Archiv der Kategorie: Kreativität

INDIVIDUUM vs. SYSTEM: Wenn das Individuum tot ist wird das System sterben …

1. Die folgenden Überlegungen müsste man eigentlich mit viel Mathematik und Empirie untermauert hinschreiben. Da ich aber auf Wochen absehbar dazu nicht die Zeit haben werde, ich den Gedanken trotzdem wichtig finde, notiere ich ihn so, wie er mir jetzt in die Finger und Tasten fließt …

PARADOX MENSCH Mai 2012

2. Am 4.Mai 2012 – also vor mehr als 2 Jahren – hatte ich einen Blogeintrag geschrieben (PARADOX MENSCH), in dem ich versucht hatte, anzudeuten, wie der eine Mensch in ganz unterschiedlichen ’sozialen Rollen‘, in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten vorkommt und dort, je nach Handlungs-, Wissens- und Werteraum ganz verschiedene Dinge tun kann. Derselbe Mensch kann hundert Tausende für sich bis zum umfallen Arbeiten lassen und selbst dabei ‚reich‘ und ‚genussvoll‘ in den Tag hinein leben oder er kann als genau dieser einzelner in einer Werkhalle stehen und für einen Hungerlohn bei miserablen Bedingungen sein Leben aufarbeiten, ohne viel darüber nachdenken zu können, wie er sein Leben ändern könnte. Der Mensch in der Werkhalle kann viel intelligenter, viel begabter sein als der, der die hundert Tausende befehligt, aber der in der Werkhalle hat keine sozialen Räume, um diese seine Begabungen ausleben zu können. Vielleicht wäre er ein mathematisches Genie, ein großer Pianist, ein begnadeter Architekt, eine wunderbare Krankenschwester, ein(e) …. wir werden es in der aktuellen Situation nicht wissen, es sei denn …

3. Was sich in dem Blogeintrag von 2012 andeutet, aber nicht explizit ausgeführt wird, das ist diese ‚doppelte Sicht‘ auf die Wirklichkeit:

INDIVIDUELL-SUBJEKTIV, SYSTEMISCH – TRANSSUBJEKTIV

4. als Individuen, als einzelne ‚erleben‘ wir die Welt aus unserer subjektiven Perspektive, mit unserem einzelnen Körper, finden uns vor in einem gesellschaftlichen Kontext, der uns als Kinder ‚empfängt‘ und der von Anfang an ‚mit uns umgeht‘. Als Kinder können wir fast nichts machen; wir sind ‚Gegenstand‘ dieser Prozesse‘, sehr oft einfach nur ‚Opfer‘; der Prozess ‚macht mit uns‘ etwas. Wie wir wissen können, gibt es hier die volle Bandbreite zwischen Hunger, Quälereien, Missbrauch, Folter, Arbeit bis hin zu friedlicher Umgebung, umsorgt werden, genügend (zu viel) zu Essen haben, spielen können, lernen können usw.

5. Wir erleben die Welt aus dieser EGO-Perspektive mit dem individuellen Körper, seinem Aussehen, seiner Motorik, seinen Eigenheiten in einer Umgebung, die ihre Spielregeln hat, unabhängig von uns. Wir gewinnen ein BILD von uns, das sich über die Umgebung formt, bildet, zu unserem Bild über uns wird, eine Rückspiegelung von uns unter den Bedingungen der Umgebung. Jemand hat die Begabung zu einem Ingenieure, wird aber immer nur belohnt und unterstützt, wenn er etwas ganz anderes macht, also wird er normalerweise nie Ingenieure werden. … Wer nur überlebt, wenn er lernt sich anzupassen oder andere mit Gewalt niederhält, permanent Angst um sich verbreitet, der wird selten zu einem ‚friedlichen‘, ‚umgänglichen‘ Gegenüber …

6. Aus Sicht ‚der Welt‘, der sozialen Struktur, der Firma, der Behörde, kurz, aus Sicht ‚des Systems‘ ist ein einzelner immer dasjenige ‚Element‘, das ‚im Sinne des Systems‘ ‚funktioniert‘! Wer Lehrer in einer Schule geworden ist, wurde dies nur, weil es das ‚System Schule‘ gibt und der einzelne bestimmte ‚Anforderung‘ ‚erfüllt‘ hat. Solange er diese Anforderungen erfüllt, kann er in dem ‚System Schule‘ das Element genannt ‚Lehrer‘ sein.

7. Das System interessiert sich nicht dafür, ob und wie das einzelne Element Lehrer auf seiner subjektiven Seite die alltäglichen Ereignisse, Erlebnisse, Anforderungen verarbeitet, verarbeiten kann; wenn das Element ‚Lehrer‘ im Sinne des Systems ‚Schwächen‘ zeigt, Anforderungen länger nicht erfüllen kann, dann muss das System dieses ’schwächelnde Element‘ ‚entfernen‘, da es ansonsten sich selbst schwächen würde. Das ‚System Schule‘ als gesellschaftliches System bezieht seine Berechtigung aus der Systemleistung. Wird diese nicht erbracht, dann gerät es – je nach Gesellschaft – unter Druck; dieser Druck wird auf jedes einzelne Element weiter gegeben.

8. Solange ein einzelnes Element die Systemanforderungen gut erfüllen kann bekommt es gute Rückmeldungen und fühlt sich ‚wohl‘. Kommt es zu Konflikten, Störungen innerhalb des Systems oder hat das individuelle Element auf seiner ’subjektiven Seite‘ Veränderungen, die es ihm schwer machen, die Systemanforderungen zu erfüllen, dann gerät es individuell unter ‚Druck‘, ‚Stress‘.

9. Kann dieser Druck auf Dauer nicht ‚gemildert‘ bzw. ganz aufgelöst werden, wird der Druck das individuelle Element (also jeden einzelnen von uns) ‚krank‘ machen, ‚arbeitsunfähig‘, ‚depressiv‘, oder was es noch an schönen Worten gibt.

MENSCHENFREUNDLICHE SYSTEME

10. In ‚menschenfreundlichen‘ Systemen gibt es Mechanismen, die einzelnen, wenn Sie in solche Stresssituationen kommen, Hilfen anbieten, wie der Druck eventuell aufgelöst werden kann, so dass das individuelle Element mit seinen Fähigkeiten, Erfahrungen und seinem Engagement mindestens erhalten bleibt. In anderen – den meisten ? — Systemen, wird ein gestresstes Element, das Ausfälle zeigt, ‚ausgesondert‘; es erfüllt nicht mehr seinen ’systemischen Zweck‘. Welche der beiden Strategien letztlich ’nachhaltiger‘ ist, mehr Qualität im System erzeugt, ist offiziell nicht entschieden.

11. In ‚menschenfreundlichen Gesellschaftssystemen‘ ist für wichtige ‚Notsituationen = Stresssituationen‘ ‚vorgesorgt‘, es gibt systemische ‚Hilfen‘, um im Falle von z.B. Arbeitslosigkeit oder Krankheit oder finanzieller Unterversorgung unterschiedlich stark unterstützt zu werden. In weniger menschenfreundlichen Systemen bekommt das einzelne Element, wenn es vom ‚System‘ ‚ausgesondert‘ wird, keinerlei Unterstützung; wer dann keinen zusätzlichen Kontext hat, fällt ins ‚gesellschaftliche Nichts‘.

12. Unabhängig von ökonomischen und gesellschaftlichen Systemen bleiben dann nur ‚individuell basierte Systeme‘ (Freundschaften, Familien, Vereine, private Vereinigungen, …), die einen ‚Puffer‘ bilden, eine ‚Lebenszone‘ für all das, was die anderen Systeme nicht bieten.

INDIVIDUELLE GRATWANDERUNG

13. Ein einzelner Mensch, der sein Leben sehr weitgehend darüber definiert, dass er ‚Systemelement‘ ist, d.h. dass er/sie als Element in einem System S bestimmte Leistungen erbringen muss, um ‚mitspielen‘ zu können, und der für dieses ‚Mitspielen‘ einen ‚vollen Einsatz‘ bringen muss, ein solcher Mensch vollzieht eine permanente ‚Gratwanderung‘.

14. Da jeder einzelne Mensch ein biologisches System ist, das einerseits fantastisch ist (im Kontext des biologischen Lebens), andererseits aber natürliche ‚Grenzwerte‘ hat, die eingehalten werden müssen, damit es auf Dauer funktionieren kann, kann ein einzelner Mensch auf Dauer als ‚Element im System‘ nicht ‚absolut‘ funktionieren; es braucht Pausen, Ruhezonen, hat auch mal ’schwächere Phasen‘, kann nicht über Jahre vollidentisch 100% liefern. Dazu kommen gelegentliche Krankheiten, Ereignisse im ‚privaten Umfeld, die für die ‚Stabilisierung‘ des einzelnen wichtig sind, die aber nicht immer mit dem ‚System‘ voll kompatibel sind. Je nach ‚Menschenunfreundlichkeit‘ des Systems lassen sich die privaten Bedürfnisse mit dem System in Einklang bringen oder aber nicht. Diese zunächst vielleicht kleinen Störungen können sich dann bei einem menschenunfreundlichem System auf Dauer zu immer größeren Störungen auswachsen bis dahin, dass das einzelne individuelle Element nicht mehr im System funktionieren kann.

15. Solange ein einzelnes Element nur seine ’subjektive Perspektive‘ anlegt und seine eigene Situation nur aus seiner individuellen Betroffenheit, seinem individuellen Stress betrachtet, kann es schnell in eine Stimmung der individuellen Ohnmacht geraten, der individuellen Kraftlosigkeit, des individuellen Versagens verknüpft mit Ängsten (eingebildeten oder real begründet), und damit mit seinen negativen Gefühlen die negative Situation weiter verstärken. Das kann dann zu einem negativen ‚Abwärtsstrudel‘ führen, gibt es nicht irgendwelche Faktoren in dem privaten Umfeld, die dieses ‚auffangen‘ können, das Ganze zum ‚Stillstand‘ bringen, ‚Besinnung‘ und ’neue Kraft‘ ermöglichen und damit die Voraussetzung für eine mögliche ‚Auflösung der Stresssituation‘ schaffen.

