ohne klimaschädliche Gase? Wie? Was ist überhaupt ‚Energie‘? Wie viel brauchen wir davon? Wo nehmen wir sie her? Wie können alle daran teilnehmen? Und was heißt ‚alle‘? Wer sind die ‚alle‘. Wie verträgt sich die tief sitzende ‚Angst vor Fremden und Neuem‘ in den Menschen mit der Vorstellung, dass ‚alle‘ teilhaben sollen? Wer redet hier mit wem? Wie organisieren sich die Menschen regional, national, global, um zu gemeinsamen Sichten und Vereinbarungen zu kommen? Braucht es dafür nicht ein abgestimmtes, koordiniertes Verhalten von allen? Wo kommen die ‚Leitbilder in den Köpfen‘ der Menschen her, die solch ein koordiniertes gemeinsames Handeln ermöglichen? Nur ein kurzer Seitenblick auf die bekannten ‚Weltbilder‘ in den Köpfen der Menschen offenbart, dass es noch immer in allen Nationen stark abweichende Anschauungen darüber gibt, was wichtig ist, wer ein ‚Freund‘ ist, wer ein ‚Feind‘ ist, wie eine ’nationale Zukunft‘ aussehen soll. Menschen werden verfolgt, unterdrückt, gefoltert, getötet; Kriege sind nicht ausgestorben sondern werden mit Begründungen geführt, die bizarr erscheinen. Es gibt Ungleichheiten, die krasser kaum sein könnten.

Der zweite Elefant …

Diese Skizze von Problemstellungen, denen wir als Menschen ausgesetzt sind, ließe sich nahezu beliebig erweitern. Sie deutet aber auf einen zweiten Elefanten im Raum hin: der erste Elefant ist die Menschheit selbst; der zweite Elefant ist das Medium der sprachlichen Kommunikation, die alle einzelnen Gehirne zu einer gemeinsamen Sicht der Welt und — darauf aufbauend — zu einem gemeinsamen koordinierten Verhalten führen kann, aber nicht muss! Wir empfinden es toll, wenn wir uns mit anderen Menschen ‚verstehen‘; es bereitet uns aber schlechte Gefühle vielfältigster Art, wenn wir den Eindruck gewinnen, dass wir uns ’nicht verstehen‘. Ein Nicht-Verstehen, was stattfindet, was andauert, was den Eindruck erweckt, dass es ‚unlösbar‘ sei, kann — und ist es auch meistens — der Ausgangspunkt für negative Gefühle sein, für aggressives Verhalten, für ‚Feindbilder im Kopf‘ sein. Es kann Menschen temporär oder dauerhaft ‚entzweien‘. Statt sich gegenseitig zu helfen, sich aneinander zu freuen, beginnt man sich das Leben wechselseitig schwer zu machen, leidet aneinander, beginnt sich womöglich konkret zu verfolgen und zu bekriegen.

Gibt es noch einen dritten Elefanten?

Wenn man ansatzweise zu begreifen beginnt, was ‚Kommunikation‘ ist, sprachliche Kommunikation, wie sie funktioniert, dann kann eine Ahnung von einem ‚dritten Elefanten‘ entstehen. Jeder hat dies in seinem Alltag schon erlebt und erlebt es vermutlich täglich immer wieder neu; obwohl es Menschen gibt, die man länger kennt, mit denen man sich ‚meistens‘ zu verstehen scheint, mit denen man schon vieles gemeinsam erlebt hat, kann es Situationen geben, in denen plötzlich ein ‚Widerspruch‘ in der Sache entsteht, scheinbar ‚aus dem Nichts‘: A will das eine, B will etwas anderes. Manchmal findet man zu einer ‚Einigung‘, manchmal nicht. Ein festgestellter Unterschied muss kein Problem sein, aber er kann. Und wenn festgestellte Unterschiede sich nicht leicht wieder auflösen lassen — z.B. durch einfaches Akzeptieren des Unterschieds, durch ein Reden miteinander, welches ein neues Verständnis der Sache ermöglicht –, dann kann dieser eine Unterschied wechselseitig zu Anfeindungen, Trennungen, Gewalttätigkeiten führen. Und damit entsteht ein zwischenmenschliches Problem, das Ursache für eine ganze Kette von Problemen ist, die — in der Geschichte — sogar zu Kriegen geführt haben, zu sinnlosen Kriegen, nur weil zwei Menschen plötzlich ‚den Eindruck‘, ‚das Gefühl‘ hatten, es gäbe einen ‚Gegensatz zu einem anderen Menschen‘.

Dieser ‚dritte Elefant‘ residiert ‚im Menschen selbst‘, in seinem ‚Inneren‘, das — was wir heute wissen können — weitgehend ‚unbewusst‘ ist. Das ‚Innere des Menschen‘ — seine Organe mit den Stoffwechselprozessen, sein Gehirn mit dem Nervensystem — arbeitet 24 Stunden durchgehend, ohne dass wir in dem, was wir unser ‚Bewusstsein‘ nennen, davon irgendetwas mitbekommen. Nur ab und zu, ganz punktuell, lässt das Gehirn uns für einen kurzen Moment in unser eigenes Inneres schauen. Wir nehmen etwas wahr und es tauchen dann plötzlich — wie aus dem Nichts — ‚Erinnerungen‘ auf, ‚Assoziationen‘, was uns das Gefühl vermittelt, dass wir das Wahrgenommene ‚kennen‘. Wir schlafen mit einer Problemstellung im Kopf ein und morgens, beim Aufwachen, sehen wir ganz klar eine mögliche Lösung. Wir versuchen als Kinder Schwimmen und Fahrradfahren zu lernen. Am Anfang funktioniert es überhaupt nicht. Aber, wenn wir nicht sofort aufgeben, dann stellt sich nach einiger Zeit die Erfahrung ein, dass wir ‚es können‘. Warum genau wissen wir nicht; wir können es einfach. Bevor ein Mensch zum ersten Mal so richtig ‚verknallt‘ war in einen anderen Menschen, wusste er nicht, dass er solcher Emotionen fähig war, aber dann weiß er/sie/x es. Dann ist klar, dass unsere ‚Inneres‘ so reagieren kann; das gleiche gilt für viele andere Emotionen: Trauer, Wut, Schwermut, Beschwingt sein, sich ‚toll‘ fühlen, usw. Unser Inneres ist — poetisch formuliert — wie ein ‚tiefer Ozean‘, den wir nie ganz ‚durchschauen‘, den wir nie ganz ‚beherrschen‘ können, der umgekehrt aber, uns sehr wohl beherrschen kann und uns täglich beweist, dass wir in unserem täglichen Verhalten fast vollständig von diesem ‚tiefen Ozean in uns‘ dirigiert werden. Nicht allzu viele Menschen sind sich dessen bewusst; wenige nur können mit diesem ‚inneren Ozean‘ bewusst umgehen. Psychologie und Gehirnwissenschaften haben in den letzten 100 bis 150 Jahren viele wichtige Erkenntnisse zu Teilaspekten dieses inneren Ozeans zu Tage gefördert, aber eine voll befriedigende ‚Theorie‘ dazu gibt es noch nicht. Wir setzen hunderte von Milliarden Euro für alle möglichen Forschungsprojekte ein, aber die Erkundung unseres eigenen inneren Ozeans, der uns voll im Griff hat, steht selten auf der Liste. Wir reden von ‚psychischen Erkrankungen‘, wir konstatieren ein starkes Anwachsen von ‚psychischen Störungen‘, Menschen nehmen Unmengen von ‚Medikamenten‘, um sich von empfundenen ‚Störungen ihre inneren Ozeans‘ zu befreien, aber ‚Verstehen‘ tun wir diesen ‚inneren Ozean‘ noch nicht wirklich. Wenn aber der innere Ozean sowohl unser individuelles Leben wie auch unser Miteinander im Alltag, in der Gesellschaft, global so eindringlich stören kann, bis dahin dass wir uns selbst und unseren Planeten gleich mit zerstören, dann kann man sich fragen, warum wir uns nicht endlich mal diesem dritten Elefanten stellen?

Jemand, der eine Reise machen will, sagen wir 1000 km, und dessen Fahrzeug (Bahn, Auto, Motorrad, Fahrrad, …) kaputte Räder hat, wird bekanntlich nicht weit kommen.

KOMMENTARE

[1] URL: https://www.cognitiveagent.org/2022/09/22/das-ende-der-evolution-von-matthias-glaubrecht2021-2019-lesenotizen-teil-2/

Ein Überblick über alle Beiträge des Autors nach Titeln findet sich HIER.

Das Ende der Evolution, von Matthias Glaubrecht,2021 (2019). Lesenotizen – Teil 2

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 17.September 2022 – 29. September 2022, 07:16h
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (cagent@cognitiveagent.org)

Kontext

Diesem Text geht ein erster Teil voraus.[1]

Die Zukunft hat viele Gesichter

Nach dem spektakulären Foto 1968 während der Apollo-8 Mission von der Erde als ‚blue marble‘ (auch als ‚blue button‘ bezeichnet), entstand 1990 ein nicht weniger spektakuläres Foto von der Erde während der Voyager Mission aus einer Entfernung von 6 Milliarden km genannt ‚pale blue button‘. 30 Jahre später wurden die Bilddaten neu überarbeitet: https://www.jpl.nasa.gov/images/pia23645-pale-blue-dot-revisited . Das Bild hier im Blog-Text zeigt einen Ausschnitt davon.

Nach mehr als 800 Seiten prall gefüllt mit Gedanken, Informationen, Fakten, eingebettet in Analysen komplexer Prozesse, unternimmt Glaubrecht das Wagnis, einen Blick in die Zukunft zu wagen. ‚Wagnis‘ deswegen, weil solch ein ‚Blick in die Zukunft‘ nach Glaubrechts eigener Überzeugung „nicht die Sache der Wissenschaft“ sei.(S.864 unten).

Die hier möglichen und notwendigen wissenschaftsphilosophischen Fragen sollen aber für einen Moment hintenan gestellt werden. Zunächst soll geschildert werden, welches Bild einer möglichen Lösung angesichts des nahenden Unheils Glaubrecht ab S.881 skizziert.

Umrisse einer möglichen Lösung für 2062

In seiner Lösungsvision kommen viele der großen Themen vor, die er zuvor im Zusammenhang des nahenden Unheils thematisiert hat: „Biodiversität“ (881), „Lebensstil“ (883), „Überbevölkerung“ (884), „Bildung“, speziell für Frauen (885), das „Knappheits-Narrativ“ (885), ökologische Landbewirtschaftung und „tropische Wälder“ (vgl. 886), nochmals „Biodiversität“ (887), große zusammenhängende Schutzgebiete, „working lands“ sowie neue Rechte für die Natur (vgl. 888-891), „Konsumverhalten“ und „neues Wirtschaften“ (892), „Bildungsreform“, „ökosystemares Denken“ (893), „Ungleichheit weltweit“ und neue „Definition von Wachstum“ (894).

Pale Blue Planet

Auf den SS. 900 – 907 hebt Glaubrecht dann nochmals hervor, dass biologische Evolution kein eindeutig prognostizierbarer Vorgang ist. Dass sich auf der Erde biologisches Leben entwickelt hat heißt keinesfalls, dass dies sich auf einem anderen Planeten mit ähnlichen Voraussetzungen einfach wiederholen würde. Weiterhin gibt er zu bedenken, dass die Suche nach einem alternativen Planeten zur Erde bislang kaum fassbare Ergebnisse gebracht hat. Von den 0.5% möglichen Kandidaten mit habitablen Zonen von 3640 bekannten Exoplaneten im April 2017 zeigte bislang keiner hinreichende Eigenschaften für biologisches Leben. Von diesen ’nicht-wirklich Kandidaten‘ befindet sich der nächst gelegene Kandidat 4 Lichtjahre entfernt. Mit heutiger Technologie bräuchte man nach Schätzungen zwischen 6.000 bis 30.000 Jahren Reisezeit.

Vor diesem Hintergrund wirkt insbesondere die Suche nach einer „anderen Intelligenz“ fast bizarr: ist schon die biologische Evolution selbst ungewöhnlich, so deutet die ‚Entwicklungszeit‘ des Menschen mit ca. 3.5 Milliarden Jahren an, dass es extrem unwahrscheinlich ist, dass es irgendwo anders etwas „wirklich Vergleichbares … zum Menschen“ geben kann.(vgl. S.905)

Visionen und ihre Bedingungen

Dass Glaubrecht nach seinen umfassenden und sehr beeindruckenden Analysen Zukunftsszenarien schildern kann, darunter auch eine ‚positive‘ Variante für das Jahr 2062, zeigt zunächst einmal, dass es überhaupt geht. Das ‚Geschichten erzählen‘ ist eine Eigenschaft des Menschen, die sich mindestens bis in die Vorzeit der Erfindung von Schriften zurück verfolgen lässt. Und wenn wir unseren Alltag betrachten, dann ist dieser randvoll mit ‚Geschichten‘ über mögliche zukünftige Szenarien (Zeitungen, Fernsehen, Videos, in privaten Dialogen,Bücher, …). Zugleich haben wir gelernt, dass es ‚falsche‘ und ‚wahre‘ Geschichten geben kann. ‚Wahre‘ Geschichten über eine mögliche Zukunft ‚bewahrheiten‘ sich, indem die Zustände, von denen man ‚zuvor‘ gesprochen hatte, ‚tatsächlich‘ eintreten. Mit der Feststellung, dass eine Geschichten über eine mögliche Zukunft ‚falsch‘ sei, ist es schwieriger. Nur wenn man einen klaren ‚zukünftigen Zeitpunkt‘ angeben kann, dann kann man entscheiden, dass z.B. das Flugzeug oder der Zug zum prognostizierten Zeitpunkt ’nicht angekommen‘ ist.

Über Zukunft reden

Schon die Alltagsbeispiele zeigen, dass das Reden von einem ‚möglichen Zustand in der Zukunft‘ verschiedene Voraussetzungen erfüllen muss, damit dieses Sprachspiel funktioniert:

  1. Fähigkeit, zwischen einer ‚erinnerbaren Vergangenheit‘, einem ‚aktuellen Gedanken über einen möglichen zukünftigen Zustand‘, und einer ’neuen Gegenwart‘ unterscheiden zu können, so, dass entschieden werden kann, dass eine ’neue Gegenwart‘ mit dem zuvor gefassten ‚Gedanken über einen möglichen zukünftigen Zustand‘ hinreichend viele ‚Ähnlichkeiten‘ aufweist.
  2. Verschiedene Akteure müssen sowohl über Kenntnisse der ‚Ausdrücke‘ einer ‚gleichen Sprache‘ verfügen, und zugleich müssen sie über ‚hinreichend ähnliche Bedeutungen‘ in ihren Gehirnen verfügen, die sie ‚auf hinreichend ähnliche Weise‘ mit den benutzten Ausdrücken ‚verbinden‘.
  3. Für den Bereich der ‚bekannten Bedeutungen‘ im Gehirn muss die Fähigkeit verfügbar sein, diese in ’neuen Anordnungen‘ so zu denken, dass diese neuen Anordnungen als Bedeutungen für ein Reden über ‚mögliche neue Zustände verfügbar‘ sind. Menschen, die so etwas können, nennt man ‚kreativ‘, ‚fantasievoll‘, ‚innovativ‘.