16. Menschen, die annähernd 100% in ihr ‚Element in einem System‘ Sein investieren und annähernd 0% in ihr privates Umfeld, sind ideale Kandidaten für den individuellen Totalcrash.

17. ‚Plazebos‘ wie Alkohol, Drogen, punktuelle Befriedigungs-Beziehungen, bezahlte Sonderevents und dergleichen sind erfahrungsgemäß keine nachhaltige Hilfe; sie verstärken eher noch die individuelle Hilflosigkeit für den Fall, dass es ernst wird mit dem Stress. Denn dann helfen alle diese Plazebos nichts mehr.

WAS WIRKLICH ZÄHLT

18. Das einzige, was wirklich zählt, das sind auf allen Ebenen solche Beziehungen zu anderen, die von ‚tatsächlichem‘ menschlichen Respekt, Anerkennung, Vertrautheit, Zuverlässigkeit, und Wertschätzung getragen sind, dann und gerade dann, wenn man phasenweise seine ‚vermeintliche Stärke‘ zu verlieren scheint. Das umfasst private Wohnbereiche zusammen mit anderen sowie ‚echte‘ Freundschaften, ‚echte‘ Beziehungen, ‚gelebte‘ Beziehungsgruppen, ‚Gefühlter Sinn‘, und dergleichen mehr.

LOGIK DES SYSTEMS

19. Die ‚Logik der Systeme‘ ist als solche ’neutral‘: sie kann menschenrelevante Aspekte entweder ausklammern oder einbeziehen. Solange es ein ‚Überangebot‘ an ‚fähigen Menschen‘ für ein System gibt, kann es vielleicht menschenrelevante Aspekte ‚ausklammern‘, solange das ‚gesellschaftliche Umfeld‘ eines Systems die ‚Störungen absorbiert‘. Wie man weiß, kann aber die ‚Qualität‘ eines Systems erheblich leiden, wenn es die ‚menschenrelevanten‘ Aspekte zu stark ausklammert; auch wird ein gesellschaftliches Umfeld – wie uns die Geschichte lehrt – auf Dauer ab einem bestimmten Ausmaß an zu absorbierenden Störungen instabil, so dass auch die für sich scheinbar funktionierenden Systeme ins Schwanken geraten. Die Stabilität eines Systems ist niemals unabhängig von seiner Umgebung. So führte historisch eine auftretende krasse Vermögens- und Arbeits-Ungleichverteilung immer wieder zu starken Turbulenzen, Revolutionen, in denen Menschen sich wehren. Denn letztlich sind alle absolut gleich, jeder hat die gleichen Rechte. Das einseitige Vorenthalten von Rechten bei den einen und die einseitige Privilegierung für wenige andere hat nahezu keine Begründung in einem persönlichen Besser sein, sondern ist fast ausschließlich systemisch-historisch bedingt. Da ‚Privilegieninhaber‘ von sich aus fast nie freiwillig auf ihre Privilegien verzichten wollen und alles tun, um diese ‚abzusichern‘, wird ein systemisches Ungleichgewicht in der Regel immer schlechter; dies ist nicht nachhaltig; letztendlich führt es zur De-Stabilisierung und damit in chaotische Zustände, in der es nicht notwendig ‚Gewinner‘ geben muss, aber auf jeden Fall viele Verlierer.

20. Ein ganz anderer Aspekt ist die globale Verarmung aller Systeme, die die individuellen Potentiale systemisch unterdrücken. Da fast jeder Mensch gut ist für etwas Besonderes, führt die ‚Einkastelung‘ der Individuen in ‚tote Elemente‘ eines Systems zwangsläufig zu einer ungeheuren Ressourcenverschwendung und Verarmung, die dem System selbst wertvollste Ressourcen entzieht. Der ‚Tod des Individuums‘ ist daher auf Dauer auch über die ‚Verarmung‘ des Systems auch ein ‚Tod des Systems‘. Jedes System, das nachhaltig die Potentiale seiner Individuen samt ihrer Privatheit besser fördert und entwickelt als ein Konkurrenzsystem, wird auf Dauer besser und stabiler sein.

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NOTIZ: KOEVOLUTION IM ALLTAG (Viren)

1. In diesem Blog zieht sich das Thema ‚Evolution‘ wie ein roter Faden durch sehr viele Beiträge. Teil von Evolution ist ‚Ko-Evolution‘: immer dann, wenn eine ‚Umgebung‘ selbst wieder aus ‚Populationen‘ besteht, die für andere Populationen als ‚Umgebung‘ auftreten, immer dann kommt es unausweichlich zu einer Wechselwirkung zwischen den Populationen untereinander.
2. Eine Form von ‚Ko-Evolution‘, die uns oft betrifft, ist das Auftreten von Bakterien und Viren, die wir als ‚Krankheit‘ (z.B. als ‚Influenza‘) erleben können.
3. So sind wir z.B. daran ‚gewöhnt‘, dass alljährlich in der sonnenarmen Zeit ‚Grippen‘ auftreten. In diesem Jahr ist besonders auffällig, dass die ‚Erscheinungsform‘ der Grippe(n?) deutlich anders ist: nicht so sehr krasse Formen von Fieber, Schnupfen, Husten, dennoch aber große Erschöpfung, Schwäche, starke Müdigkeit, und das über 4-8 Wochen, und sogar länger. In der Regel bleibt nur ‚Ruhe‘. In einer arbeitsintensiven Welt gelingt dies mal eine Woche, zwei Wochen sind schon schwierig, noch länger ist in der Regel eine größeres Problem. Und damit eröffnet sich für einen Virus eine interessante Perspektive: das ‚Wirtssystem‘ (der Mensch) versucht irgendwie seinem ’normalen‘ Leben nach zu gehen und schwächt sich dadurch in der Abwehr. Dies eröffnet dem Virus eine günstige Umgebung, da damit das Immunsystem geschwächt ist.
4. In meiner Umgebung habe ich von vielen Menschen (alle Altersgruppen) von diesen Phänomenen gehört. Mir bekannte Ärzte berichten von vollen Praxen, ohne dass sie viel tun können. Bei einem Buchbeitrag, wo ich angeblich der Allerletzte mit meinem Beitrag war, jenseits der Deadline, war plötzlich viel Zeit, weil mehr als die Hälfte der Autoren durch ‚Grippe‘ ausgefallen war. Von Schülern hörte ich, dass die Lehrerin 8 Wochen krank war. Ein bekannter Unternehmer berichtete, er sei dieses Jahr 2 Monate wegen Grippe ausgefallen. Ich selbst laboriere seit Anfang März mit solch einem Virus. Offizielle Daten gibt es leider nicht. Ein Mitarbeiter berichtet, dass er trotz Grippeimpfung sechs Wochen ausgeschaltet war. Die Liste ließe sich beliebig verlängern.
5. Volkswirtschaftlich ist der Schaden dieser virusbedingten Erkrankungen immens. Persönlich bildet diese Erkrankung eine große Belastung, und in dieser neuen Erscheinungsform möglicherweise noch mehr als in der kurzen, ‚intensiven‘ Form: in der Grauzone zwischen ‚fast gesund‘ aber ‚doch krank‘, das über viele Wochen, da geraten gewohnte Mechanismen durcheinander, das soziale Leben wird empfindlich gestört, die Leistungskraft wird stark bis dramatisch eingeschränkt, die Psyche gerät ins Wanken, berufliche Spannungen sind unausweichlich.
6. Dennoch, aus Sicht der ‚Kreativität‘ des Lebens ist es beeindruckend, wie ‚effektiv‘ diese scheinbar so ‚einfache‘ molekularen genetischen Mechanismen virale Muster ausbilden können, die sich nahezu optimal an die Arbeitsmuster der Menschen ‚anpassen‘. Es gibt ja schon lange Viren, die sich quasi wie ‚Schläfer‘ im Organismus eingenistet haben und sich nur gelegentlich ‚zeigen‘ (z.B.Herpesviren). Die diesjährigen Grippeviren scheinen jedenfalls (aus deren Sicht) eine verbesserte ‚Anpassung‘ (Ko-Evolution) an die Lebensweise des Wirtssytems ‚Mensch‘ zu demonstrieren (das offizielle medizinische System im Lande schweigt zu all dem). Bedenkt man die unvorstellbare Menge an Viren (z.B. 250 Mio auf ein Milliliter Meerwasser), ihre auf Millionen geschätzte Vielfalt, ihre Vervielfältigungsgschwindikeit (10 – 20 Minuten?), dann bedarf es einer deutlichen Verbesserung unseres medizinischen Systems, um die hier stattfindenden Prozesse auf Dauer ‚unter Kontrolle‘ zu bringen.
7. Aus der Gesamtsicht des Phänomens Lebens ist die ungeheuerliche ‚Kreativität‘ dieser Prozesse erfreulich und eine Eigenschaft, warum es uns überhaupt geben konnte. Aus Sicht eines einzelnen Individuums mit einer sehr begrenzten Lebenszeit kann diese wunderbare Eigenschaft schmerzhaft, quälend, katastrophal sein. Das ‚Leben‘ ist das wundersamste Phänomen im bekannten Universum, aber die ‚Entstehungskosten‘ sind auch gewaltig: ‚unbrauchbare Entwicklungen‘ im großen Stil sind die unausweichlichen ‚Nebenwirkungen‘ auf der genetischen Ebene. Erst wir Menschen verkörpern ein Komplexitätsniveau, wo wir unerwünschte Nebenwirkungen ansatzweise ‚minimieren‘ könnten. Doch sind unsere ‚Entwicklungszeiten‘ erheblich länger und natürlich nur so gut wie das Wissen, das zu dem Zeitpunkt verfügbar ist (und das ist notorisch unvollkommen).
8. In Experimenten mit einfachen (idealisierten) genetischen Algorithmen kann man sehr schön demonstrieren, dass Selektion und ‚Mischen‘ (Crossover) zwar verfügbare Lösungen im begrenzten Umfang ‚optimieren‘ können, wirkliche Fortschritte sind aber nur durch ‚Mutation‘ (=angewandte Kreativität) möglich. Mutation ist jedoch radikal ambivalent: wenn der aktuelle Zustand weit ab vom ‚Optimum‘ ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit, durch Mutation eine ‚Verbesserung‘ zu finden, sehr hoch. Habe ich aber schon eine ‚ziemlich gute Lösung‘, dann ist umgekehrt die Wahrscheinlichkeit, mich durch eine Mutation zu ‚verschlechtern‘, sehr hoch (Lebenspraktisch: wer glaubt, eigentlich nichts mehr verlieren zu können, weil er seine Situation als schlecht einschätzt, ist tendenziell zu ‚riskantem‘ Verhalten bereit, wenn er sich davon eine mögliche Verbesserung verspricht. Umgkehrt, wer glaubt, dass seine Situation so gut sei, dass eine Änderung nur eine ‚Verschlechterung‘ bedeuten würde, der wird eher ‚paralysiert‘ in seinem ‚Nest‘ hocken und diverse ‚Ängste‘ kultivieren‘, die mit möglichen ‚Bedrohungen‘ oder ‚Verlusten‘ zusammenhängen.).
9. Im Fall der Entstehung des Lebens auf dieser Erde gab es über viele Milliarden Jahre nur eines: immer weiter probieren; die Kosten spielten kein wirkliche Rolle, nur eines zählte: ‚mehr Leben finden‘.
10. Wir leben in einer Phase des Lebens auf der Erde, wo sich schon einiges an ‚Lebensknowhow‘ in Form von gewordenen Lebewesen angesammelt hat. Der ’normale‘ Mensch trägt normalerweise eine ‚Überzeugung‘ mit sich, dass er ‚weiß‘, wer er ist, wie alles ist, was das Ganze soll, usw. Diese Überzeugung ist aber nur so lange ‚wahr‘, wie er sie nicht überprüft. Haben wir hinreichende Gründe zu sagen, dass wir mit allem ‚am Ziel‘ sind oder gilt nicht für uns weiterhin das generelle Gebot des Lebens, den aktuellen Zustand nur als ‚Durchgang‘ zu einer weiteren ‚Zukunft‘ zu verstehen, die wir weitgehend noch nicht kennen, die wir aber durch unser Verhalten ‚ermöglichen sollen‘?!?!
11. Der ’normale‘ Alltag ist zumindest so, dass wir als Menschen, uns nur ‚im Spiel‘ halten können, wenn wir täglich viele Herausforderungen lösen (z.B. genügend Energie (auch in Form von Nahrung) verfügbar machen). Die Welt um uns herum entwickelt sich ‚aus sich heraus‘ beständig weiter; Teil davon ist das Ökosystem ‚jenseits des Menschen‘ mit der Welt er Mikroorganismen, die uns Menschen zahlenmäßig als ‚Nichts‘ erscheinen lassen. Es ist eine reine Frage der Zeit, bis es Mikroorganismen geben wird, die sich unserer Körper geradezu beliebig bedienen werden, wenn wir nicht entsprechende ‚koevolutive‘ Techniken entwickeln haben werden…