Dieses sind allgemeine und für alle Menschen notwendige Voraussetzungen. Die Kulturgeschichte der Menschheit zeigt aber eindrücklich, dass das ‚Erzählen von möglicher Zukunft‘ bis zum Beginn der modernen empirischen Wissenschaften sich jede Freiheit genommen hate, die sprachlich möglich ist. Dies machte den Umgang mit ‚wahren Prognosen‘ zu einer Art Glücksspiel. Eine Situation, die speziell für jene , die ‚mehr Macht haben‘ sehr günstig war: sie konnten die ‚vage Zukunft‘ sehr freizügig immer zu ihren Gunsten auslegen; keiner konnte klar widersprechen.

Empirische Wissenschaften – Bessere Prognosen

Mit dem Aufkommen der neueren empirischen Wissenschaften (beginnend ab ca. dem 15.Jahrhundert) wendete sich das Blatt ein wenig, da das ‚Reden über einen möglichen zukünftigen Zustand‘ jetzt stärker ’normiert‘ wurde. Von heute aus betrachtet mag diese Normierung einigen (vielen?) vielleicht ‚zu eng‘ erscheinen, aber als ‚Start‘ in ein Phase von ‚Prognosen mit größerer Zuverlässigkeit‘ war diese Normierung faktisch ein großer kultureller Fortschritt. Diese neue ‚Normierung‘ umfasste folgende Elemente:

  1. Als ‚akzeptierte Fakten‘ wurden nur solche ’sprachlichen Ausdrücke‘ anerkannt, die sich mittels eines von jedem ‚wiederholbaren Experiments‘ (klar definierte Handlungsfolgen) auf ‚für alle Beteiligte beobachtbare Phänomene‘ beziehen lassen (z.B. die ‚Länge eines Gegenstandes mit einem vereinbarten Längenmaß‘ feststellen; das ‚Gewicht eines Gegenstandes mit einem vereinbarten Gewichtskörper‘ feststellen; usw.). Ausdrücke, die auf diese Weise gemeinsam benutzt werden, heißen gewöhnlich ‚Messwerte‘, die in ‚Tatsachenbehauptungen‘ eingebettet werden (z.B. ‚Die Tischkante dort ist 2 m lang‘, ‚Gestern bei höchstem Sonnenstand wog dieser Beutel 1.5 kg‘, usw.).
  2. Tatsachenbehauptungen waren von da ab leichter ‚klassifizierbar‘ im Sinne von ‚zutreffend (wahr)‘ oder ’nicht zutreffend (falsch)‘ als ohne diese Normierungen. Mit der Einführung solcher ’normierter Beobachtungen‘ wurden implizit auch ‚Zahlen‘ eingeführt, was zu dem führte, was man heute auch ‚Quantifizieren‘ nennt. Statt alltagssprachlicher Ausdrücke wie ‚lang‘, ‚groß‘, ’schwer‘ usw. zu benutzen, deren Bedeutung im Alltag immer nur ‚fallweise kontextualisiert‘ wird (eigentlich die große Stärke der normalen Sprache), wurde mit der Quantifizierung mittels Zahlen und vereinbarten ‚Standard Größen‘ (heute oft ‚Einheiten‘ genannt) die gewohnte Vagheit der Normalsprache durch eine neue, ungewohnte Konkretheit ersetzt. Die Ersetzung von normalsprachlicher Flexibilität durch vereinbarte Konkretheit erlaubte dann — wie sich immer mehr zeigte — eine ganz neue Qualität in der Beschreibung von ‚messbaren Phänomenen‘ und deren ‚Verhalten in der Zeit‘.[4]
  3. Das Werk ‚Philosophiae Naturalis Principia Mathematica‘ (erstmals 1689, Latein) von Isaac Newton gilt als erste große Demonstration der Leistungsfähigkeit dieses normierten Vorgehens (nach berühmten Vorläufern wie z.B.. Galilei und Kepler). Dazu kommt, dass die quantifizierten Tatsachenbehauptungen in ‚Zusammenhänge‘ eingebracht werden, in denen in Form von ‚Lehrsätzen‘ (oft auch Axiome genannt)‘ so etwas wie ‚Wirkzusammenhänge‘ beschrieben werden, die quantifizierte Ausdrücke benutzen.
  4. Im Zusammenwirken von quantifizierten Beobachtungen mit quantifizierten Wirkzusammenhängen lassen sich dann vergleichsweise genaue ‚Folgerungen‘ ‚ableiten‘, deren ‚Zutreffen‘ sich in der beobachtbaren Welt als ‚quantifizierte Prognosen‘ besser überprüfen lässt als ohne solche Quantifizierungen.
  5. Ein solches quantifizierendes Vorgehen setzt voraus, dass man die Ausdrücke der normalen Sprache um Ausdrücke einer ‚formalen Sprache‘ ‚erweitert‘. Im Fall von Newton waren diese formalen Ausdrücke jene der damaligen Mathematik.
  6. Interessant ist, dass Newton noch nicht über einen ‚formalen Folgerungsbegriff‘ verfügte, wie er dann Ende des 19.Jahrhunderts, Anfang des 20.Jahrhunderts durch die moderne Logik eingeführt wurde, einhergehend mit einer weiteren Formalisierung der Mathematik durch explizite Einbeziehung eines meta-mathematischen Standpunkts.

Der ‚Elefant im Raum‘

Es gibt Gesprächszusammenhänge, von denen sagt man, dass vom ‚Elefant im Raum‘ nicht gesprochen wird; also: es gibt ein Problem, das ist relevant, aber keiner spricht es aus.

Wenn man den Text zur positiven Vision zum Jahr 2062 liest, kann man solch einen ‚Elefanten im Raum‘ bemerken.

Ausgangslage im Alltag

Man muss sich dazu das Folgende vergegenwärtigen: Ausgangslage ist die Welt im Jahr 2021, in der die Menschheit global wirksam Verhaltensweisen zeigt, die u.a. zur Zerstörung der Biodiversität in einem Ausmaß führen, welche u.a. die Atmosphäre so verändern, dass das Klima schrittweise das bisher bekannte Leben dramatisch bedroht. Die u.a. CO2-Abhängigkeit der Klimaveränderung führt zu notwendigen Kurskorrekturen in der Art der Energiegewinnung, was wiederum phasenweise zu einem Energieproblem führt; gleichzeitig gibt es ein Wasserproblem, ein Ernährungsproblem, ein Migrationsproblem, ein …

Das Bündel dieser Probleme und seiner globalen Auswirkungen könnte größer kaum sein.

Von ‚außen‘ betrachtet — eine fiktive Sicht, die sich natürlich vom allgemein herrschenden ‚Zeitgeist‘ nicht wirklich abkoppeln kann — gehen alle diese wahrnehmbaren ‚Wirkungen‘ zurück auf ‚Wirkzusammenhänge‘, die durch das ‚Handeln von Menschen‘ so beeinflusst wurden, dass es genau zu diesen aktuellen globalen Ereignissen gekommen ist.

Das ‚Handeln‘ von Menschen wird aber — das können wir im Jahr 2022 wissen — von ‚inneren Zuständen‘ der handelnden Menschen geleitet, von ihren Bedürfnissen, Emotionen, und von den ‚Bildern der Welt‘, die zum Zeitpunkt des Handelns in ihren Köpfen vorhanden und wirksam sind.

Die ‚Bilder von der Welt‘ — teilweise bewusst, weitgehend unbewusst — repräsentieren das ‚Wissen‘ und die ‚Erfahrungen‘ der Handelnden. Dieses Wissen projiziert ‚Vorstellungen‘ in die umgebende Welt (die Menschen sind Teil dieser Welt!), die ‚zutreffend sein können, dieses aber zumeist nicht sind. Wenn sich ein Mensch entscheidet, seinen Vorstellungen zu folgen, dann hätten wir den Fall eines ‚wissensbasierten (rationalen) Handelns‘, das so gut ist, wie das Wissen zutreffend ist. Tatsächlich aber entscheidet sich jeder Mensch fast ausschließlich — meist unbewusst — nach seinem ‚Gefühl‘! Im Jahr 2022 gehört es zum Alltag, dass Menschen — der Bildungsgrad ist egal (!) — in einer Situation völlig ‚konträre Meinungen‘ haben können trotz gleicher Informationsmöglichkeiten. Unabhängig vom ‚Wissen‘ akzeptiert der eine Mensch die Informationsquellen A und lehnt die Informationsquellen B ab als ‚falsch‘; der andere Mensch macht es genau umgekehrt. Ferner gilt in sehr vielen (allen?) Entscheidungssituationen, dass die Auswahl der nachfolgenden Handlungen nicht von den ‚wissbaren Optionen‘ abhängt, sondern von der emotionalen Ausgangslage der beteiligten Personen, die sehr oft (meistens?) entweder bewusst nicht kommuniziert werden oder aber — da weitgehend unbewusst — nicht explizit kommuniziert werden können.

Dazu kommt, dass globale Wirkungen nur durch ein ‚globales Handeln‘ erreicht werden können, das entsprechend ‚koordiniert‘ sein muss zwischen allen Beteiligten. Koordinierung setzt ‚Kommunikation‘ voraus, und Kommunikation funktioniert nur, wenn die ‚kommunizierten Inhalte (= Wissen)‘ sowohl hinreichend ‚ähnlich‘ sind und zugleich ‚zutreffend‘. Die Wirklichkeit des Jahres 2021 (und nachfolgend) demonstriert allerdings, dass schon alltäglich zwei Menschen Probleme haben können, zu einer ‚gemeinsamen Sicht‘ zu kommen, erst recht dann, wenn ihre ‚individuellen Interessen‘ auseinander laufen. Was nützt es dem einen, zu wissen, dass es in den Alpen wunderbare Wanderwege gibt, wenn der andere absolut nicht wandern will? Was nützt es dem einen, wenn er bauen will und die Gemeinde einfach kein neues Bauland ausweist? Was nützt es betroffenen Bürgern, wenn die Bürgermeisterin partout ein neues Unternehmen ansiedeln will, weil es kurzfristig Geldeinnahmen gibt, und sie die nachfolgenden Probleme gerne übersieht, weil zuvor ihre Amtszeit endet? …

Kurzum, es ist nicht das ‚Wissen alleine‘, was ein bestimmtes zukünftiges Verhalten ermöglicht (wobei Wissen tendenziell sowieso ’nie ganz richtig ist‘), sondern auch — und vor allem — sind es die aktiven Emotionen in den Beteiligten.

Was heißt dies für die positive Zukunftsversion für 2062 im Text von Glaubrecht?

Erste Umrisse des Elefanten

Auf den Seiten 881 – 908 finden wir Formulierungen wie: „es kam zu einem tiefgehenden Bewusstseinswandel“ (881), „Immer mehr Menschen wurde klar“ (882), „Klar war aber auch, dass“, „guter Wille allein reichte da nicht… auch zivilgesellschaftliches Handeln musste erst intensiv erarbeitet werden„, „weil die Industrieländern … zu Vorbildern wurden“ (883), „Erst als die Überbevölkerung endlich zum wichtigsten Thema gemacht wurde, erfolgte der Durchbruch“ (884), „dass der Mensch in der ganz großen Gruppe ein gemeinsames Ziel erreichen kann“ (906), „Das Artensterben bietet allenfalls ein diffuses Ziel“ (908)

Diese ‚Fragmente‘ der Lösungsvision deuten an, dass

  1. ‚Bewusstseinswandel‘ und ‚Klarheit im Verstehen‘ wichtige Komponenten zu sein scheinen
  2. ‚Individuelles Wollen‘ alleine nicht ausreicht, um eine konstruktive globale Lösung zu ermöglichen
  3. ‚Überindividuelles (= zivilgesellschaftliches) Verhalten‘ ist nicht automatisch gegeben, sondern muss ‚gemeinsam erarbeitet werden‘
  4. Es braucht ‚globale Vorbilder‘ zur Orientierung (ob dies wirklich die Industrieländer sein können?)
  5. Die ‚Größe der Weltbevölkerung‘ ist ein wichtiger Faktor
  6. Der Faktor ‚Artensterben (Abnahme der Biodiversität)‘ ist für die meisten noch sehr ‚diffus‘
  7. Aus der Geschichte ist bekannt, dass Menschen gemeinsam große Dinge erreichen können.

Neben dem Wissen selbst — das ein Thema für sich ist — blitzen hier eine Reihe von ‚Randbedingungen‘ auf, die erfüllt sein müssen, damit es zu einer Lösung kommen kann. Ich formuliere diese wie folgt:

  1. Was immer ein einzelner weiß, fühlt, und will: ohne einen handlungswirksamen Zusammenschluss mit genügend vielen anderen Menschen wird es zu keiner spürbaren Veränderung im Verhalten von Menschen kommen.
  2. Das ‚zusammen mit anderen Handeln‘ muss ‚erlernt‘ und ‚trainiert‘ werden!
  3. Damit die vielen möglichen ‚Gruppen‘ in einer Region (auf der Erde) sich ’synchronisieren‘, braucht es ‚Leitbilder‘, die eine Mehrheit akzeptiert.
  4. Für alle Beteiligten muss erkennbar und erfahrbar sein, wie ein ‚Leitbild des gemeinsamen Handelns‘ sich zu den individuellen Bedürfnissen und Emotionen und Zielen verhält.
  5. Eine Zivilgesellschaft muss sich entscheiden, wo sie sich zwischen den beiden Polen ‚voll autokratisch‘ und ‚voll demokratisch‘ — mit vielen ‚Mischformen‘ — ansiedeln will. Die biologische Evolution deutet an, dass auf ‚lange Sicht‘ eine Kombination aus ‚radikaler Diversität‚ verbunden mit einem klaren ‚Leistungsprinzip‚ über lange Zeitstrecken hin leistungsfähig ist.
  6. Im Fall von menschlichen biologischen Systemen spiel ferner eine radikale ‚Transparenz‘ eine wichtige Rolle: Transparenz ’sich selbst‘ gegenüber wie auch ‚Transparenz untereinander‚: ohne Transparenz ist kein ‚effektives Lernen‘ möglich. Effektives Lernen ist die einzige Möglichkeit, das verfügbare Wissen in den Köpfen an die umgebende Realität (mit dem Menschen als Teil der Umgebung) ansatzweise ‚anzupassen‘.
  7. Damit Wissen wirksam sein kann, muss es eine ‚Form‚ haben, die es für alle Menschen möglich macht, (i) ‚jederzeit und überall‘ dieses Wissen zu nutzen und ‚dazu beitragen zu können‘, sowie (ii) erlaubt, ‚Prognosen‘ zu erstellen, die überprüft werden können.

Die wahre Herausforderung

Der ‚Elefant im Raum‘ scheint also der ‚Mensch selbst‘ zu sein. Die heutige Tendenz, immer und überall von ‚Digitalisierung‘ zu sprechen und in den Begriff ‚Künstliche Intelligenz‘ all jene Lösungen hinein zu projizieren, die wir noch nicht haben, ist ein weiteres Indiz dafür, dass der Mensch das ‚Verhältnis zu sich selbst‘ irgendwie nicht im Griff hat. Die kulturelle Erfahrung der letzten Jahrtausende, in vielen Bereichen heute deutlich ‚aufgehellt‘ durch empirische Wissenschaften, könnte uns entscheidend helfen, unser ‚eigenes Funktionieren‘ besser zu verstehen und unser individuelles wie gesellschaftliches Verhalten entsprechend zu organisieren. Das Problem ist weniger das Wissen — auch wenn dieses noch viel weiter entwickelt werden kann und entwickelt werden muss — als vielmehr unsere Scheu, die Motive von Entscheidungen und Verhalten transparent zu machen. Es reicht nicht, sogenannte ’sachliche Argumente‘ anzuführen (wenngleich sehr wichtig), es müssen zugleich auch die realen Interessen (und Ängste) auf den Tisch. Und wenn diese Interessen divergieren — was normal ist –, dann muss eine Lösung gefunden werden, die Interessen und Weltwissen (zusammen mit den bekannten Prognosen!) zu einem Ausgleich führt, der ein Handeln ermöglicht. Möglicherweise ist dies — auf längere Sicht — nur in eher demokratischen Kontexten möglich und nicht in autokratischen. Dies setzt aber in der Mehrheit der Bevölkerung einen bestimmten ‚Bildungsstand‘ voraus (was nicht nur ‚Wissen‘ meint, sondern z.B. auch die Fähigkeit, in diversen Teams transparent Probleme zu lösen).

Epilog

Vielleicht mag jemand nach der Lektüre dieses Textes den Eindruck haben, das Buch von Glaubrecht (hier wurde ja nur — im Teil 1 — die Einleitung und — im Teil 2 — der Schluss diskutiert!) würde hier kritisiert. Nein, das Buch ist großartig und ein wirkliches Muss. Aber gerade weil es großartig ist, lässt es Randbedingungen erkennen, die mindestens so wichtig sind wie das, was Glaubrecht mit dem Hauptthema ‚abnehmende Biodiversität‘ zur Kenntnis bringt.

Diese Randbedingungen — wir selbst mit unserer Art und Weise mit uns selbst und mit den anderen (und mit der übrigen Welt) umzugehen — sind gerade im Lichte der Biodiversität keine ‚Randbedingungen‘, sondern der entscheidende Faktor, warum es zur dramatischen Abnahme von Biodiversität kommt. Bei allen großartigen Errungenschaften ist der heutige Wissenschaftsbetrieb aktuell dabei, sich selbst zu ’neutralisieren‘, und die gesellschaftlichen Prozesse tendieren dazu, das Misstrauen untereinander immer weiter anzuheizen. Was wir brauchen ist möglicherweise eine wirkliche ‚Kulturrevolution‘, die ihren Kern in einer ‚Bildungsrevolution‘ hat. Fragt sich nur, wie diese beiden Revolutionen in Gang kommen können.[5]

KOMMENTARE

[1] Die Url lautet: https://www.cognitiveagent.org/2022/09/08/das-ende-der-evolution-von-matthias-glaubrecht2021-2019-lesenotizen/

[2] Ankündigung der Biodiversitätskonferenz Dezember 2022: https://www.unep.org/events/conference/un-biodiversity-conference-cop-15

[3] Joachim Radkau, 2017, Geschichte der Zukunft. Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschland von 1945 bis heute, Carl Hanser Verlag , eBook

[4] Es sei angemerkt, dass die Benutzung von ‚Zeitmarken‘ keinesfalls trivial ist. Abgesehen von dem ‚periodischen Ereignis‘, das für die Zeitmessung an einem bestimmten Ort benutzt wird, und dessen ‚Zuverlässigkeit‘ eigens geprüft werden muss, ist es eine wichtige Frage, wie sich zwei Zeitmessungen an verschiedenen Orten auf der Erde zueinander verhalten. Eine weltweit praktikable Lösung mit einer hinreichenden Genauigkeit gibt es erst ca. seit den 1990iger Jahren.

[5] Wenn im Epilog von einer notwendigen ‚Kulturrevolution‘ gesprochen wird, deren Kern eine ‚Bildungsrevolution‘ sein sollte, dann gibt es dazu eine Initiative Citizen Science 2.0, die — zumindest von der Intention her — genau auf solch eine neu sich formierende Zukunft abzielt. URL: https://www.oksimo.org/citizen-science-buergerwissenschaft/

Ein Überblick über alle Beiträge des Autors nach Titeln findet sich HIER.

Das Ende der Evolution, von Matthias Glaubrecht,2021 (2019). Lesenotizen

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 8.September 2022 – 10. September 2022, 10:12h
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

Kontext

In dem Parallelblock uffmm.org entwickelt der Autor das Konzept einer nachhaltigen empirischen Theorie (siehe z.B. „COMMON SCIENCE as Sustainable Applied Empirical Theory, besides ENGINEERING, in a SOCIETY“, ein Beitrag, der hervorgegangen ist aus den Überlegungen zu „From SYSTEMS Engineering to THEORY Engineering“), in der die Menschheit eine zentrale Rolle spielt, nicht losgelöst von der Biosphäre, nicht losgelöst vom gesamten Universum, sondern als eine ‚Handlungsmacht‘, die in diesen empirischen Substrat genannt ‚empirische Wirklichkeit‘ eingebettet ist.

Vor diesem Hintergrund erscheint das Buch von Glaubrecht zum Ende der Evolution auf den ersten Blick wie eine willkommene Ergänzung, eine Geschichte aus der Sicht der biologischen Evolution, wie ein ‚missing link‘, in dem das aktuelle wissenschaftliche Chaos und die zerstörerischen Kräfte einer entfesselten menschlichen Population ihren Erzähler finden.

Doch, lässt man sich auf die ruhig und sachlich wirkende ‚Erzählungen‘ dieses Buches ein, dann begegnet man im geradezu epischen Prolog Gedankenmuster, die wie ‚Disharmonien‘ wirken, wie ‚falsche Töne‘ in einer ansonsten berauschenden Sinfonie von Klängen.

Ein Prolog wie eine Ouvertüre

Ausschnitt aus dem berühmten ‚blue marbel‘ Bild von William Anders Anders während der Appollo-8 Mission 1968 (siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:NASA-Apollo8-Dec24-Earthrise.jpg)

Glaubrecht lässt seine Erzählung beginnen mit dem einem Foto von William Alison Anders, einem Astronauten der Apollo-8 Mission 1968, das um die Welt ging, und mittlerweile einen ‚Kultstatus‘ hat: die blaue Kugel im Schwarz des umgebenden interstellaren Raumes, wundersam, so unwirklich, ein Bild ‚wie im Traum‘. Und doch, es ist kein Traum. Es ist der Ort von etwas, was wir gelernt haben, ‚biologisches Leben‘ zu nennen. Ein multidimensionales Phänomen, das nach heutigem Kenntnistand einzigartig im gesamten bekannten Universum ist. Diesen ‚Gedanken der Einzigartigkeit‘ greift Glaubrecht auf und pointiert ihn sehr stark, indem er die neuesten Forschungen zu einem ‚möglichen extra-terrestrischen Leben‘ auswertet und diese Option eines ‚anderen Lebens irgendwo dort draußen‘ quasi ad absurdum führt. (vgl. SS.21-24)

Nach diesem argumentativen ‚knock down‘ für die Option eines Lebens außerhalb der Erde wendet er sich dann dem Phänomen des Lebens auf der blauen Erde zu, und rafft die ca. 3.5 Milliarden Jahre Entstehung des Lebens auf der Erde mit Akzentuierung des Homo sapiens in 14 Zeilen auf S.24 zusammen. Die 14 Zeilen schließen mit der Bemerkung „obgleich wir … im kosmischen Maßstab kaum mehr sind als eine Eintagsfliege der irdischen Evolution“.

Fast könnte man das Buch an dieser Stelle zuklappen, es beiseite legen, und vergessen, dass es dieses Buch gibt.

Was immer der Autor Glaubrecht an wunderbaren Dingen in seinem Kopf haben mag, weiß, denkt, fühlt, mit dieser Aussage am Ende seiner 14 Zeilen Evolution auf S.24 deutet er an, dass er den Menschen in seiner biologischen Erscheinungsweise sehr ‚klassisch biologisch‘ sieht, Produkt einer ‚biologischen Hervorbringung‘, von der viele Biologen zu glauben wissen, was biologisches Leben ist. Dieser sich hier nurmehr ‚andeutende Akzent‘, dieser ‚gedankliche Tonfall‘, wird die ganze ‚Sinfonie der Gedanken‘ im weiteren Gang begleiten, verfolgen, und zu Disharmonien führen, die das ganze Werk in einen Abgrund zu reißen drohen, aus dem es kein gedankliches Entkommen zu geben scheint. ‚Schwarze Löcher‘ sind nicht nur ein Problem der heutigen theoretischen Physik.

Nachdem Glaubrecht (SS.24-28) die großen Phänomene einer tiefgreifenden Störung der Biosphäre und ihrer planetarischen Umgebung ins Bewusstsein gerufen hat (Bevölkerungsentwicklung, Ressourcenverbrauch, dramatisches Artensterben, Klimaextreme), deutet er auf das widersprüchliche Phänomen hin, dass es gesellschaftlich zwar schon — auch seit längerem — eine gewisse Wahrnehmung dieser Phänomene gibt (vgl. z.B. S.27), dass diese partiellen gesellschaftlichen Wahrnehmungen aber noch zu keiner wirklich wirksamen gesellschaftlichen Verhaltensänderung geführt zu haben scheinen.

Wer sollte diese ‚Gegenbewegung‘ zu einer wahrnehmbaren globalen zerstörerischen Dynamik auslösen? Woher sollte sie kommen?

Auf den Seiten 28-30 bekennt sich Glaubrecht klar zum Faktor ‚Wissen‘: „Der Schlüssel zu allem ist Wissen; ohne Kenntnis der Fakten und Hintergründe, der Daten und Quellen ist ein sicherer Umgang mit den komplexen Szenarien unserer Gegenwart nicht möglich, geschweige denn, dass sich die Herausforderungen der Zukunft meistern lassen.“(S.28) Allerdings, diese Bemerkung ist wichtig, Wissenschaft kann wirklich verlässlich „nur Vergangenes und bereits Geschehenes deuten“.(S.29) Dies klingt eher resignativ und wäre möglicherweise kaum ein Hilfe, gäbe es nicht doch auch — so Glaubrecht — die Möglichkeit, aus der Vergangenheit zu „lernen“ und „mithin Vorhersagen erleichtern“.(vgl. S.29)

Glaubrecht sagt nicht viel — eigentlich gar nichts — zur Frage, wie denn überhaupt Prognosen möglich sein können, was ihre Randbedingungen sind. Und irgendwie scheint ihm diese Option der ‚Prognose‘ ein wenig suspekt zu sein, beginnt er doch dann den Abschnitt darüber, wie er in seinem Buch arbeiten will, mit einem verstärkten Zweifel an der Möglichkeit von Prognosen (sein Zitat von Niels Bohr, S.30, Zeilen 1-2) und stellt fest „Tatsächlich ist Wissenschaft immer nur im Rückblick wirklich gut“.(S.30)

Damit mehren sich die Fragen, was Glaubrecht denn genau unter ‚Wissenschaft‘ versteht? Prognosen bezweifelt er, und der ‚Rückblick‘ soll es richten? Und er betont, dass es hier nicht nur um sein eigenes „Bauchgefühl“ — das eines einzelnen Wissenschaftlers — geht, der „sein Bauchgefühl zur Wissensautorität erhebt“ (S.28), sondern darum „Evidenzen“ zu sichern.(vgl. S.28f) Er verweist dann auf die Wissenschaftstheorie, die betone, dass das Gute an Wissenschaft sei, „dass wir ein Verfahren haben, den Gegenständen unserer Forschung gerecht zu werden, und unsere Ansichten, Befunde und Meinungen methodisch zu testen gelernt haben, statt uns im Vagen und Wunschdenken zu verlieren.“(S.29)

Eine Formulierung wie „den Gegenständen unserer Forschung gerecht zu werden“ ist natürlich ‚vage‘, und der Hinweis „unsere Ansichten, Befunde und Meinungen methodisch zu testen gelernt haben“ soll vielleicht weiter beruhigend wirken, aber diese Formulierung ist auch vage. Eine Kernbedeutung von ‚Testen‘ ist normalerweise jene, dass ich aus ‚Annahmen‘, die ich als Wissenschaftler — warum auch immer — mache, eine ‚Folgerung‘ (eine ‚Prognose‘) ableite, die ich dann ‚teste‘. Dieses Konzept der Generierung von ‚Prognosen‘ setzt einen ‚Mechanismus‘ (ein ‚Verfahren‘) voraus, wie ich aus Annahmen eine Prognose ‚ableiten‘ kann. Wie zirka 2.500 Jahre Philosophie und etwa 150 Jahre Wissenschaftsphilosophie zeigen, ist dies alles andere als ein ‚trivialer Sachverhalt‘. Glaubrecht schweigt dazu. Was sagt dies über seine Wissenschaftlichkeit … und jene der Evolutionsbiologie und Biodiversitätsforschung? Fakten ja, aber keine Prognosen?

Und es gibt noch einen Punkt, der bedenklich stimmen kann, ja sollte. Nach seiner wissenschaftsphilosophischen Verortung, die sich in vagen Andeutungen erschöpft, kommt er zu folgender Feststellung: „Just beim Blick in die biohistorischen Vergangenheit ist die Evolutionsforschung in ihrem Metier. Ausgerüstet mit dem Blick des Evolutionsbiologen und dem Wissen des Biodiversitätsforschers zur Artenvielfalt ebenso wie Artenschwund soll es hier um den Menschen, seine Wurzeln in der Natur und die Entwicklung seiner Kultur sowie um unseren Umgang mit der Natur gehen; schließlich auch darum, wohin uns das zukünftig führt“.(S.30)

Dass „Evolutionsbiologen und … Biodiversitätsforscher“ besonders geschult sind, um ‚evolutionäre biologische Prozesse‘ sowie die ‚Entwicklung von biologischen Arten‘ zu identifizieren und zu beschreiben, das mag man zunächst noch glauben; den nächsten Schritt, nämlich solche ‚auf Beobachtung beruhenden Evidenzen‘ dann sogar in ‚geeignete voraussagefähige Modelle‘ einzuordnen, muss man nicht unbedingt glauben. Noch weniger sollte man so ohne weiteres glauben, dass ‚Evolutionsbiologen und Biodiversitätsforscher‘ einfach so auch befähigt sind, komplexe Phänomene wie ‚Kultur‘ bzw. überhaupt ‚menschliche Gesellschaften‘ zu beschreiben. Ein Schreiner mag zwar an einem Haus Aspekte erkennen, die mit seiner Profession als Schreiner Überschneidungen aufweisen, aber er wird damit nicht zum ‚Multi-Handwerker‘, keinesfalls automatisch zum ‚Architekt‘ oder ‚Bauingenieur‘.