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REDUKTIONISMUS – EMERGENZ – KREATIVITÄT – GOTT: S.A.Kaufman – Epilog

1. Es gibt nur wenige Bücher, denen ich so viel Zeit für eine Diskussion gewidmet habe (was nicht heißt, dass es nicht auch andere Bücher gibt, die großartig sind oder denen man viel Zeit widmen sollte). Und, diesen Blog mit ‚Epilog‘ zu überschreiben gibt nicht die ganze Wahrheit wieder. Das Wort ‚Epilog‘ könnte den Eindruck erwecken als ob die Sache damit ‚abgeschlossen‘ sei, etwas, das ‚hinter‘ uns liegt. Dem ist aber nicht so, in keiner Weise. Die Gedanken, die Kauffman in seinem Buch aufblitzen läßt sind eher wie ‚Blitze‘, die in einer großen Dunkelheit für einen kurzen Moment in der Nacht Dinge sichtbar werden lassen, an die man ’normalerweise‘ so nicht denkt.
2. Gewiss kann man an seinem Buch auch viel Kritik üben: streckenweise sehr langatmig, viele Formulierungen wiederholen sich immer wieder, die Quellen sind oft nicht klar, es fehlt eine strenge Systematik, die alle Teile erfasst, sehr Wissenschaftliches paart sich teilweise mit sehr Spekulativem, usw. Alles dies ist richtig. Aber betrachtet man alles zusammen, nimmt man alle Aussagen als Teile eines großen Akkords, dann blitzt in all den Fragmenten eine Gesamtsicht auf, die – nach allem, was ich kenne, weiß und verstehe – sehr ungewöhnlich ist, originell, wissenschaftlich sehr begründet und – vor allem – Dinge zusammen bringt, die für gewöhnlich getrennt sind.

EIN AUßERGEWÖHNLICHES BUCH

3. Insofern würde ich sagen, ja, es ist ein sehr außergewöhnliches Buch.

KRITIK AN EINER ZU ENGEN WISSENSCHAFTLICHEN WELTSICHT

4. Es gibt immer wieder Wissenschaftler die ihre eigene Disziplin kritisieren. Aber es ist selten. Meist sind es Nobelpreisträger, die keine Angst mehr haben müssen, dass die eigene Zunft Sie danach sozial ausgrenzt. Kauffman ist kein Nobelpreisträger, und doch hat er den Mut, dies zu tun. Dies liegt nach meiner Einschätzung vor allem darin begründet, dass er nicht nur innerhalb einer einzigen Disziplin geforscht hat, sondern in verschiedenen Disziplinen, mehr noch, er hat sich nicht nur ‚innerhalb‘ der Paradigmen bewegt, sondern er hat sich mit Phänomenen beschäftigt, die es verlangt haben, auch immer ‚über‘ die anzuwendenden Methoden nachzudenken. Dadurch sind ihm natürlich die Schwachstellen des Vorgehens aufgefallen, dadurch hat er begonnen, über alternative Sichten nachzudenken.
5. Eine der zentralen Schwachstelle trägt den Namen ‚Physikalischer Reduktionismus‘. Damit verbindet sich die Auffassung, dass es zur Erklärung der Phänomene in dieser Welt ausreiche, diese in eine kausale Beziehung zu setzen zu den ‚zugrunde liegenden elementaren Bestandteilen‘; als solche elementaren Bestandteile gelten Moleküle, Atome, und subatomaren Partikel. Diese Art von ‚wissenschaftlicher (reduzierender) Erklärung‘ macht aus der Gesamtheit aller Phänomene ein Wirkungsfeld von elementaren (letzlich physikalischen) Teilchen und elementaren Kräften.
6. Kauffman hat durch seine vielfältigen Arbeiten aber den Eindruck gewonnen, dass bei dieser Erklärungsweise sehr viele Besonderheiten der Phänomene oberhalb der Atome (ab einem bestimmten Komplexitätsgrad vielleicht sogar alle Besonderheiten) auf der Strecke bleiben. Sie werden epistemisch ‚unsichtbar‘. Für einfache Gemüter ist dies OK. Für differenzierter denkende Menschen, wie Kauffman einer ist, stellen sich hier aber Fragen. Und es ist genau hier wo sich die besondere Qualität von Kauffman zeigt: er stellt sehr viele Fragen, er geht ihnen auf vielfältige Weise nach, und kommt dann zum Ergebnis, dass eine reduktionistische Sicht letztlich genau die interessanten Phänomene zerstört. Nicht das Zurückfragen nach möglichen elementaren Bestandteilen ist der Fehler, sondern der Verzicht auf eine Beschäftigung mit der Makroebene selbst, mit der Komplexität, die sich gerade in den Makrophänomenen manifestiert.

NICHTVORAUSSAGBARKEIT

7. In für den Leser z.T. sehr mühevollen, aber von der Sache her sehr wohl berechtigten, Analysen unterschiedlichster Phänomenbereiche (grob: Biologie, Wirtschaft, Physik) gelingt es Kauffman immer wieder aufzuzeigen, dass eine reduzierende Betrachtungsweise genau das verfehlt, übersieht, was dieses Phänomen ausmacht. Und in all seinen vielfältigen Beispielen ist es u.a. die ‚Nichtvoraussagbarkeit‘, die man überall feststellen kann. Es beginnt bei der generellen ‚Nichtergodizität‘ des Universums als Ganzem, es setzt sich fort im Bereich der Molekülbildungen, der Zellentstehung, der Herausbildung von Lebensformen, in der generellen Nichtvoraussagbarkeit von Gehirnaktivitäten, die wechselseitigen Beeinflussungen von Naturprozessen im allgemeinen und biologischen Formen als Besonderem (Evolution, Ko-Evolution), die Wechselwirkungen unter biologischen Akteuren, die Wechselwirkungen eines wirtschaftlichen Verhaltens, die ihrer Natur nach in keiner Weise mehr voraussagbar sind, und vieles mehr. Wer die Sehweise von Kauffman übernimmt für den wird die Welt sehr vielfältig, sehr besonderes, sehr dynamisch, grundsätzlich nicht voraussagbar.

QUANTENPHYSIK

8. Kauffman macht sich die Mühe, die Eigenschaft der Nichtvoraussagbarkeit auf sehr vielen Ebenen aufzuzeigen. Letztlich wurzelt sie aber schon in der Grundlage von allem, im ‚Medium‘ von aller erfahrbaren Wirklichkeit, die die Wissenschaft als ‚Quantenwelt‘ enttarnt hat. Die aus dem menschlichen Alltag bekannte Raum-Zeit-Welt mit ihren Makroeigenschaften ist ein Artefakt unseres Körpers und des darin eingebetteten Gehirns, das uns mit Erkenntnissen über diese Welt versorgt. ‚Hinter‘ den alltäglichen Phänomenen existiert nach den heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen aber eine Welt von Quanten, deren mathematische Beschreibung uns darüber belehrt, dass es sich hier nur noch um Wahrscheinlichkeitsfelder handelt: Was zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort an Eigenschaften gegeben sein soll lässt sich grundsätzlich nur als ein Wert in einer Wahrscheinlichkeitsverteilung angeben. Zusätzlich enthüllt diese Quantenwelt Eigenschaften von Wechselwirkungen zwischen den Quanten, die mit der Alltagserfahrung nicht kompatibel sind (so können z.B. Quanten in einer Geschwindigkeit und über Entfernungen interagieren, die in der Alltagswelt unmöglich sind).
9. Nimmt man die quantenphysikalische Sicht ernst, dann hat man ein großes Problem, nämlich die ‚Koexistenz‘ von Quantenwelt und physikalischer Makrowelt zu erklären. Die Konkretheit der alltäglichen Makrowelt bildet quantenphysikalisch eine ‚Dekohärenz‘, die zu erklären bislang schwerfällt. Dazu kommt, dass diese Dekohärenz aus Sicht des Alltags ‚andauert‘, dass aber zugleich die Kohärenz der Quantenwelt nicht aufgehoben wird. Hier herrscht bislang ein großes Schweigen der Physik.
10. Kauffman vermutet vor dem Hintergrund der Quantenwelt, dass wir viele Eigenschaften des Gehirns möglicherweise nur durch Rückgriff auf diese Quantenwelt wirklich verstehen können; Genaues kann er nicht sagen, obgleich er Autoren zitiert, die (ähnlich wie Descartes mit seiner Zirbeldrüse) versuchen, konkrete Strukturen in der Biochemie der neuronalen Maschinerie zu identifizieren, die für die ‚Übersetzung der Quanteneffekte‘ in die Makrowelt eines Gehirns verantwortlich sind. Man kann sich über diese Erklärungsversuche lustig machen, zeigen sie aber doch auch, dass selbst die besten Denker unserer Zeit bislang hier vor mehr Rätseln stehen als Antworten.

KREATIVITÄT, HEILIGES, GOTT

11. Eine Kehrseite von Nichtvoraussagbarkeit ist die ‚Kreativität‘. Denn um immer wieder neue Ereignisse, Ereignisketten, Strukturen, komplexe Wechselwirkungen hervorbringen zu können, benötigt man Verhaltensweisen, Rahmenbedingungen, die das ermöglichen. Kauffman meint in der Vielfalt dieser nicht voraussagbaren Prozessen eine ‚Kreativität‘ ‚am Werke‘ zu sehen, die sich vom physikalischen Anfang des Universums, über Materiebildung, Sternenbildungen, Galaxien, Sonnensystem, Leben auf der Erde usw. in gleicher Weise manifestiert. Eine Kreativität, die geradezu eine ‚innere Eigenschaft‘ unseres Universums zu sein scheint. Und dass es genau diese Kreativität ist, die das eigentlich zu erklärende Phänomen bildet, das, an dem sich alle Wissenschaften zu messen haben. Es überrascht dann nicht, wenn Kauffman für diese Zentraleigenschaft des Universums den Begriff ‚Heiliges‘ (’sacred‘) vorschlägt, und im zweiten Schritt (oder im ersten, das lässt sich hier nicht genau sagen), den Begriff ‚Gott‘ (‚god‘).

KRITIK WEGEN GOTT?

12. Speziell an dieser Stelle könnte man Kritik laut werden lassen. Schließlich haben genau die Begriffe ‚Gott‘ und ‚Heiliges‘ in der menschlichen Geschichte in nahezu allen Kulturen seit mindestens 2000 – 3000 Jahren eine lange und vielschichtige Tradition. Die Kritik bestände darin, Kauffman vorzuwerfen, dass er sich nicht genügend um die Vermittlung zwischen seiner Verwendungsweise der Begriffe ‚Gott‘ und ‚Heiliges‘ und der vielfältigen Verwendungsweisen dieser Begriffe in der bisherigen kulturellen Geschichte gekümmert habe. Dies sei eigentlich eines Wissenschaftlers unwürdig.
13. Einerseits würde ich diese Kritik auch erheben. Andererseits muss man aber auch klar sehen, dass die Aufgabe eines konstruktiven Dialoges zwischen dem Erklärungsansatz von Kauffman und den bisherigen Verwendungsweisen des Begriffs ‚Gott‘ und ‚Heiliges‘ (z.B. in der jüdischen, dann in der jüdisch-christlichen, und dann noch in der jüdisch-christlich-islamischen Tradition) eine gewaltige Aufgabe ist, die kaum ein Mensch alleine leisten kann, sondern vermutlich sehr vieler Menschen bedarf, die zudem vermutlich über mehrere Generationen hinweg solch einen Reflexionsprozess leisten müssten.
14. Ich persönlich sehe zwischen dem Kern eines jüdisch-christlichen (vermutlich auch jüdisch-christlichen-islamischen) Gottesbegriffs und dem Ansatz von Kauffman keinerlei Gegensatz. Aber ich bin Theologe, Philosoph und Wissenschaftler und habe mich mehrere Jahrzehnte mit diesen Fragen beschäftigt. Für jemanden, der diese Gelegenheit nicht hatte, ist diese Fragestellung möglicherweise eher ‚undurchdringlich‘ und von daher kaum entscheidbar.

UND SONST

15. Diese wenigen Gedanken können die Breite und Tiefe, die Vielfalt der Gedanken von Kauffman in seinem Buch nicht einmal annähernd wiedergeben. Wer sich also von den hier angeschnittenen Themen angesprochen fühlt, sollte dieses Buch unbedingt selber lesen. Allerdings sage ich ganz offen: das Buch ist hart zu lesen, z.T. wegen des spezifischen Inhalts, z.T. wegen einer nicht ganz straffen Systematik, z.T. wegen vieler Wiederholungen bestimmter Gedanken. Aber ich halte es trotz dieser Schwächen für eine sehr, sehr wichtiges Buch. Mir persönlich hat es eine Menge an Klärungen gebracht.

SYNOPSYS DER EINTRÄGE ZU KAUFFMAN

REDUKTIONISMUS – EMERGENZ – KREATIVITÄT – GOTT: S.A.Kaufman – Teil1. Zusammenstellung vieler Phänomene und Erkenntnisse, die die Position eines physikalischen Reduktionismus in Frage stellen. Dann Verlagerung zu den grundlegenden Mechanismen des Biologischen und Vorstellen des autokatalytischen Modells zur Modellierung biologischer Emergenz.

REDUKTIONISMUS – EMERGENZ – KREATIVITÄT – GOTT: S.A.Kaufman – Teil2. Es werden dann wichtige Konzepte vorgestellt und diskutiert: Agentenschaft, Arbeit und Information. Information ist zu wenig, Arbeit ist mehr als Wärme, Agentenschaft impliziert Werte.

REDUKTIONISMUS – EMERGENZ – KREATIVITÄT – GOTT: S.A.Kaufman – Teil 3. Anhand der Begriffe ‚Adaption‘. ‚Präadaption‘ sowie ‚Ko-Evolution‘ versucht er die Behauptung von der Nichtvoraussagbarkeit des Universums zu motivieren. Dazu das sehr starke Argument von der ‚Nichtergodizität‘ des Universums. Erste Einführung des Begriffs ‚Kreativität‘.

REDUKTIONISMUS – EMERGENZ – KREATIVITÄT – GOTT: S.A.Kaufman – Teil 4. Zitiert prominente Modelle, die den Anspruch erheben, das wirtschaftliche Geschehen zu beschreiben. Diskutiert die Grenzen dieser Modelle. Stellt seine autokatalytischen Modellierungsversuche vor. Zeigt die prinzipiellen Grenzen auf, die eine Beschreibung wirtschaftlicher Vorgänge unmöglich macht.

REDUKTIONISMUS – EMERGENZ – KREATIVITÄT – GOTT: S.A.Kaufman – Teil 5. Es folgen einige allgemeine Einschätzungen zu ‚Seele‘, ‚Geist‘ und ‚Wissenschaften‘, die nicht klar einordenbar sind. Längere Diskussion zur Algorithmisierung und Nichtalgorithisierung von Geist, Geirn als physikalischem Prozess, kognitiven Modellen und deren Grenzen, Geist und Bedeutung.

REDUKTIONISMUS – EMERGENZ – KREATIVITÄT – GOTT: S.A.Kaufman – Teil 6. Zunächst einmal Warnung, da das Folgende sehr spekulativ sei. Ordnet die Neurowissenschaften der klassischen Sicht der Physik zu. Ein quantenphysikalischer Ansatz wäre besser. Erinnerung an Positionen der Phiilosophie und deren eigene Fragwürdigkeit. Erwähnt die Position der sogenannten ’starken KI‘. Quantenphysik, ‚Geist‘, ‚Selbstbewusstsein‘, Möglichkeiten und Grenzen. Emergenz statt Reduktionismus. Drei harte Argumente gegen den Geist ‚Epiphänomenalismus‘, ‚Qualia‘ und ‚freier Wille‘. ‚Geist‘ als Phänomen der ‚Natur‘. Eigener Gottesbegriff.