Mit dieser Selbstüberschätzung einzelner Disziplinen steht Glaubrecht nicht alleine. Er reproduziert damit nur ein Muster, was sich heute — leider — in nahezu allen wissenschaftlichen Einzeldisziplinen findet: jeder kultiviert seine eigene ‚Wissenschaftssprache‘, seine eigenen ‚wissenschaftlichen Methoden‘, aber die Fähigkeit zum ‚transdisziplinären‘ Denken und zu einer ‚gemeinsamen allgemeinen Theorie‘ existiert bislang eher nur in Absichtserklärungen. Eine der Folgen von dieser ’spendid isolation‘ der moderner Einzelwissenschaften ist genau das, was Glaubrecht — zu Recht — konstatiert: es gibt viele, verstreute Wahrnehmungen von ‚bedenklichen Entwicklungen‘ auf diesem Planeten, aber eine ‚Zusammenschau‘, die sich über ein ‚gemeinsames Wissen‘ organisieren müsste, findet nicht statt, weil wir als Menschen uns den Luxus leisten, in den Köpfen der überwältigenden Mehrheit ‚Weltbilder‘ zu hegen, die mit der realen Welt und ihrer Dynamik wenig zu tun haben. Für populistische und autokratische Gesellschaften eine ideale Umgebung.

Diese eher kritischen Bemerkungen zum wissenschaftlichen Setting des Buches sollten aber nicht davon ablenken, dass die Fülle der Fakten und Einsichten zu jenen Veränderungsprozessen planetarischen Ausmaßes, die Glaubrecht darbietet, wichtig sind. Diese Fülle ist atemberaubend. Doch diese wunderbare Seite des Buches darf nicht darüber hinweg täuschen, dass das schwierige wissenschaftlichen Setting des Buches sich voraussichtlich dort bemerkbar machen wird, wo es um eine Einschätzung der möglichen Zukunft gehen wird, ob und wie wir diese werden bewerkstelligen können. Auf dem Weg dahin wird es natürlich vielfach Sachverhalte geben, deren Einschätzung aufgrund seines Vorverständnisses vorzüglich in die Richtung seines Vorwissens laufen werden. Dies ist unausweichlich.

Auf den Seiten 30-35 lässt Glaubrecht umrisshaft erkennen, wie er sein Buch in drei Teilen organisieren will. Vor dem Blick in die Zukunft (Prognose!) ein langer Blick zurück in die Vergangenheit: Befunde, Fakten, Zusammenhänge. (vgl. S.30)

Im Rückblick auf den bisherigen Weg des Menschen zeichnet er das Bild eines „Pfadfinders“, der neugierig umherzieht, der sich überall aus einer scheinbar kostenlosen, unerschöpflichen Natur bedient, und der sich dabei rein zahlenmäßig dermaßen vermehrt, dass er nach und nach die gesamte planetarische Oberfläche in Besitz genommen und dabei so verändert hat, dass der Lebensraum nicht nur für erschreckend viele andere Arten genommen und zerstört wurde, sondern mittlerweile auch für sich selbst. Diese Auswirkungen des Menschen auf den Planeten sind so massiv, dass Geowissenschaftler eine neue erdgeschichtliche Epoche mit Namen „Anthropozän“ vorschlagen. (vgl.S.33) Alle Indizien deuten auf ein neues, sechstes, planetarisches Artensterben hin.(vgl. S.33) Dass es für uns Menschen scheinbar immer noch funktioniert trotz der aufweisbaren massiven Schäden überall lässt erahnen, wie komplex und redundant das gesamte biologische Ökosystem aufgebaut ist; in Milliarden von Jahren hat es sich in einer Weise ‚organisiert‘, die von einer großen ‚Resilienz‘ [1],[1.1], [1.2] zeugt. Doch diese ist nicht ‚unendlich‘; wenn die zerstörerischen Belastungen bestimmte Punkte — die berühmten ‚tipping points‘ — überschreiten, dann bricht das System so zusammen, dass eine Regenerierung — wenn überhaupt — möglicherweise nur über viele Millionen Jahre möglich sein wird und dann … (vgl. S.34f)

Wie dieser aktuell dramatische Prozess letztlich ausgehen wird: Glaubrecht lässt diese Frage bewusst unbeantwortet. Er plant zwar, einen ‚worst case‘ und ein mögliches ‚happy end‘ zu schildern (vgl.S36), aber welcher dieser beiden Fälle — oder womöglich noch ein dritter — letztlich eintreten wird, hängt vom Verhalten von uns Menschen in den nächsten Jahren ab. Wiederholt weist er darauf hin, dass der ‚Klimawandel‘, der heute in alle Munde ist, letztlich ja nur eine Nebenwirkung des eigentlichen Hauptproblems, der Verwüstung des Ökosystems ist. Eine Konzentration auf das Klima bei Vernachlässigung des ökologischen Problems kann daher kontraproduktiv sein.(vgl. S.36f)

Womit sich die Frage stellt, ob uns Menschen letztlich — biologisch und kulturell — die Mittel fehlen, mit dieser Problematik angemessen umzugehen? „Ist der Mensch letztlich ein vernunftloses Tier?“ (S.36)

(Paläo-)Anthropologie, Soziologie, Geschichte, Religion …

Gefühlt könnte der Prolog auf S.37 enden. Glaubrecht bringt aber noch Gedanken ins Spiel, die mit Evolutionsbiologie und Biodiversität eigentlich nichts mehr zu tun haben. Sein methodologisches wissenschaftliches Programm von S.30 wird damit deutlich gesprengt. Es folgt eine Skizze des Homo sapiens in den letzten 12.000 Jahren in denen die „überschaubaren Jäger und Sammler Horden“ (S.37) sich in Bauern verwandelten, in immer komplexere Gesellschaften leben mit all den Phänomenen, die frühe komplexe Gesellschaften so mit sich brachten (Ungleichheit, Gewalt, Unterdrückung, Krankheiten, Soziales als Stress, ..). Diese Darstellung ist durchsät mit ‚Bewertungen‘, die all dies Neue eher ’negativ‘ erscheinen lassen gegenüber der vorausgehenden ‚positiven‘ Zeit der wenigen, frei umherziehenden Horden.(vgl. S.37f)

Mit Evolutionsbiologie und Biodiversität hat dies nicht mehr viel zu tun. Glaubrecht bezieht sich an dieser Stelle direkt und ausführlich auf Schalk und Michel (EN 2016, DE 2017), die das Buch der Bibel aus anthropologischer Sicht interpretieren. Dazu führen sie eine dreifache Typologie der menschlichen ‚Natur‘ ein: (i) ‚Biologisch‘, (ii) ‚Kultur‘, (iii) ‚Vernunft‘. Abgesehen davon, dass die für die Klassifikation benutzten Begriffe in ihrem Verwendungskontext und ihrem Bedeutungsfeld mehr als vage sind, erscheint die Zuschreibung dieser Begriffe zur biologischen Lebensform des homo sapiens philosophisch und wissenschaftsphilosophisch zunächst sehr willkürlich (wenngleich diese Art der Typisierung sehr populär ist). Die in der Anthropologie (und auch den Geisteswissenschaften) sehr beliebte Gegenübersetzung von ‚Biologisch‘ und ‚Kultur‘ und dann auch noch zur ‚Vernunft‘ sitzt tief in den Köpfen der Vertreter dieser Disziplinen, aber dies sind ‚Denkprodukte‘ einer Epoche, ‚Artefakte‘ eines Denkens, das viele Jahrhunderte, ja viele Jahrtausende, nichts anderes gekannt hat. Wenn man aber im 20.Jahrhundert, und jetzt sogar im 21.Jahrhundert, lebt, darf man sich über diese denkerische Naivität schon wundern.

Fast schon extrem ist in diesem Zusammenhang die Zurichtung des Blicks auf das Phänomen der jüdisch-christlichen Religion mit der ‚Bibel‘ als Referenzpunkt. Bedenkt man, wie umfassend und reichhaltig die verschiedenen Gesellschaften und Kulturen der Menschheit in allen Erdteilen schon ab -5000 waren (man denke z.B. an Indien, China, Ägypten,) dann erscheint diese Blickverengung nicht nur extrem, sondern auch willkürlich.

Die Interpretation der Bibel, die Schaik und Michel präsentieren (und die Glaubrecht durch sein ausführliches Zitieren mindestens wohlwollend zur Kenntnis nimmt)(vgl. SS.38ff), ist zwar bei vielen immer noch populär, ist aber wissenschaftlich in keiner Weise zu rechtfertigen. Wie die verdienstvolle Arbeit der kritischen Bibelwissenschaften (ab dem 18.Jahrhundert)[2],[3] zeigt, muss man den Text des Alten Testaments als das Produkt eines Entstehungsprozesses sehen, der inhaltlich bis in die Zeit vor -900 (oder sogar weiter) zurückverweist. Er dokumentiert das vielstimmige Ringen von Menschen aus vielen verschiedenen Regionen und Zeiten, um eine Antwort auf letzten und doch auch sehr konkrete Fragen des Verhaltens im Alltag zu finden. In diesen Texten wird deutlich, dass diese Sichten keinesfalls ‚monoton‘ waren, sondern vielstimmig, teilweise geradezu konträr.[4] Und sowohl am Beispiel der jüdisch-christlichen Tradition wie auch an den Beispielen der verschiedenen anderen Religionen ist unübersehbar, dass es letztlich nicht die sogenannten ‚religiösen Inhalte‘ waren, die ganze Völker ‚befriedet‘ haben, sondern massive Machtinteressen (eng gekoppelt an finanziellen Interessen), die sich die religiösen Erzählungen für ihre Zwecke nutzbar machten um damit viele Völker äußerst blutig zu unterwerfen bzw. die Unterworfenen dogmatisch-autokratisch zu regieren. Dass sich modernes Denken, moderne Wissenschaft trotz dieser gedanklichen Unterdrückung überhaupt entwickeln konnten, ist dann fast schon ein Wunder. Die destruktive Kraft der religiösen Traditionen erlebt heute in vielen populistisch-fundamentalistischen Strömungen immer noch eine globale Wirkung, die ein modernes, dem Leben zugewandtes kritisches Denken eher verhindert und freie Gesellschaften gefährdet.[6]

Die massive Unterdrückung von anderem Fühlen und Denken, die von der jüdisch-christlichen Tradition mindestens ausging (und das war nicht die einzige Religion, die sich so verhielt) basiert im Kern auf bestimmten Überzeugungen, was ‚der Mensch‘ und was ‚Geschichte‘ ist. Während die Bibel selbst — und hier insbesondere das alte Testament — noch vielstimmig und gar konträr daherkommt, entstanden in den Zeiten nach der ‚Kanonisierung‘ [7] der verschiedenen Schriften immer mehr ‚verfestigte‘ Interpretationen, die zwar geeignet waren, Machtansprüche der herrschenden Institutionen durchzusetzen, sie verkleisterten aber das ursprüngliche Bild, machten seine menschlichen Verwurzelungen eher unsichtbar, und leisteten damit einer starren Dogmatisierung Vorschub. ‚Anderes‘ Denken war erst einmal ‚fremd‘, ‚gefährlich‘, ‚falsch‘. Dass die ‚Intelligenz der mittelalterlichen Mönche‘ es über mehrere Jahrhunderte hin schaffte, das ‚Denken der Griechischen Philosophie, vor allem das Denken des Aristoteles‘, in einen konstruktiven Dialog mit dem christlichen Dogma zu bringen, grenzt schon fast an ein Wunder. Allerdings schafften diese großartigen Denker es nicht, das christliche Lehramt in zentralen Positionen zu erneuern. Die aufkommenden neuen empirischen Wissenschaften (bis hin zur Evolutionsbiologie) wurden ebenfalls zunächst verteufelt, verfolgt, gar auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Die christliche Begleitung der europäischen Unterwerfung der Völker anderer Kontinente ermöglichte zwar neue Einsichten und Verhaltensweisen speziell des Jesuitenordens, der sich überall auf die Seiten der ursprünglichen Bewohner schlug (Nord- und Südamerika, Asien), indem sie diese Sprachen lernten, Wörterbücher herausgaben, deren Kleidung und religiösen Praktiken teilweise übernahmen, oder sie (in Südamerika) aktiv gegen die portugiesisch-spanischen Ausbeuter zu schützen versuchten, doch wurden sie dafür von der Institution gnadenlos abgestraft: ohne Vorankündigung wurden sie über Nacht überall verfolgt, eingekerkert, gefoltert, umgebracht. Die später aufkeimende kritischen Bibelwissenschaften hatten genug Erkenntnisse, um die naiven Grundanschauungen des christlichen Dogmas zu erschüttern und als haltlos zu erweisen. Aber auch diese wurden lange unterdrückt und innerhalb der Institution dann soweit ‚abgeschwächt‘, dass notwendige Korrekturen am Gesamtbild von ‚Mensch‘, ‚Geschichte‘, ‚Institution‘ dann doch wieder unterblieben.

Wenn die Autoren Schaik und Michels — mit Billigung von Glaubrecht — diese ‚finstere Maschine‘ einer dogmatischen christlichen Religion (mit vielen ihrer späteren Ablegern) letztlich ‚glorifizierend‘ preisen als einen ‚menschheitsverbindenden Verhaltenskodex‘, den man irgendwie zurück haben möchte (S.41), dann erscheint dies vor dem Hintergrund der massiven Fakten als ‚extrem naiv‘; mit Wissenschaft hat dies nicht das Geringste zu tun.

Typisierung: Natur – Kultur – Vernunft

Ich möchte hier nochmals auf die für Schaik und Michels grundlegende Typisierung der menschlichen ‚Natur‘ als (i) ‚Biologisch‘, (ii) ‚Kulturell‘, (iii) ‚Vernunft‘ (vgl. S.39f) zurück kommen, die sich prozesshaft in einem komplexen Phänomen von „kumulativer kultureller Evolution“ (S.40) niederschlägt.

Wenn ich ein technisches System wie einen Computer nehme, dann besteht dieser aus (i) Hardware, die festlegt, welche technischen Systemzustände im Prinzip möglich sind (Hardware, die mittlerweile partiell ‚adaptiv‘ sein kann), aus (ii) Software, die aus dem Raum der möglichen Systemzustände eine charakteristische Teilmenge von Zuständen auswählt, und — für den menschlichen Benutzer bedeutsam — (iii) das beobachtbare Input-Output-Verhalten des Systems, das mit dem menschlichen Verhalten eine ‚Symbiose‘ eingeht. Ein Mensch im Jahr 2022, der ein sogenanntes ‚Smartphone‘ benutzt, der denkt während der Nutzung weder über die Hardware noch über die Software nach; er erlebt das technische System direkt und unmittelbar als ‚Teil seines eigenen Handlungsraumes‘. Letztlich ‚verschwindet‘ in der Wahrnehmung das technische System als etwas ‚Anderes‘; es gehört zum Menschen so wie sein Arm, seine Hand, seine Beine.

Die Dreifach-Typologie von Schaik und Michel (literarisch approbiert von Glaubrecht) liese sich auf die Menge der Smartphones anwenden: (i) der menschliche Körper als Manifestation des ‚Biologischen‘ entspricht der Hardware als Manifestation des Technischen. (ii) Die ‚Kultur‘ entspricht der Software, deren Regelmengen die Menge der Systemzustände festlegen. (iii) die ‚Vernunft‘ entspricht jenen typischen ‚Reaktionen‘ des technischen Systems auf die Anforderungen seitens des menschlichen Benutzers, in denen das System ‚antwortet‘, ‚erinnert‘, ‚Konsequenzen sichtbar macht‘, ‚Assoziationen herstellt‘, usw.

Wer jetzt einwenden möchte, dass diese ‚Auslegung der Begriffe‘ in diesem Beispiel doch etwas ‚willkürlich‘ sei, der sollte sich fragen, wie denn Schaik und Michel die Verwendung ihrer Begriffe rechtfertigen. Ihre Verwendung der Begriffe ist absolut beliebig.

Im Smartphone-Beispiel wird allerdings klar, dass die unterschiedlichen ‚Erscheinungsweisen‘ dieses technischen Systems (Hardware, Software, Input-Output-Verhalten) zwar sprachlich unterschiedlich gehandhabt werden können, dass aber jede ‚Ontologisierung‘ dieser drei Erscheinungsweisen in Richtung eigenständiger ‚Naturen‘ die tatsächliche Funktionalität des Systems stark verzerren würde. Jeder Informatiker weiß, dass das beobachtbare Input-Output-Verhalten des Smartphones (so ‚klug‘ es auch erscheinen mag), letztlich nur eine spezielle Abbildung der inneren Systemzustände ist, die von der aktiven Software aus der Menge der möglichen technischen Systemzustände ausgewählt wird. Das eine kann man nicht ohne das andere verstehen. Das technische System bildet als solches ein einziges ‚funktionales Ganzes‘. Und in dem Maße wie Computersysteme über ‚Sensoren‘ verfügen (das Smartphone hat sehr viele), die ‚Signale der Außenwelt‘ messen können, und/ oder auch über ‚Aktoren‘ (hat ein Smartphone auch), auf die Außenwelt physikalisch einwirken kann, dann kann ein Smartphone ‚Zustände der Außenwelt‘ in seine ‚internen Systemzustände‘ ‚abbilden‘, und es kann — falls die Software so ausgelegt wurde — auch Eigenschaften der Außenwelt (und auch über sich selbst) ‚lernen‘. Nicht rein zufällig sprechen ja heute fast alle vom ‚Smart‘-Phone, also von einem ‚klugen‘ Phone, von einem klugen technischen System. Selbstfahrende Autos und ‚autonome Roboter‘ gehören auch in diese Rubrik der ‚klugen‘, ‚vernünftigen‘ Maschine.

Wenn jetzt wieder jemand (vorzugsweise Anthropologen und Geisteswissenschaftler) einwenden würden, dass man diese Begriffe ‚klug‘ und ‚vernünftig‘ hier nicht anwenden darf, da sie ‚unpassend‘ seien, dann kann man gerne zurückfragen, wie Sie denn diese Begriffe definieren? Die Verwendungen dieser Begriffe in der Literatur ist dermaßen vielfältig und vage, dass es schwer fallen dürfte, eine ’scharfe‘ Definition zu geben, die eine gewisse Mehrheit findet. Nichts anderes machen die Informatiker. Weitgehend ohne Kenntnis der philosophischen Literatur benutzen sie diese Begriffe in ihrem Kontext. Sie haben allerdings den Vorteil, dass ihre technischen Systeme schärfere Definitionen zulassen. Von einer ‚klugen‘ Maschine in einem Atemzug mit einem ‚klugen‘ Menschen zu sprechen, erhöht zwar den kulturellen Verwirrtheitsgrad, bislang scheint dies aber niemanden ernsthaft zu stören.

Um es klar zu sagen: das von mir konstruierte Beispiel ist genau das, ein Beispiel; es ersetzt keine umfassende ‚Theorie‘ über den Menschen als Moment der biologischen Evolution auf diesem blauen Planeten. Von einer solchen Theorie sind wir aktuell auch noch — so scheint es — gefühlte Lichtjahre entfernt. Auf jeden Fall dann, wenn Biologen und Anthropologen kein Problem damit zu haben scheinen, solch ein finsteres Phänomen wie die jüdisch-christliche Religion in ihrer historischen Manifestation (sind andere besser?) als positives Beispiel einer Bewältigung des Lebens auf diesem Planeten zu qualifizieren. Vielleicht wäre es hilfreich, wenn Biologen und Anthropologen sich mehr damit beschäftigen würden, wie denn alle diese — scheinbar widersprüchlichen Phänomene ‚biologische Systeme‘, ‚Kultur‘ und ‚Vernunft‘ tatsächlich zusammenhängen. Die — geradezu naive — Verherrlichung der frühen Phase des ‚vorgesellschaftlichen‘ homo sapiens und die — ebenso naiven — Kassandra-Rufen-ähnliche Klassifizierungen von zunehmend komplexen Gesellschaftsbildungen zerstört das Phänomen, was es wissenschaftlich zu erklären gilt, bevor man es überhaupt richtig zur Kenntnis genommen hat. Hier bleibt erheblich ‚Luft nach oben‘.[8]

KOMMENTARE

wkp := Wikipedia, [de, en, …]

[1] Resilienz: Dieser Begriff wird von verschiedenen Disziplinen in Anspruch genommen. Nach meinen Recherchen taucht er als erstes in der Ökologie auf [1.1], wo er sich als wichtiger theoretischer Begriff etabliert hat.[1.2]

[1.1] C.S. Holling. Resilience and stability of ecological systems. Annual Review of Ecology and Systematics, 4(1):1–23, 1973. Online: https://www.jstor.org/stable/2096802

[1.2] Brand, F. S., and K. Jax. 2007. Focusing the meaning(s) of resilience: resilience as a descriptive concept and a boundary object. Ecology and Society 12(1): 23. [online] URL: http://www.ecologyandsociety.org/vol12/iss1/art23/

[1.3] Peter Jakubowski. Resilienz – eine zusätzliche denkfigur für gute stadtentwicklung. Informationen zur Raumentwicklung, 4:371–378, 2013.

[2] Biblische Exegese in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Biblische_Exegese

[3] Historisch-kritische Methode in wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Historisch-kritische_Methode_(Theologie)

[4] Ein sehr prominentes Beispiel sind die beiden verschiedenen Versionen der sogenannten ‚Schöpfungsgeschichten‘ zu Beginn des heutigen biblischen Textes, die aus ganz verschiedenen Zeiten stammen, eine ganz verschiedene Sprache benutzen (im hebräischen Text direkt sichtbar), und die ganz unterschiedliche Bilder von Gott, Mensch und Schöpfung propagieren.

[5] Carel van Schaik und Kai Michel, „Das Tagebuch der Menschheit: Was die Bibel über unsere Evolution verrät“, Rowohlt Taschenbuch; 8. Edition (17. November 2017)(Original: The Good Book of Human Nature. An Evolutionary Reading of the Bible, 2016)

[6] Sehr aufschlussreich ist der Umgang der christlichen Tradition mit der sogenannten ‚Spiritualität‘ und ‚Mystik‘: nahezu alle großen geistlichen Lebensgemeinschaften (oft ‚Orden‘ genannt) durften nur existieren, wenn sie sich vollständig der Kontrolle der Institution unterwarfen. Falls nicht, wurden sie verfolgt oder getötet. ‚Subjektivität‘, ‚individuelle Erfahrung‘, nichtautoritäre Praxis, andere Gesellschaftsformen, wurden kompromisslos unterdrückt, ebenso jede Art von abweichender Weltsicht (man denke z.B. nur an Galilei und Co.).

[7] Die ‚Kanonisierung‘ der Bibel meint den historischen Prozess, in dem festgelegt wurde, welche Schriften zum Alten und Neuen Testament gezählt werden sollten und welche nicht. Wie man sich vorstellen kann, war dieser Prozess in keiner Weise ‚trivial‘.(Siehe auch: wkp-de, https://de.wikipedia.org/wiki/Kanon_(Bibel))

[8] Eine sehr interessante alternative Sicht im Bereich (Kultur-)Antropologie und Soziologie zum Verständnis des Phänomens Mensch bietet das interessante Buch von Pierre Lévy  “Collective Intelligence. mankind’s emerging world in cyberspace” (translated by Robert Bonono),1997 (French: 1994), Perseus Books, 11 Cambridge Center Cambridge, MA, United States. Allerdings scheint auch dieses Buch — trotz seiner neuen Akzente — noch eher im ‚alten Denken‘ verhaftet zu sein als in einem ’neuen Denken‘.

[8.1] Eine Folge von Kommentaren zu Pierre Lévy’s Buch findet sich hier: Gerd Doeben-Henisch, 2022, „Pierre Lévy : Collective Intelligence – Chapter 1 – Introduction“, https://www.uffmm.org/2022/03/17/pierre-levy-collective-intelligence-preview/ (mit Fortsetzungs-Links)

Ein Überblick über alle Beiträge des Autors nach Titeln findet sich HIER.

Eine Konferenz als Sprachspiel, das im Verlauf eine empirische Theorie hervorbringt

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 18.August 2022 – 26.August 2022, 07:34h
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

Kontext

Der nachfolgende Text greift Anregungen aus der Popper-Lektüre in diesem Blog auf (siehe letzte Beiträge), dazu die intensive Diskussion um den Begriff einer ‚Nachhaltigen Empirischen Theorie‘ aus dem englischen Theorie-Blog uffmm.org, sowie aus einem laufenden realen Theorieexperiment zum Thema Wasser, bei dem es darum geht zu prüfen, was passiert, wenn eine offene Gruppe von Bürgern versucht, sich zum Thema ‚Wie viel Wasser gibt es?‘ so auszutauschen, dass daraus eine empirische Theorie entsteht, die Grundlage eines gemeinsamen Handelns als Bürger sein kann.

Aufgabenstellung

Im folgenden Text soll also anhand einer konkreten Konferenz untersucht werden, welches ‚Sprachspiel‘ diese Konferenz charakterisiert, und ob und wie im Prozess dieses Sprachspiels etwas entsteht, was — auch im Sinne Poppers — eine ‚empirische Theorie darstellt‘.

Eine Konferenz

Als ‚Konferenz‘ wird hier ein Ereignis verstanden, bei dem eine Person andere Personen dazu einlädt, sich zu einem bestimmten Zeitpunkt miteinander für eine gewisse Zeit zu einem bestimmten ‚Thema‘ sprachlich auszutauschen. Im konkreten Fall gibt es einen konkreten Ort in der Stadt Frankfurt, das Institut für Neue Medien mitten im Osthafen, in der Schmickstrasse 18, dort im ‚Konferenzraum‘. Man kann entweder ‚vor Ort‘ real ‚in Präsenz‘ teilnehmen oder ‚online‘ per ‚Videokonferenz‘. Diese Konferenz im INM soll nach Vereinbarung 2 Stunden dauern.[1]

Eine Ausgangslage

Nehmen wir an, es gibt nur drei Konferenzteilnehmer A, B und C. A hat eingeladen und sitzt ‚vor Ort‘ im INM im Konferenzraum mit einem Computer online und einem Beamer, der allen Anwesenden den Inhalt des Bildschirms anzeigt. Dazu gibt es eine ‚Konferenzmaschine‘, die alle Beteiligten vor Ort per Audio und Bild aufnimmt und in die Videokonferenz einblendet. Es soll nun eine sprachliche Beschreibung entwickelt werden, die sowohl die ‚jeweils aktuelle Situation (IST)‘ wiedergibt, als auch ‚mögliche Veränderungen (VR := Veränderungsregeln)‘. Ferner sollte es klar sein, welches ‚Ziel (Z)‘ die Konferenz verfolgt. Schließlich sollte es möglich sein, dass man den ‚Prozess/ Verlauf‘ der Konferenz anhand der sprachlichen Beschreibung ’simulieren‘ kann, d.h. für jede aktuelle Situation lässt sich eine ‚Prognose‘ generieren, wie die Nachfolgesituation aussehen wird. Vom Teilnehmer B weiß man, dass er auch ins INM kommen will, und C will sich online dazu schalten.

Drei Gehirne und ein Text

Etwas ungewöhnlich, aber hilfreich, ist die Vorstellung, dass die Gehirne der drei teilnehmenden Personen A, B und C jeweils ‚für sich‘ mit unglaublich vielen Dingen ‚angefüllt‘ sein können. Kein Gehirn kann jedoch wissen, was ‚in dem anderen Gehirn‘ stattfindet, es sei denn, jedes Gehirn ‚kommuniziert sprachlich‘ mit dem jeweils anderen Gehirn, indem es ‚Sätze äußert‘ oder ‚Sätze aufschreibt‘. Ein solcher ‚geäußerter Satz‘ ist ein ‚empirisches Gebilde‘ — nennen wir es einen ’sprachlichen Ausdruck‘ –, das körperlich erzeugt wird (durch Schall oder durch Aufschreiben), und das deswegen ’sinnlich wahrgenommen‘ werden kann. ‚Sprachliche Ereignisse‘ finden zwischen den Körpern von Gehirnen als ‚empirische Ereignisse‘ statt. Wenn die Hörer/ Leser solcher sprachlichen Ereignisse die ‚benutzte Sprache‘ nicht kennen, dann können sie ein sprachliches Ereignis zwar sinnlich wahrnehmen, es wird in ihrem Gehirn aber kein ‚Sprachverstehen‘ stattfinden. Haben die Hörer/ Leser die gleiche Sprache ‚gelernt‘, dann kann ein Sprachverstehen ‚in ihnen‘ stattfinden. Dieses ist aber ‚privat‘. Die jeweils anderen haben darauf keinen unmittelbaren Zugriff. Wenn z.B. Person A im Konferenzraum des INM von dem „weißen Beamer auf dem Glastisch“ spricht, dann weiß Person A nicht, ob die anderen Personen ihn verstanden haben. Wenn B, der im gleichen Raum anwesend ist, darauf antworten würde „Ja, Du musst ihn aber noch einschalten“, dann wird Person A das ‚Gefühl‘ haben, Person B hat verstanden, wovon er spricht. Person C hingegen, die sich online zugeschaltet hat, antwortet vielleicht noch nicht, da sie möglicherweise den Ausdruck „der weiße Beamer auf dem Glastisch“ zwar ‚versteht‘, sich womöglich sogar ein ‚inneres Bild‘ von dem weißen Beamer auf dem Glastisch machen kann, aber aktuell noch nichts Konkretes dazu sagen kann, da der Beamer von der Kamera noch nicht erfasst wurde. Ein sprachlicher Ausdruck ‚zwischen‘ den Körpern von beteiligten Gehirnen kann also auftreten im Kontext eines ‚Nicht-Verstehens‘ oder eines ‚informierten Verstehens ohne konkrete Wahrnehmung‘ oder eines ‚informierten Verstehens mit zusätzlicher konkreter Wahrnehmung‘. Im Falle eines ‚informierten Verstehens ohne konkrete Wahrnehmung‘ kann dann noch der Fall auftreten, dass jemand sich zwar aufgrund seines ‚Verstehens‘ eine ‚innere Vorstellung‘ bilden kann, dass diese sich aber im weiteren Verlauf als ‚partiell‘ oder ‚ganz falsch‘ erweist. Im Verhältnis von ‚innerer Vorstellung‘ zu ‚konkreter sinnlicher Wahrnehmung‘ kann es — wie jeder aus seiner Alltagserfahrung weiß — viele Schattierungen geben: die eigene innere Vorstellung ist z.B. ‚gänzlich verschieden‘ von der konkreten sinnlichen Wahrnehmung (man hat sich ‚geirrt‘) oder befindet sich ‚weitgehend‘ bis ‚vollständig‘ in ‚Übereinstimmung‘ mit dieser (man fühlt sich ‚bestätigt‘). Dazwischen kann es ‚unscharfe Fälle‘ geben: Ist das nun ein Beamer oder nicht? Man ist ‚unsicher‘.[7]

Trotz all dieser Unsicherheiten bleibt aber festzuhalten, dass die ‚gemeinsame Erzeugung einer Menge von Ausdrücken‘ — als ‚Dialog‘ oder als ‚Text‘ — der einzige Weg ist, dass unterschiedliche Gehirne einige ihrer ‚inneren zustände‘ austauschen können.[2]

Ein möglicher Start-Text mit einem Ziel

Spielen wir das Spiel (das ‚Sprachspiel‘) mal versuchsweise durch.