REDUKTIONISMUS – EMERGENZ – KREATIVITÄT – GOTT: S.A.Kaufman – Teil 7. Zusammenfassung der bisherien Erkenntnisse und wiederholt Einführung eines eigenen Gotesbegriffs (kritische Anmerkung dazu). Prinzipielle Unabgeschlossenheit allen Wissens. Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft: ‘Kunst’ als Form der Kreativität gehört letztlich zum inneren Prinzip des kreativ-evolutionären Geschehens. Nochmals ‚Gott‘ (und kritische Anmerkugen). Faktum des Bösen. Begriff der ‚Agentenschaft‘ führt zu ‚Bedeutung‘ und ‚Werten‘, Ethik. Kritisiert den ‘Deontologismus’ und den ‘Konsequentialismus’ innerhalb der Ethik. Werte als ‚Pareto-Optimum‘. Globale Ethik. Nochmals ‚Gott‘ und ‚Heiligkeit‘

Ein Überblick zu allen bisherigen Einträgen des Blogs nach Titeln findet sich HIER

REDUKTIONISMUS, EMERGENZ, KREATIVITÄT, GOTT – S.A.Kauffman – Teil 7

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Letzte Änderungen: 22.April 2013, 08:18h

KAUFFMANS GOTTESBEGRIFF

1. In den folgenden Kapiteln 14-19 spekuliert Kauffman auf der Basis des bislang Gedachten. Das Kapitel ‚Living in Mystery‘ (etwa ‚Leben im Geheimnis‘) SS.230-245 beginnt er mit der zusammenfassenden Feststellung, dass nach den vorausgehenden Untersuchungen die gesamte bisherige – biologische wie auch kulturelle – Geschichte ’selbst-konsistent‘ (’self-consistent‘) sei, ‚ko-konstruierend‘ (‚co-constructing‘), ‚evolvierend‘ (‚evolving‘), ‚emergent‘ und ’nicht voraussagbar‘ (‚unpredictable‘).(vgl. S.231) In allem erkennt er eine fortschreitende ‚Individualisierung‘ (‚individuation‘) von Teilsystemen und Prozessen mit kontinuierlichen Ausprägungen von ’selbst-konsistenten Zusammenfügungen von Gemeinschaften‘. Alle diese Prozesse geschehen ständig, ohne dass wir in der Lage wären, sie mit den bekannten physikalischen Gesetzen hinreichend beschreiben zu können. (vgl. S.231) Für all dieses Geschehen, in dem er eine spezifische ‚Kreativität‘ am Werke sieht, führt er seinen Begriff von ‚Gott‘ (‚god‘) ein als eine Art technischen Begriff für das Ganze. (vgl.S.276) Und unter Voraussetzung dieses seines speziellen Gottesbegriffs führt er dann als weiteren technischen Begriff den Term ‚Heilig(es)‘ (’sacred‘) ein mit der Bemerkung, dass wir mit unserer Entscheidung (‚our choice‘) das ‚Heilige‘ im Universum und seinem Werden hochhalten (‚hold‘). (vgl. S.232,)

KRITISCHE ANMERKUNGEN ZU KAUFFMANS GOTTESBEGRIFF

2. [Anmerkung: Dieses Vorgehen ist schon etwas merkwürdig. Einerseits beteuert Kauffman dass er mit Glauben und Religion nichts zu schaffen habe, andererseits versucht er hier den historisch gewaltig aufgeladenen Begriff ‚Gott‘ in diesem neuen Kontext mit seiner Bedeutung zu etablieren, zusätzlich ergänzt um den nicht weniger aufgeladenen Begriff ‚heilig’/ ‚Heiligkeit‘. Warum tut er das? Wenn ihm die bisherigen Glaubenstraditionen egal wären, gäbe es eigentlich keine Motivation, Begriffe wie ‚Gott‘ bzw. ‚heilig‘ in diesen Kontexten zu erwähnen. Wenn er es aber dennoch tut, scheinen ihm diese Begriffe wichtig zu sein. Irgendwie verbindet sich für ihn mit den Begriffen ‚Gott‘ und ‚heilig‘ etwas, was er mit den für ihn spannendsten Eigenschaften dieser Welt verknüpft sehen will. Ich selbst bin 1990 aus der katholischen Kirche ausgetreten, da ich mit ihrer Art den Glauben an das Ganze zu vermitteln, einfach nicht mehr einhergehen konnte. Andererseits sind für mich die verschiedenen religiösen Traditionen (jüdisch, jüdisch-christlich, jüdisch-christlich-islamisch,…) trotz all ihrer Unvollkommenheiten nicht grundsätzlich etwas ‚Schlechtes‘, transportieren sie doch in ihrer geschichtlichen Konkretheit wertvolle menschliche Erfahrungen, von denen wir alle lernen können, sofern wir unser kritisches Denken dabei nicht ausschalten. Und mit Blick auf diese Traditionen muss man sagen, dass es hier Bilder und Überlegungen zu dem Begriff ‚Gott‘ gibt, die mit den Überlegungen von Kauffman vollständig kompatibel sein können; man könnte die Überlegungen von Kauffman ohne weiteres als eine Art weiterführenden Beitrag zum Thema sehen. Ein christlicher Theologe wie Teilhard de Chardin (1881 – 1955) war – trotz seiner beständigen Unterdrückung durch das kirchliche Lehramt – sehr nahe bei den Sichten, die Kauffman propagiert; in gewisser Weise vielleicht sogar weiter, wenngleich im technischen Detail natürlich – zeitbedingt – nicht so weit wie Kauffman. Kurzum, mir scheint dass Kauffman entweder das Thema ‚Gott‘ aus seinen Überlegungen heraushalten sollte (wenn Religion doch so unwichtig ist) oder aber, wenn er doch historisch so aufgeladene Begriffe wie ‚Gott‘ und ‚heilig‘ benutzt, sich die Mühe machen müsste, seine Art der Verwendung dieser Begriffe mit den in diesen gewachsenen Traditionen gebräuchlichen Verwendungen abzugleichen. Die wissenschaftliche Redlichkeit, um die er sich ansonsten immer bemüht, gebietet dies. Seine seltsam ‚verdrängende‘ Vorgehensweise im Gebrauch der Begriffe ‚Gott‘ und ‚heilig‘ erscheint mir von daher – so stimulierend diese Gedanken sind – wissenschaftlich unredlich und damit der schwächste Teil seines ganzen Buches. Nicht nur das, indem er diese Dimension seines Buches nahezu vollständig ausklammert beraubt er sein Buch einer wichtigen möglichen Wirkkomponente: die große Schwäche der religiösen Traditionen Judentum, jüdisches Christentum, jüdisch-christlicher Islam heute besteht nach meiner Wahrnehmung darin, dass sie die gesamten modernen Entwicklungen mehr oder weniger vollständig ausgeklammert haben. Ein konstruktiver Brückenschlag zwischen Erkenntnissen, wie sie Kauffman kommuniziert und diesen Positionen könnte ‚belebend‘ sein für beide Seiten. Dies setzt allerdings voraus, dass man die religiösen Traditionen nicht als vollständigen Unsinn abtut sondern in ihrem ‚Kern‘ eine empirisch vollziehbare Gottesbeziehung erkennt und für möglich hält, die jedem Lebewesen, ja dem ganzen Universum ‚innewohnt‘. Es ist für mich eine offene Frage, ob es irgend einen offiziellen religiösen Repräsentanten gibt, der in diesem radikalen Sinne ‚an Gott glaubt‘ – oder verbirgt sich hinter der ‚religiösen Fassade‘ letztlich ein abgrundtiefer Unglaube? Wirklich entscheiden werden wir diese Frage nie können. Es bleibt uns letztlich nur eine ‚Vertrauen‘ in den anderen, eine Art von ‚Glauben‘, der natürlich enttäuscht werden kann. Jede Art von Radikalismus ist hier fehl am Platz.]

PRINZIPIELL UNVOLLSTÄNDIGES WISSEN

3. Auf den SS.232-235 folgen dann verschiedene Überlegungen, in denen er unterschiedlichste Autoren zitiert (u.a. T.S.Eliot, Plato, Aristoteles, Newton, Carl Jung, Paul Dirac, Nietzsche) und das ‚Deep Blue‘ Computerprogramm von IBM, das den damaligen Schachweltmeister Gary Kasparow schlagen konnte. Alle diese Stellen sollen illustrieren, dass und wie wir mit einem begrenzten Wissen in einer offenen, sich beständig wandelnden Situation agieren.
4. Es folgt dann ein etwas systematischerer Abschnitt SS.236-245, in dem er anhand einer spieltheoretischen Situation illustriert, wie zwei Spieler sich wechselseitig hochschaukeln können, indem sie nach und nach jeweils ein ‚Modell des Anderen‘ konstruieren, das sie in ihren Entscheidungen leitet. Jede Ereigniskette, die solche Akteure als Produzenten enthält, verliert damit auf Dauer ihren ‚zufälligen‘ Charakter. Andererseits ist es so, dass die Verhaltensweisen solcher ‚lernfähiger‘ Akteure nicht ‚konstant‘ ist, sondern sich aufgrund ihrer aktiven Modellbildungen beständig verändert. D.h. adaptive Rationalität selbst ändert die erfahrbare Rationalität der Wirklichkeit. Und folgerichtig stellt Kauffman die Frage, was es denn heißt, ‚vernünftig‘ (‚wisely‘) zu handeln, wenn wir nicht nur das Ganze noch nicht kennen, sondern durch unser eigenes Verhalten das Ganze beständig verändern? (vgl. S.244) Und er kommt aufgrund wissenschaftlicher Überlegungen zu dem bedenkenswerten Schluss: „Das, was wir brauchen, um unser Leben zu leben, ist Glauben (‚faith‘); bei weitem wichtiger als Wissen (‚knowing‘) oder Erkennen (‚reckoning‘).“ (S.244) Und diese Art zu glauben ist ein biologisches Phänomen, eine inhärente Eigenschaft biologischer Lebensformen, die auf dieser Erde entstanden sind. (vgl. S.245)

DIE ZWEI KULTUREN (und Religion)