Gehen wir mal davon aus, dass das ‚Ziel‘ der Konferenz ist, dass eine Situation hergestellt wird, in der sich alle drei über einen gewissen Zeitraum ‚austauschen‘ können. Man könnte dieses Ziel in Form einer ‚Situationsbeschreibung‘ vielleicht so formulieren:

Das Ende der Konferenz ist erreicht. Die Teilnehmer konnten sich austauschen.

Die Startsituation könnte vielleicht wie folgt beschrieben werden:

Die Konferenz hat noch nicht angefangen. Teilnehmer A ist vor Ort. Teilnehmer B ist noch nicht da. Teilnehmer C hat sich noch nicht eingewählt. Ein weißer Beamer steht auf dem Glastisch. Der Beamer ist noch nicht eingeschaltet. Die Konferenzmaschine ist an den Laptop von Person A angeschlossen.

Natürlich kann man über diesen kurzen Text streiten: Reicht er aus? Müsste nicht noch mehr darin stehen? Warum muss man den Beamer erwähnen? Und ähnliche Fragen. Man muss sich aber klar machen, dass in einer solchen ‚Startsituation‘ die Beteiligten zu Beginn keine ‚gemeinsame‘ Vorstellung haben. Sie müssen sich diese erst ‚erzeugen/ herstellen‘, indem sie ’sprachliche Ausdrücke zusammentragen‘, durch die die Anfangssituation ‚im Wort‘ erst einmal entsteht. Perfektion ist in solch einer Situation weder möglich noch notwendig. Denn, egal mit welchen Ausdrücken man beginnt, im weiteren Verlauf kann man diese beliebig korrigieren, ergänzen und wieder wegnehmen. Die mögliche ‚Wahrheit‘ liegt also nicht ‚im Moment‘, sondern ‚im Prozess‘. Solange alle Beteiligten konstruktiv am Prozess mitwirken, so lange gibt es eine ‚Gemeinsamkeit‘ zwischen den Gehirnen, die man ‚gestalten‘ kann. Bricht man einfach ab, hat man nichts mehr außer ’sich selbst‘. Auf Dauer ist ein ‚reines Selbst‘ nicht lebensfähig.

Wie erreicht man das Ziel?

Wann stimmt eine Situation mit einem Ziel überein?

Wenden wir uns der nächsten Frage zu, wie man von einer — wie auch immer gearteten — Startsituation ausgehend, diese schrittweise so verändern kann, dass sich die jeweils aktuelle Situation immer mehr ‚dem Ziel annähert‘? Wobei sich die Frage stellt, woran man erkennen kann, ob eine jeweils aktuelle Situation die Zielsituation enthält?

Man kann diese Frage auf verschiedene Weisen beantworten. Eine sehr einfache aber zugleich sehr effektive Antwort geht so:

  1. Man kann die Startsituation mit ihren sprachlichen Ausdrücken als eine ‚Menge‘ von Ausdrücken auffassen, also z.B. Startsituation = {Die Konferenz hat noch nicht angefangen. Teilnehmer A ist vor Ort. Teilnehmer B ist noch nicht da. Teilnehmer C hat sich noch nicht eingewählt. Ein weißer Beamer steht auf dem Glastisch. Der Beamer ist noch nicht eingeschaltet. Die Konferenzmaschine ist an den Laptop von Person A angeschlossen.}
  2. Entsprechend kann man die Ziel-Situation als eine Menge von Ausdrücken auffassen: Ziel = {Das Ende der Konferenz ist erreicht. Die Teilnehmer konnten sich austauschen.}
  3. Eine Formulierung kann jetzt sein: Eine Situation S hat eine Ziel-Situation Z erreicht, wenn Z als Teil von S vorkommt. Angenommen S hätte die Ausdrücke {x,y,z} und Z hätte die Ausdrücke {v,w}, dann käme das Ziel in S noch nicht vor. Würden wir S schrittweise verändern zu S‘ = {x,w,z}, dann wären schon 50% vom Ziel-Zustand Z im aktuellen Zustand S‘. Und bei weiteren Veränderungen zu S“ = {v,w,z} lägen wir dann bei 100% Enthaltensein.

Dieser Mechanismus vergleicht nur die ‚Form‘ von Ausdrücken, nicht ihre ‚Inhalte/ mögliche Bedeutungen‘. Für die Korrektheit der Bedeutung sind die Teilnehmer der Konferenz zuständig. Nur sie können aufgrund ihrer ‚inneren Zustände‘ im Gehirn wissen, was jeweils mit der ‚Bedeutung‘ gemeint ist.

Wie beschreibt man Veränderungen?

Bisher steht nur fest, dass die sprachlichen Ausdrücke einer Start-Situation S in den Gehirnen der beteiligten Personen jeweils innere Zustände aktivieren, die die ‚gelernten Bedeutungen‘ repräsentieren. Diese gelernten Bedeutungen können mit der ‚konkreten Wahrnehmung‘ einer gemeinsam geteilten Situation ‚hinreichend übereinstimmen‘, so, dass alle Beteiligten zustimmen, dass das mit den sprachlichen Ausdrücken ‚Gemeinte‘ in der gemeinsamen Situation ‚tatsächlich zutrifft‘, also ‚wahr‘ ist, oder nicht. Egal, welche Wahrnehmungen oder Gedanken jeder einzelne ansonsten noch haben mag, die ‚gemeinsame Anschauung‘ liegt nur vor, sofern es einen ‚gemeinsamen Text‘ gibt. Ein gemeinsamer Text kann im aktuellen Kontext in drei Formen auftreten:

  1. Ein Text, der eine ‚Start-Situation‘ repräsentiert.
  2. Ein Text, der durch Veränderungen aus einer Start-Situation als Repräsentation der jeweils ‚aktuellen Situation‘ fungiert.
  3. Ein Text, der den Text einer ‚Ziel-Situation‘ in unterschiedlichem Maße als ‚Teilmenge‘ enthält.

Die Frage nach möglichen ‚Veränderungen‘ reduziert sich dann auf die Frage, wie man einen gegebenen Text — verstanden als eine Menge von sprachlichen Ausdrücken — verändern kann. Letztlich gibt es nur zwei Möglichkeiten: (i) Man nimmt einen Ausdruck aus der bestehenden Menge weg oder (ii) Man fügt einen neuen Ausdruck zu der Menge hinzu.

Dieser Mechanismus mag auf den ersten Blick unnatürlich abstrakt erscheinen. Dies ist aber ein Trugschluss. Dadurch, dass sprachliche Ausdrücke im ‚Innern des Gehirns‘ mit ‚Bedeutungen‘ verknüpft sind, die Aspekte der ‚gegebenen‘ oder ‚möglichen realen Welt‘ repräsentieren, führt das Wegnehmen oder Hinzufügen von Ausdrücken dazu, dass sich damit im Kopf der Beteiligten die ‚Welt ändert‘, die über die Bedeutungsbeziehung mit den Ausdrücken verknüpft ist. Ein Computer im Vergleich kann dagegen immer nur mit Ausdrücken hantieren ohne jegliche Bedeutung.[3]

Aus diesen Überlegungen legt sich folgende einfache Form einer ‚Regel zur Veränderung einer gegebenen Situation‘ — kurz: ‚Veränderungsregel (VR)‘ — nahe:

  1. BEDINGUNG: Ausdrücke, die in einer gegebenen Situation S gegeben sein müssen, damit die Veränderungsregel angewendet werden darf.
  2. HANDLUNG:
    1. Füge einen oder mehrere neue Ausdrücke zur gegebenen Menge von sprachlichen Ausdrücken hinzu.
    2. Entferne einen oder mehrere Ausdrücke aus der gegebenen Menge von sprachlichen Ausdrücken.

Ein Beispiel für eine mögliche Veränderungs-Regel könnte sein:

VR1:

WENN:

Teilnehmer B ist noch nicht da.

Teilnehmer C hat sich noch nicht eingewählt.

DANN:

Plus:

Teilnehmer B ist da.

Teilnehmer C ist eingewählt.

Minus:

Teilnehmer B ist noch nicht da.

Teilnehmer C hat sich noch nicht eingewählt.

Wie man intuitiv erkennen kann, wird der bisherige Text zur Situation dadurch abgeändert, dass die bisherigen Aussagen zu den Teilnehmern B und C entfernt werden und stattdessen zwei neue hinzugefügt werden. Als Ergebnis würde man wohl den folgenden neuen Text T‘ erhalten, den man als ‚Nachfolge-Text‘ zum Text T bezeichnen könnte, konkret:

Es sei T = {Die Konferenz hat noch nicht angefangen. Teilnehmer A ist vor Ort. Teilnehmer B ist noch nicht da. Teilnehmer C hat sich noch nicht eingewählt. Ein weißer Beamer steht auf dem Glastisch. Der Beamer ist noch nicht eingeschaltet. Die Konferenzmaschine ist an den Laptop von Person A angeschlossen.}

Es sei VR1 = {WENN: Teilnehmer B ist noch nicht da. Teilnehmer C hat sich noch nicht eingewählt. DANN: Plus: Teilnehmer B ist da. Teilnehmer C ist eingewählt. Minus: Teilnehmer B ist noch nicht da. Teilnehmer C hat sich noch nicht eingewählt.}

Durch ‚Anwendung‘ der Veränderungsregel VR1 auf den Text T erhalten wir den neuen Text

T‘ = {Die Konferenz hat noch nicht angefangen. Teilnehmer A ist vor Ort. Teilnehmer B ist da. Teilnehmer C ist eingewählt. Ein weißer Beamer steht auf dem Glastisch. Der Beamer ist noch nicht eingeschaltet. Die Konferenzmaschine ist an den Laptop von Person A angeschlossen.}

Man erkennt leicht, dass sich die Situation verändert hat. Man kann auch erkennen, dass die Ziel-Situation noch nicht erreicht ist. Damit die aktuelle Situation — beschrieben durch den Text T‘ — soweit verändert wird, dass die Zielsituation Z in der aktuellen Situation enthalten ist, müssen noch weitere Veränderungen vorgenommen werden.

Man kann auch erkennen, dass die Frage, welche Veränderungen vorgenommen werden sollen, und in welcher Abfolge, nicht festliegt. Es liegt an den Teilnehmern, zu entscheiden, welche Veränderungen sie für sinnvoll erachten. Ein ziemlich abruptes Ende könnte man mit folgender Regel erreichen:

VR2

WENN:

Die Konferenz hat noch nicht angefangen. Teilnehmer A ist vor Ort. Teilnehmer B ist da. Teilnehmer C ist eingewählt. Ein weißer Beamer steht auf dem Glastisch. Der Beamer ist noch nicht eingeschaltet. Die Konferenzmaschine ist an den Laptop von Person A angeschlossen.

DANN:

Plus:

Das Ende der Konferenz ist erreicht.

Die Teilnehmer konnten sich austauschen.

Der Beamer ist eingeschaltet.

Minus:

Die Konferenz hat noch nicht angefangen.

Der Beamer ist noch nicht eingeschaltet.

Man sieht unmittelbar, wie die Beschreibung des Konferenz-Prozesses mit dieser zweiten Veränderungsregel abrupt zum ‚Stillstand‘ kommt bei voller Erfüllung des Zieles:

T‘ = {Die Konferenz hat noch nicht angefangen. Teilnehmer A ist vor Ort. Teilnehmer B ist da. Teilnehmer C ist eingewählt. Ein weißer Beamer steht auf dem Glastisch. Der Beamer ist noch nicht eingeschaltet. Die Konferenzmaschine ist an den Laptop von Person A angeschlossen.}

Es sei VR2 = {WENN: Die Konferenz hat noch nicht angefangen. Teilnehmer A ist vor Ort. Teilnehmer B ist da. Teilnehmer C ist eingewählt. Ein weißer Beamer steht auf dem Glastisch. Der Beamer ist noch nicht eingeschaltet. Die Konferenzmaschine ist an den Laptop von Person A angeschlossen. DANN: Plus: Das Ende der Konferenz ist erreicht. Die Teilnehmer konnten sich austauschen. Der Beamer ist eingeschaltet. Minus: Die Konferenz hat noch nicht angefangen. Der Beamer ist noch nicht eingeschaltet.}

Durch ‚Anwendung‘ der Veränderungsregel VR2 auf den Text T‘ erhalten wir den neuen Text T“:

T“ = {Teilnehmer A ist vor Ort. Teilnehmer B ist da. Teilnehmer C ist eingewählt. Ein weißer Beamer steht auf dem Glastisch. Der Beamer ist eingeschaltet. Die Konferenzmaschine ist an den Laptop von Person A angeschlossen. Das Ende der Konferenz ist erreicht. Die Teilnehmer konnten sich austauschen.}

oksimoR Computerprogramm – So würde es dort aussehen

Wie auf der oksimo.org Webseite beschrieben, lässt sich dieses Konferenz-Sprachspiel (und natürlich viele andere auch) mit einer neuartigen Software unterstützen.[4] Eine Simulation mit der Startsituation, der Zielsituation und zwei Veränderungsregeln würde — leider noch in einer etwas schwer lesbaren Form (Die Entwickler lassen grüßen) — wie folgt aussehen:[5]

Your vision:
Die Teilnehmer konnten sich austauschen.,Das Ende der Konferenz ist erreicht.