5. Auf den folgenden Seiten SS.246-254 variiert Kauffman diese Gedanken weiter anhand der kulturellen Aufspaltung in Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft, wie sie Europa – und dann auch andere Teile der Erde – seit dem Aufkommen der modernen empirischen Wissenschaften charakterisiert und prägt. Angesichts der von ihm herausgearbeiteten grundsätzlichen ‚Kreativität‘ des ganzen Universums und des evolutionären Geschehens auf der Erde, hält er diese Aufspaltung für nicht mehr gerechtfertigt. Mit zahlreichen Zitaten von diversen Wissenschaftlern, Philosophen und Künstlern versucht er zu unterstreichen, dass die ‚Kunst‘ letztlich zum inneren Prinzip des kreativ-evolutionären Geschehens gehört. Wie zuvor aufgezeigt stößt die menschliche Vernunft beständig an ihre Grenzen, die sie nur überwinden kann, wenn sie diese Grenzen akzeptiert und sie durch ein geeignetes kreativ-koevolutionäres Verhalten ‚erweitert‘ und so dem Werden des je Unbekannten Raum gibt.
6. Verräterisch ist, wenn Kauffman zu Beginn dieses Kapitels hervorhebt, dass man jetzt mit einem Gottesbegriff leben kann, den ‚wir selber erfunden haben‘ (‚our own invention‘).(S.246) Damit bestätigt er indirekt die oben von mir geäußerte Vermutung, dass er die ‚älteren Verwendungsweisen des Begriffes ‚Gott“ als unangemessen ablehnt. [Anmerkung: Hier baut Kauffman einen Gegensatz auf, der so meines Erachtens nicht nur unnötig, sondern sogar falsch ist. Noch mehr, er vergibt sich die Chance, zu zeigen, dass auch die traditionellen jüdisch-christlich-islamischen Verwendungsweisen des Wortes ‚Gott‘ historisch gewachsen sind, dass sie sich kreativ-koevolutiv im Wechselspiel von menschlichem Leben und umgebender sich ereignender Geschichte ‚entwickelt‘ haben. Und dass gerade diese Entwicklung der verschiedenen Verwendungsweisen des Begriffs ‚Gott‘ in dramatisch wissenschaflich-künstlerischer Weise dokumentieren, wie hier der menschliche Geist damit ringt, trotz seiner konkreten und historischen Begrenztheiten das je Größere zu ahnen, irgendwie doch zu fassen, irgendwie doch das je Größere Absolute Transzendente in die endliche Konkretheiten einer historisch bedingten Körperlichkeit zu ‚übersetzen‘. Wer in den Wörtern der ‚heiligen‘ Texte immer nur die historischen Bedingtheiten, die zeitlich bezogenen Konkretheiten sieht, der verweigert diesen Texten genau die Ehrfurcht, die Weite, die Tiefe, die Großzügigkeit, den Mut, die transzendierende Mystik, die in ihnen ‚lebt‘, sich Ausdruck gesucht hat. Natürlich ist dieser ‚weitere, tiefere‘ Blick nicht logisch zwingend, nicht deduktiv absolut herleitbar (was manche immer wieder glauben), aber Kraft der transzendenten Wahrheit, die in jedem menschlichen Erkennen lebt, kann sie jeder ’sehen‘, wenn er will, und, vor allem, er kann sie mit seinem eigenen Leben ‚ausprobieren‘; dies nennt man dann entweder ‚Künstlersein‘ oder ‚religiös sein‘, gespeist von Kreativität und Glauben, oder beides in einem. Es ist sehr schade, dass Kauffman diesen tieferen und umfassenderen Zusammenhang offensichtlich nicht sieht. Dies kann u.a. daran liegen, dass die offiziellen religiösen Gemeinschaften den tieferen ‚Schatz ihrer eigenen Überlieferung‘ oft nicht voll verstehen und dass die sogenannten ‚geistlichen Führer‘ weniger ‚geistliche‘ Führer sind sondern Machtmenschen und Geschäftsleute, die ihre sehr persönlichen Vorteile in allem suchen. Die innere Freiheit des Geschehens kann solchen Missbrauch nicht verhindern und kann dann zur Abkehr von sehr vielen Menschen von den religiösen Traditionen führen. Schon ein Jesus von Nazareth hatte den Unterschied zwischen ’sich religiös geben‘ und ‚tatsächlich religiös sein‘ sehr klar erkannt und benannt.]

FÄHIG ZUM BÖSEN

7. Auf den SS.255-258 verweist Kauffman auf das Faktum, dass wir Menschen als konkreter Teil einer konkreten Evolution aufgrund unserer limitierten Ausstattung sehr vieles falsch machen können und auch schon falsch gemacht haben. zusätzlich haben wir Bedürfnisse, Emotionen, Motivationen die sehr partikulär sein können, sehr egoistisch und sehr, sehr grausam. Die Technologien der Zerstörung (und des Tötens) gehören immer mit zu den am weitesten entwickelten. Ob und wie wir diese destruktiven limitierenden Kräfte auf Dauer hinreichend konstruktiv einbinden können muss die Zukunft zeigen.

ETHIK

8. Ein Hauptthema des Buches von Kauffman war und ist der Versuch, aufzuzeigen, dass der sogenannte ‚Reduktionismus‘ aller Phänomene auf einen ‚Physikalismus‘ nicht haltbar ist. Ein zentrales Argument innerhalb dieses Aufweises ist die Behauptung, dass die meisten für uns Menschen interessante Phänomene der Evolution ‚emergenter‘ Natur sind, d.h. sich in ihrer Komplexität nicht aus den physikalischen Bestandteilen als solchen erschließen. Innerhalb dieser emergenter Phänomene gibt es das, was Kauffman ‚Agentenschaft‘ (‚agency‘) nennt, und verbunden mit der Agentenschaft, die Fähigkeit, bestimmten Vorkommnissen nicht nur allgemein eine ‚Bedeutung‘ zuzuweisen, sondern sogar eine ausgezeichnete Bedeutung im Sinne eines ‚Wertes‘: ein Vorkommnis x hat einen bestimmten ‚Wert‘ v mit Bezug auf einen ‚lebensrelevanten‘ Faktor L. D.h. innerhalb der biologischen Evolution haben sich Strukturen entwickelt, für die die wahrnehmbare Welt nicht ’neutral‘ ist, sondern ‚wertig‘; es gibt Ereignisse die mit Bezug auf das ‚Überleben‘ der Art ‚relevant‘ sind, ‚bedeutungsvoll‘, ‚wichtig‘.(vgl. S.259)
9. [Anmerkung: Man muss also sagen, dass es zum ‚Auftreten‘ des ‚Lebens‘ auf dieser Erde gehört, dass das Leben ‚als Teil von sich‘ bestimmte Ereignisse/ Eigenschaften dieser Welt als ‚wertvoll‘ erlebt. Oder, anders ausgedrückt, das Leben definiert sich wesentlich dadurch, dass es selbst einen ‚Wert‘ darstellt, der ‚von sich aus‘ ‚erhalten‘ sein will. Das Leben muss nicht künstlich irgendwelche Werte finden, derentwillen es sich lohnt zu leben, sondern das Leben als biologisches Phänomen ‚ist selbst der primäre Wert‘, um den es geht. Es existiert nur, weil es in dieser Form vom ‚Kosmischen Gesamtzusammenhang‘ Erde – Sonnensystem – Milchstraße – Universum in dieser Besonderheit ‚induziert‘ wurde und sich in Form dieser Besonderheit entwickeln konnte. Eine Alternative ist praktisch nicht möglich, da die Alternative vom kosmischen Gesamtzusammenhang her nicht unterstützt wird! Alle Atome, Moleküle, die sich nicht ‚in der Weise verhalten‘, wie es vom kosmischen Gesamtzusammenhang ‚belohnt‘ wird, haben keine Existenzmöglichkeit!!! Damit erscheint das Leben, so, wie es sich im kosmischen Gesamtzusammenhang entwickelt hat, als der einzige ‚fundamentale Wert‘, den wir bis heute kennen!!! Und natürlich liegt der Schluss nahe, dass sich aus diesem fundamentalen Wert (der sich aber nur den ‚im Leben befindlichen Akteuren‘ erschließt) alle anderen Werte ableiten lassen müssen.]
10. Im Lichte dieser fundamentalen Werteposition wundert es nicht, dass Kauffman zwei wichtige Positionen der heutigen Ethik kritisiert: den ‚Deontologismus‘ und den ‚Konsequentialismus‘. (vgl. S.259).
11. Sein Hauptargument besteht darin, dass unser moralisches Empfinden und unser Wertesystem sich erst in der Evolution und der zugehörigen Kultur ‚entwickelt‘ hat und dass von daher die Bezugnahme auf eine höheres, absolutes moralisches Fühlen im Sinne eines Deontologismus (sich verpflichtet fühlen) bzw. eines die Folgen des Handelns Bedenkens im Sinne eines Konsequentialismus ohne die Berücksichtigung der Entstehung und ihres jeweiligen Kontexts keinen Sinn macht. (vgl.S.259f)
12. Kauffman illustriert diese Kernthese mit vielen Zitaten (vgl. SS.260-266) und ergänzt den Entwicklungscharakter der Ethik noch um den Aspekt er formalen Unabgeschlossenheit (Gödels Theorem) jeglichen möglichen ethischen Systems. (vgl. S.266) [Anmerkung: Diese formale Unabgechlossenheit ergibt sich u.a. aus der evolutiven Entstehung des Wertesystems bzw. aus der inneren Struktur des Lebens. Diese innere Struktur besteht prinzipiell im beständig über das Gegebene Hinausgehen mit einem – zum Zeitpunkt des Darüberhinausgehens – unvollständigen Wissen! D.h. das ‚Innovative‘ am Leben ist seine ‚Kreativität‘ und die Fähigkeit, sich selbst permanent ‚transzendieren‘ zu können. Die Struktur des Lebens ist – was viele Philosophen früher auch schon erkannt hatten, ohne den Mechanismus der Evolution zu verstehen – in sich so, dass die ‚Erfüllung‘ des Lebensprozesses nur möglich ist, indem sich die bestehenden Strukturen mit etwas ‚außerhalb ihrer selbst‘ ‚verbinden‘!! Zum Zeitpunkt des Lebens ist dem jeweiligen lebenden System aber nicht vollständig klar, was dies genau ist; es erlebt sich selbst allerdings in einer ‚prinzipiellen Unabgeschlossenheit‘ (eine mögliche Version von ‚Transzendentalität‘), durch die es ‚angetrieben‘ ist, das ’noch Fehlende‘ zu ‚finden‘!!!]
13. Aus diesen Überlegungen folgert Kauffman, dass es nicht ein einzelnes höchstes Gut gibt, sondern eher – entsprechend der Idee eines ‚Pareto Optimums‘ im Kontext der Pareto Effizienz (nicht zu verwechseln mit dem Pareto Prinzip) – viele verschiedene Dinge, die alle zugleich wichtig sein können, damit bestimmte Lebensprozesse funktionieren. Nicht die Luftreinheit alleine oder die Wasserqualität oder die Ressourcenschonung oder …. bilden biologisch relevante Werte, sondern das Zusammenspiel vieler verschiedener Faktoren in einem bestimmten Gleichgewicht. (vgl. S.266f). Es kann also nicht darum gehen einige wenige absolute Werte zu identifizieren und zu isolieren. Nein, die biologische Evolution wird kontinuierlich neue Werteensembles ’sichtbar‘ machen, deren Einhaltung und Zusammenspiel wichtig sind; diese Werte können und werden sich im Laufe der Zeit ändern. (vgl. S.271f)

GLOBALE ETHIK

14. Es liegt nahe, den Gedanken der Ethik in einem globalen Rahmen weiter zu denken. Viele Gedanken aus den vorausgehenden Kapiteln wiederholen sich hier (vgl. SS.273-280). Ausdrücklich genannt wird das Thema Vielfalt und Vermischung von Kulturen, globale Ressourcenknappheit, die Problematik verzerrter (fundamentalistischer) religiöser Richtungen und unser Missbrauch anderer Lebewesen für unsere Ernährung. Und er wiederholt auch das Problem der prinzipiellen Wissensgrenzen zu jedem Zeitpunkt bei gleichzeitiger Notwendigkeit, handeln zu müssen. Dieses wissens-unvollständige Handeln verlangt nach Werten, die nicht ‚partikulär‘ sein können. Wo sollen diese neuen Werte herkommen? Er hofft, dass seine Deutung der natürlichen Entwicklung mit seinem Begriff der ‚Kreativität‘ als ‚Heiligkeit‘ eine Art ’natürlichen Gottesbegriff‘ begründet, der als gemeinsamer Grund für alle dienen kann. (vgl. S.276, 280)
15. [Anmerkung: Hier wird unmissverständlich deutlich, dass Kauffman einen bestimmten globalen Zusammenhang voraussetzt, ganz bestimmte kulturelle Gegebenheiten, die in seinem Verständnis eine neue Weltsicht einschließlich einer neuen Ethik verlangen. Während er glaubt, dass dies möglicherweise durch bloße Einführung eines neuen Begriffs (‚God‘, ‚Sacred‘) gelingt, beschreibt er indirekt, dass sehr viele Menschen noch unter dem Eindruck der ‚alten Bilder und Interpretationen‘ stehen, die durch ihre Begrenztheiten ein ‚angemesseneres‘ Verhalten verhindern. Angesichts des Beharrungsvermögens, das psychische und kognitive Muster an den Tag legen, ist es eher unwahrscheinlich, dass die bloße Einführung einer neuen Deutung von ‚Gott‘ die Gewohnheiten von 2000 – 3000 Jahren einfach so ändern; sie sind im Alltag eingebettet und leben dort u.a. in Form von Gewohnheiten, Gebräuchen, Schriftstücken, und Gesetzen, die sich von alleine nicht ändern. Ihre ‚Faktizität‘ prägt aber täglich das Verhalten und damit das Bewusstsein großer Teile der Bevölkerung. Durch diese Rückkopplung des subjektiven Erlebens und Denkens an objektive, soziale Tatbestände kann eine einschneidende Veränderung des Denkens von Dauer immer nur über eine entsprechende Änderung der realen Lebensverhältnisse führen. Die Geschichte hat Beispiele parat, wann und wie solche Prozesse stattgefunden haben.]

NOCHMALS GOTT

16. Auf den abschließenden Seiten SS.281-288 kulminiert nochmals das Denken von Kauffman in der Verwendung und Motivierung der Begriffe ‚Gott‘ und ‚Heilig‘, wie er sie eingeführt hat. Er nimmt ausdrücklich Bezug auf die jüdisch-christliche Traditionen, auch den Buddhismus, nicht aber auf den jüdisch-christlichen Islam. Er unterstreicht, dass eigentlich nur der Begriff ‚Gott‘ die kulturelle Kraft hat, die tiefsten und wichtigsten Überzeugungen der Menschheit zu repräsentieren. Er spricht von der Notwendigkeit von ‚Spiritualität‘ und auch von ‚Riten‘.
17. [Mit diesen vielfachen Wiederholung immer des gleichen Themas in den letzten Kapiteln manifestiert sich sowohl die Bedeutung, die Kauffman diesen Begriffen beimisst wie auch die Schwierigkeit, dieser Bedeutungschwere den angemessenen Ausdruck zu verleihen. Wenn man Kaufman auf all den Seiten seines Buches gefolgt ist, und schrittweise miterlebt hat, wie er sich seine eigene, neue Sichtweise mühsam gegen vielseitig gewohnte Sehweisen erkämpft hat, dann kann man ansatzweise nachempfinden, wie das Neue nachhallt und sich zugleich immer mehr Perspektiven auftun, neue Ansatzpunkte greifbar werden, wo und wie man diese stimulierenden Gedanken weiterführen und möglicherweise sogar umsetzen kann. Jeder erlebt die Lektüre eines Buches notgedrungen im Lichte seiner eigenen Fragen und seines eigenen Wissens. Für mich war dies Buch eine Art ‚Katalysator‘ für sehr viele wichtige Gedanken und Perspektiven. In der nächsten Zeit werde ich mit Sicherheit darauf zurückkommen. ]

Ende der besprechenden Lektüre von Kauffman’s Buch ‚Reinventing the Sacred‘.

Ein Überblick über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER

REDUKTIONISMUS, EMERGENZ, KREATIVITÄT, GOTT – S.A.Kauffman – Teil 5

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Letzte Änderung (mit Erweiterungen): 12.April 2013, 06:26h

ALLGEMEINE EINSCHÄTZUNGEN ZU SEELE, GEIST UND WISSENSCHAFTEN

1. Im nächsten Kapitel ‚Mind‘ (etwa ‚Geist‘ (es gibt keine eindeutigen begrifflichen Zuordnungen in diesem Fall)) (SS.177-196) handelt Kauffman vom ‚Geist‘ des Menschen einschließlich dem besonderen Aspekt ‚(Selbst-)Bewusstsein‘ (‚consciousness‘) mit jenen Beschreibungsversuchen, die er für nicht zutreffend hält. Es folgt dann ein Kapitel ‚The Quantum Brain‘ (etwa ‚Das Quantengehirn‘) (SS.197-229), in dem er seine mögliche Interpretation vorstellt. Seine eigene Grundüberzeugung stellt er gleich an den Anfang, indem er sagt, dass der menschliche Geist (i) nicht ‚algorithmisch‘ sei im Sinne eines berechenbaren Ereignisses, sondern (ii) der Geist sei ‚Bedeutung und tue Organisches‘ (‚is a meaning and doing organic system‘). (iii) Wie der Geist Bedeutung erzeuge und sein Verhalten hervorbringe, das sei jenseits der aktuellen wissenschaftlichen Erklärungsmöglichkeiten.(vgl. S.177)
2. [Anmk: Seiner grundsätzlichen Einschätzung, dass eine vollständige wissenschaftliche Erklärung bislang nicht möglich sei (iii), kann ich nur zustimmen; wir haben mehr Fragen als Antworten. Die andere Aussage (ii), dass Geist ‚is a meaning and doing organic system‘, ist schwierig zu verstehen. Was soll es heißen, dass der Geist (‚mind‘) ‚doing organic system‘? Hier kann man nur raten. Ein sehr radikaler Interpretationsversuch wäre, zu sagen, dass der ‚Geist‘ etwas ist, was die Entstehung von organischen Systemen ermöglicht. Damit würde Geist fast schon zu einem ‚inneren Prinzip der Materie‘. Aus den bisherigen Ausführungen von Kauffmann gäbe es wenig Anhaltspunkte, das zu verstehen. Die andere Aussage (i), dass ‚Geist‘ (‚mind‘) ‚Bedeutung‘ sei, ist ebenfalls nicht so klar. Die Standardinterpretation von ‚Bedeutung‘ wird von der Semiotik geliefert. Innerhalb der Semiotik ist aber speziell der Begriff der Bedeutung, wie man sehr schnell sehen kann keinesfalls einfach oder klar. Ohne eine eigene Theorie verliert man sich in den historisch gewachsenen Verästelungen. Es gibt eine Vielzahl von Denkversuchen, die sich nicht auf einen gemeinsamen Denkrahmen zurückführen lassen. Die Geschichte der Ideen ist generell ein faszinierendes Phänomen ohne eine zwingende Logik. Die muss man sich selbst erarbeiten.]