Initial states: 
Die Konferenz hat noch nicht angefangen.,Die Konferenzmaschine ist an den Laptop von Person A angeschlossen.,Teilnehmer C hat sich noch nicht eingewählt.,Teilnehmer A ist vor Ort.,Ein weißer Beamer steht auf dem Glastisch.,Der Beamer ist noch nicht eingeschaltet.,Teilnehmer B ist noch nicht da.


Round 1

State rules:
vr-teilnehmer1 applied  (Prob: 100 Rand: 82/100)
vr-konferenz2 not applied (conditions not met)

Current states: Die Konferenz hat noch nicht angefangen.,Der Beamer ist noch nicht eingeschaltet.,Die Konferenzmaschine ist an den Laptop von Person A angeschlossen.,Teilnehmer B ist da.,Teilnehmer C ist eingewählt.,Teilnehmer A ist vor Ort.,Ein weißer Beamer steht auf dem Glastisch.
Current visions: Die Teilnehmer konnten sich austauschen.,Das Ende der Konferenz ist erreicht.

0.00 percent of your vision was achieved by reaching the following states:
None


Round 2

State rules:
vr-teilnehmer1 not applied (conditions not met)
vr-konferenz2 applied  (Prob: 100 Rand: 55/100)

Current states: Die Konferenzmaschine ist an den Laptop von Person A angeschlossen.,Der Beamer ist eingeschaltet.,Die Teilnehmer konnten sich austauschen.,Teilnehmer B ist da.,Teilnehmer C ist eingewählt.,Teilnehmer A ist vor Ort.,Das Ende der Konferenz ist erreicht.,Ein weißer Beamer steht auf dem Glastisch.
Current visions: Die Teilnehmer konnten sich austauschen.,Das Ende der Konferenz ist erreicht.

100.00 percent of your vision was achieved by reaching the following states:
Die Teilnehmer konnten sich austauschen.,Das Ende der Konferenz ist erreicht.

Wie man erkennen kann, sind die Namen der Zustände und Regeln im Programm leicht andere:

  1. Start-Situation , T <—-> ‚Initial state‘
  2. Ziel-Situation <—–> ‚Vision‘
  3. VR1 <—–> ‚vr-teilnehmer1‘
  4. VR2 <—–> ‚vr-konferenz2‘

Empirische Theorie

Soweit, so gut, bleibt noch die Frag offen, inwiefern das ‚Sprachspiel Konferenz‘ im vorliegenden Fall eine ‚empirische Theorie‘ erzeugt, und zwar ‚ganz nebenbei‘?

Hinsichtlich des Begriffs ‚Empirische Theorie‘ darf man nicht überrascht sein, wenn man weder in der Deutschen noch in der Englischen Wikipedia diesen Begriff findet.[6] Ich selbst verstehe den Begriff wie folgt:

  1. Es gibt eine Menge M von Aussagen über einen bestimmten Bereich, die alle Beteiligten als ‚zutreffend = wahr‘ annehmen. Das ‚Zutreffen‘ wird durch vereinbarte Vorgehensweisen (‚Messen‘) nachvollzogen.
  2. Es gibt eine Menge X von Veränderungsregeln (oft auch genannt ‚Axiome‘, ‚Naturgesetze‘, ‚Hypothesen‘, …), die bei bestimmten Bedingungen mögliche Ereignisse bzw. Veränderungen ankündigen (mit einer Wahrscheinlichkeit deutlich über 50%).
  3. Es gibt einen Ableitungsbegriff |– der festlegt, wie man aus ‚wahren Sätzen‘ und ‚Veränderungsregeln‘ zu Schlussfolgerungen (‚Prognosen‘) kommen kann.
  4. Mögliche Prognosen müssen sich nach vereinbarten Verfahren auch als ‚zutreffen = wahr‘ erweisen lassen, um akzeptiert zu werden.

Im vorausgehenden Beispiel gilt Folgendes:

  1. Die Menge M von Aussagen über einen bestimmten Bereich, die alle Beteiligten als ‚zutreffend = wahr‘ annehmen, wird im Beispiel durch die Ausdrucksmenge der Startkonfiguration gebildet.
  2. Die Menge X von Veränderungsregeln, die bei bestimmten Bedingungen mögliche Ereignisse bzw. Veränderungen ankündigen (mit einer Wahrscheinlichkeit deutlich über 50%), wird im Beispiel durch die Veränderungsregeln VR1 und VR2 gebildet.
  3. Der Ableitungsbegriff |– der festlegt, wie man aus ‚wahren Sätzen‘ und ‚Veränderungsregeln‘ zu Schlussfolgerungen (‚Prognosen‘) kommen kann, wird beschrieben durch die Art und Weise, wie man die Veränderungsregeln auf einen gegeben Text anwenden kann (was in der Software der sogenannte ‚Simulator‘ macht). Jede Veränderungsregel enthält in ihrem DANN-Teil mögliche Prognosen.
  4. Die Qualifizierung einer Prognose als ‚zutreffend = wahr‘ erfolgt durch die Benutzer der Theorie, indem Sie anhand ihres Verstehens und ihres Weltbezuges feststellen, ob die Bedeutung, die mit den sprachlichen Ausdrücken in ihnen wachgerufen werden, mit der aktuellen Weltwahrnehmung übereinstimmt oder nicht.

Im Lichte dieser Vereinbarungen muss man feststellen, dass eine Konferenz, die dem Muster dieses Sprachspiels folgt, als Prozess alle Elemente verwirklicht, die eine empirische Theorie ausmachen.

KOMMENTARE

[1] Alle notwendigen Details zu der Wasser-Konferenz im INM finden sich unter diesem Link.

[2] Natürlich gibt es noch viele weitere Möglichkeiten des Austausches durch körperliche Aktivitäten (Gesten, Gebärden, Gesichtsausdrücke, Kleidung, Tanzen, Liebkosen, Klänge, Melodien, Einzelbilder, Skulpturen,…), aber ein Austausch zum Zweck einer Verständigung darüber, wie die Welt‘ konkret beschaffen‘ ist bzw. sich auch ‚konkret verändern‘ kann, gelingt nur mit Sprache.

[3] Dass moderne Spracherkennungs- oder Übersetzungssysteme für den Benutzer den Eindruck erwecken, ‚als ob sie verstehen‘ liegt daran, dass diese Systeme sehr große Mengen an sprachlichen Ausdrücken — dann auch noch durch einen Verwendungszusammenhang im Internet kontextualisiert — rein statistisch so auswerten können, dass sie nur über die Ausdrucksseite der Sprache die Verwendung von sprachlichen Ausdrücken für viele täglichen Situationen zumindest annähern können. Für ernsthafte inhaltliche Gespräche sind diese Programme in keiner Weise geeignet. Anmerkung: mit den gleichen Verfahren kann man auch Musikstücke oder Bildfolgen generieren lassen. Diese ’statistischen Attrappen‘ von Bedeutung sind aber letztlich ‚brutal sinnlos‘.

[4] Diese liegt mittlerweile in Version Level 2 vor; an Level 3 wird gerade gearbeitet. Der Zugang zur Software läuft über die Adresse oksimo.com (bislang nur für registrierte Benutzer nach Absprache). Im übrigen wird man weitere Details über die Rubrik oksimo-R Software im oksimo.org Blog finden.

[5] Bei dem Ausdruck wurden einige weitere Feature weggelassen, über die das Programm zusätzlich verfügt. Vielleicht bei einem weiteren Beispiel.

[6] Am Beispiel der Englischen Wikipedia habe ich mal einige Sprachspiele im Bedeutungsfeld ‚Empirische‘ und ‚Wissenschaft‘ zusammengetragen und versucht, diese zu analysieren (siehe z.B. https://www.uffmm.org/2022/08/17/side-trip-to-wikipedia/ ). Die Begrifflichkeit wirkt verworren und ist wenig konsistent. Dies sollte nicht verwundern, da die offizielle Wissenschaftsphilosophie seit dem Ende des 19.Jahrhunderts bis heute zu keiner allgemein akzeptierten Fassung gefunden hat.

[7] Hier ist vielleicht auch der Ort, um auf die im Alltag häufig anzutreffende Unterscheidung zwischen ‚Fakten‘ und ‚Annahmen‘ einzugehen.

[7.1] FAKTEN: Eine typische Redewendung ist „Fakten sind gesetzt als wahr“ aber „Annahmen sind unsicher, sind Vermutungen, können falsch sein“. Wenn man sich die Situation vor Augen führt, die im Abschnitt ‚Drei Gehirne und ein Text‘ geschildert wird, dann dürfte klar sein, dass diese klare Unterscheidung vielleicht modifiziert werden müsste. Folgende ‚Ebenen‘ in der Benutzung von sprachlichen Ausdrücken legen sich für eine Unterscheidung nahe: (i) Die sprachlichen Ausdrücke als ‚physikalische Ereignisse‘ haben zunächst keinerlei weitere Bedeutung. (ii) Sprachliche Ausdrücke in der ‚Wahrnehmung von Menschen‘ können eine Bedeutung haben, wenn die jeweiligen Hörer-Sprecher die Sprache kennen, zu der diese Ausdrücke gehören. (iii) Wahrgenommene Ausdrücke einer bekannten Sprache sind normalerweise mit unterschiedlichen inneren Zuständen im Hörer-Sprecher verbunden, die man ‚Bedeutung‘ nennt. Diese sind überwiegend ‚unbewusst‘, in besonderen Situationen auch ‚bewusst‘ (z.B. wenn man sich erinnert).(iv) Durch sprachliche Ausdrücke aktiviertes Bedeutungs-Wissen kann in speziellen Fällen mit einer anderen sinnlichen Wahrnehmung korrelieren, die als ein mögliches Beispiel (als ‚Instanz‘) der aktivierten Bedeutung angesehen wird. In diesem Fall hat die ‚gewusste Bedeutung‘ einen kognitiven Bezug zu einem ’sinnlichen Ereignis‘, das als ‚etwas in der externen Körperwelt‘ interpretiert wird. Dieser ‚empirische Bezug‘ kann im Alltag verschiedene Formen annehmen: (iv.1) Im einfachen Fall begnügt man sich mit der individuellen Alltagswahrnehmung ohne besondere Hilfsmittel. (iv.2) Im verschärften Fall sollen mehrere Personen im Rahmen ihrer Alltagswahrnehmung zustimmen. (iv.3) In einem ‚objektivierenden‘ Fall gibt es ‚vereinbarte Verfahren‘ (Standards, Messverfahren), mit denen man das Vorliegen und Zutreffen einer Eigenschaft (Ausdehnung, Gewicht, Temperatur, …) protokolliert/ misst. (iv.4) In einer weiter verschäften Form müssen alle Hilfsmittel, die in einem offiziellen Messverfahren benutzt werden, von einer offiziellen Institution ‚zertifiziert‘ sein. Die Qualifizierung eines sprachlichen Ausdrucks als ‚empirische Aussage‘ kann also viele Schattierungen aufweisen. Zu sagen, es handle sich bei den ‚Inhalten‘ einer empirischen Aussage um ‚Fakten‘ bedeutet primär also, dass das Zutreffen einer bestimmten ‚Eigenschaft‘, die als ‚Bedeutung‘ mit dem Ausdruck verknüpft ist, im Rahmen einer — möglicherweise gestuften — Alltagserfahrung als ‚zutreffend‘ (und in diesem Sinne als ‚wahr‘) angenommen wird. Im Alltag kann es sehr viele sprachliche Ausdrücke geben, die von den Sprachteilnehmern so qualifiziert werden können. Wenn jetzt eine ausgezeichnete Gruppe von Menschen gemeinsam eine Theorie T entwickeln möchte, dann müssen diese aus der großen Menge F der möglichen Fakten-Aussagen eine kleine Teilmenge F* auswählen, die im Rahmen ihrer Theorie T gelten sollen. Diese ausgewählte Menge an Fakten-Aussagen F* kann man dann als die ‚Menge der als zutreffen (wahr) angenommen Aussagen für die Theorie T‘ bezeichnen.

[7.2] ANNAHMEN: Im Rahmen einer Theorie reicht es ja nicht aus, als Ausgangsmenge eine Reihe von Fakten-Aussagen anzunehmen, sondern man muss auch in der Lage sein, mindestens eine ‚Veränderungs-Aussage‘ formulieren zu können, die beschreibt, wie sich aus einer gegebenen Konstellation von faktischen (= empirischen) Eigenschaften etwas ‚Neues‘ (mit einer Wahrscheinlichkeit größer 50%) ergeben kann bzw. wird, wenn diese Konstellation gegeben ist. Die minimale Struktur einer solchen Veränderungsaussage ist immer ein BEDINGUNGSTEIL (welche Ausgangsbedingungen gegeben sein müssen) und ein WIRKUNGSTEIL (welche Eigenschaften sich an der Ausgangslage dann auf welche Weise ändern werden). Die ‚vermuteten‘ Wirkungen werden als Ausdrücke formuliert, die empirische zutreffen können oder nicht. Insofern gleichen die Wirk-Aussagen den normalen Fakten-Aussagen. Während ’normale‘ Fakten-Aussagen aber so genannt werden, weil sie von allen Beteiligten entsprechend ‚qualifiziert‘ worden sind, müssen die ‚Wirk-Aussagen‘ sich erst noch als ‚empirische zutreffend‘ erweisen, indem es gelingt, sie empirisch zu qualifizieren. Im Alltag gibt es aber auch hier grobe Unterscheidungen wie etwa: (i) Reine Vermutung; keine Ahnung ob das klappt; (ii) Das haben wir schon mal gemacht; da hat es gut geklappt; (iii) Das machen wir seit Jahren so; hat fast immer geklappt; (iv) Es gibt dazu offizielle Testreihen, die dieses Vorgehen stark unterstützen; (v) Dies Verfahren ist mehrfach getestet und vielfach angewendet worden; bislang wurden keine Probleme bekannt.

Ein Überblick über alle Beiträge des Autors nach Titeln findet sich HIER.

POPPER: FRÜH – MITTEL – SPÄT. Empirische Theorie

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 13.März 2022 – 13.März, 11:11h
URL: cognitiveagent.org, Email: info@cognitiveagent.org
Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@doeben-henisch.de)

Kontext

Bei diesem Beitrag handelt es sich um die Fortsetzung des Diskurses zu den zuvor besprochenen Artikeln von Popper:  „A World of Propensities“ (1988, 1990),  „Towards an Evolutionary Theory of Knowledge“ (1989,1990)[1] sowie „All Life is Problem Solving“ (1991, 1994/1999). [2] Der Beitrag „(SPÄTER) POPPER – WISSENSCHAFT – PHILOSOPHIE – OKSIMO-DISKURSRAUM“ spielt hier keine Rolle. Es wird aber direkt Bezug genommen auf einen Text von Popper von 1971 „Conjectural Knowledge: My Solution of the Problem of Induction.“[3],[4] Dieser wurde in meinem Englischen Blog diskutiert „POPPER – Objective Knowledge (1971). Summary, Comments, how to develope further„.

Vorbemerkung

Die Begegnung des Autors mit Popper spielt sich in unterschiedlichen Etappen ab. Die erste Begegnung fand statt im März 2021 mit einer Diskussion der ersten 17 Kapitel von Popper’s Frühwerk „Logik der Forschung“ (1935), allerdings in der Englischen Fassung von 1959.[5] Diese erste Begegnung war eingebettet in eine größere Diskussion (mehrere längere Posts) zum Theoriebegriff und dem Zusammenhang mit dem oksimo Projekt.

In dieser ersten Begegnung wurde die Position Poppers vornehmlich wahrgenommen aus einer bestimmten, schon bestehenden wissenschaftsphilosophischen Perspektive, zusätzlich eingefärbt durch den Blick auf die Anwendbarkeit dieses Theoriebegriffs auf das oksimo Projekt. Wenngleich für den Autor in vielfacher Hinsicht sehr erhellend, kommt die Position Popper’s nicht so richtig zum Vorschein.

Erste die Lektüre von drei Beiträgen Popper’s aus der Zeit 1988 – 1991 führte zu einer neuen mehr Popper-zentrierten Wahrnehmung. In diesem Spannungsfeld von ‚frühem‘ Popper 1935/1959 und ’spätem‘ Popper 1988 – 1991 führte die Begegnung mit dem Text des ‚mittleren‘ Popper von 1971 zu einer sehr direkten Begegnung, die die Gedanken zu Popper weiter belebten.

Popper: Früh – Mittel – Spät

Die hier provisorisch vorgenommene Einordnung Poppers in einen ‚frühe‘, bzw. ‚mittleren‘ bzw. ’späten‘ Popper ist natürlich — gemessen an dem gesamten Werk Poppers ein bisschen gewagt. Dies entspricht aber letztlich dem Stil einer Theoriebildung im Sinne von Popper, in der — ausgehend von einzelnen Beobachtungen –, schrittweise Hypothesen gebildet werden, die dann versuchsweise angewendet werden. Im Scheitern bzw. in partiellen Bestätigungen entwickelt sich dann solch eine Theorie weiter. Eine ‚absolute Endform‘ wird sie nie haben, aber sie kann immer differenzierter werden, begleitet von immer stärkeren ‚Evidenzen‘, die allerdings ‚Wahrheit‘ niemals ersetzen können.

So also hier eine meine ‚Mini-Theorie‘ über Popper anhand von nur vier Artikeln und 17 Kapiteln aus einem Buch.

Bei meiner bisherigen Lektüre entsteht der Eindruck, dass die Strukturen des ‚frühen‘ (1935 – 1959) Popper denen des mittleren‘ (1971) Popper sehr ähnlich sind. Die Texte des ’späten‘ (1988 – 1991) Popper hingegen bringen einen starken neuen Akzent in die Überlegungen ein.

Wahrheit ohne Wahrheit

Ein Grundthema des frühen und mittleren Popper ist einerseits die starke Betonung, dass ‚Wahrheit‘ — zumindest als ‚regulative Idee‘ — unverzichtbar ist, soll empirische Wissenschaft stattfinden, andererseits aber sein unermüdliches Bemühen, darauf hinzuweisen, dass die Aussagen einer Theorie, selbst wenn sie sich eine lange Zeit ‚bewährt‘ haben, dennoch keine ‚absolute Wahrheit‘ widerspiegeln; sie können jederzeit widerlegt werden.[6] Diese Position führt ‚aus sich heraus‘ natürlich zu der Frage, was denn ‚Wahrheit als regulative Idee‘ ist bzw. zu der komplementären Frage, welchen ‚Status‘ dann jene Aussagen haben, auf die Theorieentwürfe aufbauen. Was ist eine ‚Beobachtungsausage‘ (Spezialfall ein ‚Messwert‘), die zum Ausgangspunkt von Theorien werden?

Poppers Prozessmodell von Wahrheit

Man kann Poppers Konzept einer objektiven (= ‚wahren‘) empirischen Theorie von ihren ‚Bestandteilen‘ her als ein ‚Prozessmodell‘ rekonstruieren, in dem sich — auf eine nicht wirklich geklärte Weise — beobachtungsgestützte Aussagen mit einem formalen Konzept von Logik ‚vereinen‘. Details dazu finden sich in einem Englischen Blogbeitrag des Autors.

Popper löst das Problem der notwendigen Wahrheit, die eigentlich nicht da ist, aber irgendwie dann doch, indem er in seinem 1971-Text [4] die einzelnen Aspekte dieses Wahrheitsbegriffs schildert und sie dann auf den letzten Seiten (29-31) wie in einem ‚Puzzle‘ zusammenfügt, allerdings so, dass viele Details offen bleiben.

Primären Halt in der empirischen Realität bieten Beobachtungssätze, die im Fall der Überprüfung einer Theorie, die Rolle von ‚Testsätzen‘ übernehmen. Die Theorie selbst besteht aus einer Ansammlung von ‚Hypothesen‘ (‚conjectures‘), in denen einzelne Beobachtungsaussagen zueinander in Beziehung gesetzt werden, die als solche natürlich nicht beobachtet (‚gemessen‘) werden können.[7]

Bei dem Übergang vom ‚Beobachtungswert‘ (‚Messwert‘) zur ‚Hypothese‘ finden aber unweigerlich ‚Verallgemeinerungen‘ statt [8], die dann sprachlich repräsentiert werden. Nur die ‚teilnehmenden‘ Beobachter wissen ‚implizit‘, auf welches konkrete Ereignis sie sich mit ihren sprachlichen Ausdrücken beziehen. Der Versuch der Wissenschaft, dieses Problem des ‚impliziten‘ (= subjektiven)‘ Wissens durch vereinbarte Messprozeduren aufzulösen, hilft nur partiell. Das Zustandekommen des Beobachtungsereignisses wird damit zwar ‚objektiviert‘, aber die ‚Übersetzung‘ dieses objektivierten Ereignisses, das als Wahrnehmungsphänomen bei den teilnehmden Beobachtern ‚ankommt‘, wird im Beobachter ‚unbewusst‘ zu einem Konzept verarbeitet, dass dann in einen sprachlichen Ausdruck transformiert wird, der dann als Beobachtungsaussage ‚funktioniert‘. Alle, die an diesem ‚Spiel‘ [9] teilnehmen, wissen, wie sie sich verhalten sollen. Ein ‚Außenstehender‘ versteht es nicht automatisch.

Anders betrachtet, selbst objektivierenden Beobachtungsprozesse klammern die subjektvie Komponenten nicht völlig aus.

Hat man verallgemeinernde Beobachtungsaussagen („Der Main-Kinzig Kreis hat 2018 418.950 Einwohner.“, „Dieser Stein wiegt 4.5 kg.“, „Das Wasser hat eine Temperatur von 13 Grad Celsius.“) , dann kann man auf dieser Basis versuchen, Hypothesen zu bilden (z.B. bzgl. des Aspektes möglicher Veränderungen wie Einwohnerzahl, Länge, Temperatur). Im Fall der Einwohnerzahl bräuchte man dann z.B. Beobachtungen zu mindestens zwei verschiedenen Zeitpunkten‘ (2018, 2019)[14], um aus der ‚Differenz‘ Hinweise ‚abzuleiten‘, welches Ausmaß ein ‚Wachstumsfaktor‘ haben könnte. Im Fall des Main-Kinzig Kreises wird für diesen Zeitraum z.B. ein Wachstumsfaktor von 0.4% ermittelt.

Wie ist solch ein ‚abgeleiteter Wachstumsfaktor‘ einzuordnen? Er beschreibt eine ‚abgeleitete‘ Größe, mit der man eine Formel bilden könnte wie ‚Die Einwohnerzahl im Jahr t+1 = Einwohnerzahl im Jahr t + (Einwohnerzahl im Jahr t * Wachstumsfaktor). Dies ist eine Rechenanweisung, die mit beobachteten Größen (Einwohnerzahl) und daraus abgeleiteten mathematischen Eigenschaften (Wachstumsfaktor) eine ‚Voraussage‘ berechnen lässt, wie die Einwohnerzahl in nachfolgenden Jahren aussehen [14] würde, wenn der Wachstumsfaktor sich nicht verändern würde.

Klar ist, dass solch ein sprachlicher Ausdruck seine Bedeutung aus dem ‚Bedeutungswissen‘ der Teilnehmer bezieht. Der Ausdruck selbst ist nichts anderes als eine Menge von Zeichen, linear angeordnet. Also auch hier eine fundamentale ’subjektive Dimension‘ als Voraussetzung für ein ‚objektives Agieren‘.

Diese Aspekte sprachlicher Bedeutung und deren Verankerung in der inneren Struktur der Beobachter und Theoriebauer [10] diskutiert Popper nicht explizit. Wohl postuliert er eine ‚Logik‘, die die ‚Herleitung‘ von Prognosen aus den theoretischen Annahmen beschreiben soll.

Die moderne formale Logik hat viele wunderbare Eigenschaften, aber eines hat sie nicht: irgendeinen Bezug zu irgendeiner Bedeutung‘. In einem formalen Logikkalkül [11] gibt es eine Menge von formalen Ausdrücken, die als ‚Annahmen‘ funktionieren sollen, und das einzige, was man von diesen wissen muss, ist, ob sie als ‚wahr‘ eingestuft werden (was bei Annahmen der Fall ist). Was mit ‚wahr inhaltlich gemeint ist, ist aber völlig unbestimmt, zumal formale Ausdrücke als solche keine Bedeutung haben. Wenn es eine Bedeutung geben soll, dann muss man die formalen Ausdrücke an die ’subjektive Bedeutungsdimension der Teilnehmer‘ knüpfen, die nach Bedarf spezielle Messverfahren zu Hilfe nehmen.

Angenommen, man hat die ‚formalisierten Ausdrücke‘ mit den verallgemeinerten Aussagen der Hypothesen verknüpft [12] und man nutzt die Logik, um ‚Ableitungen‘ zu machen, die zu ‚Prognosen‘ führen[13], dann stellt sich das Problem, wie man das Verhältnis einer ‚abgeleiteten‘ Aussage zu einer ‚Beobachtungsaussage‘ bestimmten soll. Popper benutzt hier zwar Klassifikationen wie ‚bestätigend‘, ’nicht bestätigend‘, ‚falsifiziert‘, aber eine Diskussion im Detail zu „A bestätigt B“/ „A bestätigt B nicht“/ „A falsifiziert B“ scheitert an vielen ungeklärten Details und Randbedingungen, die im vorausgehenden Text nur angedeutet werden konnten.

Der Diskurs geht weiter.

Kommentare

[1] Karl Popper, „A World of Propensities“,(1988) sowie „Towards an Evolutionary Theory of Knowledge“, (1989) in: Karl Popper, „A World of Propensities“, Thoemmes Press, Bristol, (1990, repr. 1995)

[2] Karl Popper, „All Life is Problem Solving“, Artikel, ursprünglich ein Vortrag 1991 auf Deutsch, erstmalig publiziert in dem Buch (auf Deutsch) „Alles Leben ist Problemlösen“ (1994), dann in dem Buch (auf Englisch) „All Life is Problem Solving“, 1999, Routledge, Taylor & Francis Group, London – New York

[3] Karl R.Popper, Conjectural Knowledge: My Solution of the Problem of Induction, in: [2], pp.1-31

[4] Karl R.Popper, Objective Knowledge. An Evolutionary Approach, Oxford University Press, London, 1972 (reprint with corrections 1973)

[5] Karl Popper, The Logic of Scientific Discovery, First published 1935 in German as Logik der Forschung, then 1959 in English by  Basic Books, New York (more editions have been published  later; I am using the eBook version of Routledge (2002))

[6] Popper verweist hier gerne und häufig auf die Geschichte der Physik mit den unterschiedlichen Konzepten, wie man die Erde als Teil des Sonnensystems und dann später das ganzen Universums beschrieben hat bzw. heute beschreibt. Hauptbeispiel: Newtons System, das dann mit immer neuen Beobachtungen und dann schließlich mit Einsteins Relativitätstheorie als ‚zu eng‘ klassifiziert wurde.

[7] ‚Beziehungen‘ existieren ausschließlich in unserem ‚Denken‘ (das alte Hume Problem, das Kant schon zu lösen versuchte, und das Popper in seinen Texten wieder und wieder aufgreift). Wenn wir diese ‚gedachten Beziehungen‘ in die beobachtbaren Einzelereignisse (Zeit, Ort, Beobachter) ‚hinein-sehen‘, dann ist dies der Versuch, zu ‚prüfen‘, ob diese Beziehung sich ‚bestätigen‘ oder ‚widerlegen‘ lässt. Anmerkung: die moderne expermentelle Psychologie (auch als Neuropsychologie) hat diese Sachverhalte extensiv untersucht und mit neuen Evidenzen versehen.

[8] Wie die Alltagssprache zeigt — und die moderne Wissenschaft bestätigt –, werden konkrete empirische Phänomene immer abstrakten Konzepten zugeordnet, die dann mit Allgemeinbegriffen verknüpft werden. Ob ein konkretes Wahrnehmungsereignis zu einem abstrakten Konzept X (z.B. ‚Tasse‘) oder Y (z.B. ‚Glas‘) gehört, das entscheidet das Gehirn unbewusst (Menschen können nur entscheiden, welche sprachlichen Ausdrücke sie verwenden wollen, um die kognitven Konzepte zu ‚benennen‘).

[9] … erinnert an das Sprachspielkonzept des späten Wittgenstein …

[10] Manche glauben heute, dass die Rolle des ‚Beoachters‘ und/oder des ‚Theoriebauers‘ von ‚intelligenten Programmen‘ übernommen werden können. In ‚Kooperation mit Menschen‘ im Rahmen eines modernen Konzepts von ‚kollektiver Intelligenz‘ kann es funktionieren, aber nur in Kooperation.

[11] Es gibt nicht nur ‚einen‘ Logikkalkül, sondern — rein formal — nahezu unendliche viele. Welcher für welche Aufgabenstellung ‚geeignet‘ ist, muss im Rahmen einer konkreten Aufgabe ermittelt werden.

[12] In der Wisenschaftsphilosophie ist dies bis heute noch nicht so gelöst, dass es dazu ein allgemein akzeptiertes Verfahren gibt.

[13] Da es viele verschiedene Ableitungsbegriffe gibt, von denen bis heute kein einziger meta-theoretisch für bestimmte empirische Bereich als ‚zuverlässig im Sinne eines Kriteriums K‘ erwiesen wurde, ist die lose Bezugnahme auf einen solchen Ableitungsbegriff eigentlich zu wenig.

[14] An dieser Stelle wird deutlich, dass das Beobachten wie auch dann die Auswertung von einer ‚Menge‘ von Beobachtungswerten in unserer Körperwelt ein ‚Zeitmodell‘ voraussetzt, in dem Ereignisse ein ‚vorher‘ und ’nachher‘ haben, so dass das Konzept einer ‚Prognose’/ ‚Voraussage‘ überhaupt Sinn macht.

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