ALGORITHMISIERUG VON GEIST

3. Auf den Seiten 178-182 zählt er einige wichtige Personen und Konzepte auf, die der Begriff ‚algorithmisch‘ in seiner historischen Entwicklung konnotiert. Da ist einmal Turing, der ein mathematisches Konzept von ‚Berechenbarkeit‘ gefunden hat, das bis heute die Grundlage für alle wichtigen Beweise bildet. Daneben von Neumann, der ’nebenher‘ eine Architektur für reale Computer erfunden hat, die als Von-Neumann-Architektur zum Ausgangspunkt der modernen programmierbaren Computers geworden ist. Ferner stellt er McCulloch vor und Pitts. McCulloch und Pitts gelten als jene, die als erstes eine erfolgreiche Formalisierung biologischer Nervenzellen durchgeführt haben und mit ihren McCulloch-Pitts Neuronen das Gebiet der künstlichen neuronalen Zellen begründeten. Das Besondere am frühen Konzept von McCulloch-Pitts war, dass sie nicht nur ein formales Modell von vernetzten künstlichen Neuronen definierten, sondern dass sie zusätzlich eine Abbildung dieser Neuronen in eine Menge formaler Aussagen in dem Sinne vornahmen, dass ein Neuron nicht nur eine Prozesseinheit war mit dem Zustand ‚1‘ oder ‚0‘, sondern man ein Neuron zugleich auch als eine Aussage interpretieren konnte, die ‚wahr‘ (‚1‘) sein konnte oder ‚falsch‘ (‚0‘). Damit entstand parallel zu den ‚rechnenden‘ Neuronen – in einer ’symbolischen‘ Dimension – eine Menge von interpretierten logischen Aussagen, die man mit logischen Mitteln bearbeiten konnte. Kauffman diskutiert den Zusammenhang zwischen diesen drei Konzepten nicht, stellt dann aber einen Zusammenhang her zwischen dem Formalisierungsansatz von McCulloch-Pitts und seinem eigenen Konzept eines ‚Boolschen Network Modells‘ (‚Boolean network model‘) aus Kapitel 8 her [hatte ich im Detail nicht beschrieben][Anmerkung: Vor einigen Jahren hatte ich mal versucht, die Formalisierungsansätze von McCulloch und Pitts zu rekonstruieren. Sie benutzen die Logik, die damals Carnap entwickelt hatte, erweitert um den Faktor Zeit. Mir ist keine konsistente Rekonstruktion gelungen, was nicht viel besagen muss. Möglicherweise war ich zu dumm, zu verstehen, was Sie genau wollen.]
4. Sowohl am Beispiel des ‚rechnenden Neurons‘ (was Kauffman und viele andere als ’subsymbolisch‘ bezeichnen) wie auch am Beispiel der interpretierten Aussagen (die von Kauffman als ’symbolisch‘ bezeichnete Variante) illustriert Kauffman, wie diese Modelle dazu benutzt werden können, um sie zusätzlich in einer dritten Version zu interpretieren, nämlich als ein Prozessmodell, das nicht nur ‚Energie‘ (‚1‘, ‚0‘) bzw. ‚wahr’/ ‚falsch‘ verarbeitet, sondern diese Zustände lassen sich abbilden auf ‚Eigenschaften des Bewusstseins‘, auf spezielle ‚Erlebnisse‘, die sich sowohl als ‚elementar’/ ‚atomar‘ interpretieren lassen wie auch als ‚komplex’/ ‚abstrahiert‘ auf der Basis elementarer Erlebnisse. (vgl. S.180f)
5. [Anmerkung: Diese von Kauffman eingeführten theoretischen Konzepte tangieren sehr viele methodische Probleme, von denen er kein einziges erwähnt. So muss man sehr klar unterscheiden zwischen dem mathematischen Konzept der Berechenbarkeit von Turing und dem Architekturkonzept von von Neumann. Während Turing ein allgemeines mathematisches (und letztlich sogar philosophisches!) Konzept von ‚endlich entscheidbaren Prozessen‘ vorstellt, das unabhängig ist von irgend einer konkreten Maschine, beschreibt von Neumann ein konkrete Architektur für eine ganze Klasse von konkreten Maschinen. Dass die Nachwelt Turings mathematisches Konzept ‚Turing Maschine‘ genannt hat erweckt den Eindruck, als ob die ‚Turing Maschine‘ eine ‚Maschine sei. Das aber ist sie gerade nicht. Das mathematische Konzept ‚Turing Maschine‘ enthält Elemente (wie z.B. ein beidseitig unendliches Band), was niemals eine konkrete Maschine sein kann. Demgegenüber ist die Von-Neumann-Architektur zu konkret, um als Konzept für die allgemeine Berechenbarkeit dienen zu können. Ferner, während ein Computer mit einer Von-Neumann-Architektur per Definition kein neuronales Netz ist, kann man aber ein neuronales Netz auf einem Von-Neumann-Computer simulieren. Außerdem kann man mit Hilfe des Turing-Maschinen Konzeptes untersuchen und feststellen, ob ein neuronales Netz effektiv entscheidbare Berechnungen durchführen kann oder nicht. Schließlich, was die unterschiedlichen ‚Interpretationen‘ von neuronalen Netzen angeht, sollte man sich klar machen, dass ein künstliches neuronales Netz zunächst mal eine formale Struktur KNN=[N,V,dyn] ist mit Mengen von Elementen N, die man Neuronen nennt, eine Menge von Verbindungen V zwischen diesen Elementen, und einer Übergangsfunktion dyn, die sagt, wie man von einem aktuellen Zustand des Netzes zum nächsten kommt. Diese Menge von Elementen ist als solche völlig ’neutral‘. Mit Hilfe von zusätzlichen ‚Abbildungen‘ (‚Interpretationen‘) kann man diesen Elementen und ihren Verbindungen und Veränderungen nun beliebige andere Werte zuweisen (Energie, Wahr/Falsch, Erlebnisse, usw.). Ob solche Interpretationen ’sinnvoll‘ sind, hängt vom jeweiligen Anwendungskontext ab. Wenn Kauffman solche möglichen Interpretationen aufzählt (ohne auf die methodischen Probleme hinzuweisen), dann sagt dies zunächst mal gar nichts.]

GEHIRN ALS PHYSIKALISCHER PROZESS

6. Es folgt dann ein kurzer Abschnitt (SS.182-184) in dem er einige Resultate der modernen Gehirnforschung zitiert und feststellt, dass nicht wenige Gehirnforscher dahin tendieren, das Gehirn als einen Prozess im Sinne der klassischen Physik zu sehen: Bestimmte neuronale Muster stehen entweder für Vorgänge in der Außenwelt oder stehen in Beziehung zu bewussten Erlebnissen. Das Bewusstsein hat in diesem Modell keinen ‚kausalen‘ Einfluss auf diese Maschinerie, wohl aber umgekehrt (z.B. ‚freier Wille‘ als Einbildung, nicht real).
7. [Anmk: Das Aufzählen dieser Positionen ohne kritische methodische Reflexion ihrer methodischen Voraussetzungen und Probleme erscheint mir wenig hilfreich. Die meisten Aussagen von Neurowissenschaftlern, die über die Beschreibung von neuronalen Prozessen im engeren Sinne hinausgehen sind – vorsichtig ausgedrückt – mindestens problematisch, bei näherer Betrachtung in der Regel unhaltbar. Eine tiefergreifende Diskussion mit Neurowissenschaftlern ist nach meiner Erfahrung allerdings in der Regel schwierig, da ihnen die methodischen Probleme fremd sind; es scheint hier ein starkes Reflexions- und Theoriedefizit zu geben. Dass Kauffman hier nicht konkreter auf eine kritische Lesart einsteigt, liegt möglicherweise auch daran, dass er in den späteren Abschnitten einen quantenphysikalischen Standpunkt einführt, der diese schlichten klassischen Modellvorstellungen von spezifischen Voraussetzungen überflüssig zu machen scheint.]

KOGNITIONSWISSENSCHAFTEN; GRENZEN DES ALGORITHMISCHEN

8. Es folgt dann ein Abschnitt (SS.184-191) über die kognitiven Wissenschaften (‚cognitive science‘). Er betrachtet jene Phase und jene Strömungen der kognitiven Wissenschaften, die mit der Modellvorstellung gearbeitet haben, dass man den menschlichen Geist wie einen Computer verstehen kann, der die unterschiedlichsten Probleme ‚algorithmisch‘, d.h. durch Abarbeitung eines bestimmten ‚Programms‘, löst. Dem stellt Kauffman nochmals die Unentscheidbarkeits- und Unvollständigkeitsergebnisse von Gödel gegenüber, die aufzeigen, dass alle interessanten Gebiete der Mathematik eben nicht algorithmisch entscheidbar sind. Anhand der beiden berühmten Mathematiker Riemann und Euler illustriert er, wie deren wichtigsten Neuerungen sich nicht aus dem bis dahin Bekanntem algorithmisch ableiten ließen, sondern auf ‚kreative Weise‘ etwas Neues gefunden haben. Er zitiert dann auch die Forschungen von Douglas Medin, der bei seinen Untersuchungen zur ‚Kategorienbildung‘ im menschlichen Denken auf sehr viele ungelöste Fragen gestoßen ist. Wahrscheinlichkeitstheoretische Ansätze zur Bildung von Clustern leiden an dem Problem, dass sie nicht beantworten können, was letztlich das Gruppierungskriterium (‚Ähnlichkeit‘, welche?) ist. Aufgrund dieser grundsätzlichen Schwierigkeit, ‚Neues‘, ‚Innovatives‘ vorweg zu spezifizieren, sieht Kauffman ein grundsätzliches Problem darin, den menschlichen Geist ausschließlich algorithmisch zu definieren, da Algorithmen – nach seiner Auffassung – klare Rahmenbedingungen voraussetzen. Aufgrund der zuvor geschilderten Schwierigkeiten, solche zu bestimmten, sieht er diese nicht gegeben und folgert daraus, dass die Annahme eines ‚algorithmischen Geistes‘ unzulänglich ist.
9. [Anmk: Die Argumente am Beispiel von Goedel, Riemann, Euler, und Medin – er erwähnte auch noch Wittgenstein mit den Sprachspielen – würde ich auch benutzen. Die Frage ist aber, ob die Argumente tatsächlich ausreichen, um einen ‚algorithmischen Geist‘ völlig auszuschliessen. Zunächst einmal muss man sich klar machen, dass es ja bislang überhaupt keine ‚Theorie des Geistes an sich‘ gibt, da ein Begriff wie ‚Geist‘ zwar seit mehr als 2500 Jahren — betrachtet man nur mal den europäischen Kulturkreis; es gibt ja noch viel mehr! — benutzt wird, aber eben bis heute außer einer Unzahl von unterschiedlichen Verwendungskontexten keine einheitlich akzeptierte Bedeutung hervorgebracht hat. Dies hat u.a. damit zu tun, dass ‚Geist‘ ja nicht als ‚direktes Objekt‘ vorkommt sondern nur vermittelt in den ‚Handlungen‘ und den ‚Erlebnissen‘ der Menschen in unzähligen Situationen. Was ‚wirklich‘ mit ‚Geist‘ gemeint ist weiß insofern niemand, und falls doch, würde es allen anderen nichts nützen. Es gibt also immer nur partielle ‚Deutungsprojekte‘ von denen die kognitive Psychologie mit dem Paradigma vom ‚Geist‘ als ‚Computerprogramm‘ eines unter vielen ist. Hier müsste man dann nochmals klar unterscheiden, ob die psychologischen Modelle explizit einen Zusammenhang mit einer zugrunde liegenden neuronalen Maschinerie herstellen oder nicht. Versteht man die wissenschaftliche Psychologie als ein ‚empirisches‘ Deutungsprojekt, dann muss man annehmen, dass sie solch einen Zusammenhang explizit annimmt. Damit wäre ein algorithmisches Verhalten aus der zugrunde liegenden neuronalen Maschinerie herzuleiten. Da man nachweisen kann, dass ein neuronales Netz mindestens so rechenstark wie eine Turingmaschine ist, folgt daraus, dass ein neuronales Netzwerk nicht in allen Fällen algorithmisch entscheidbar ist (Turing, 1936, Halteproblem). Dies bedeutet, dass selbst dann, wenn der menschliche Geist ‚algorithmisch‘ wäre, daraus nicht folgt, dass er alles und jedes berechnen könnte. Andererseits, wie wir später sehen werden, muss man die Frage des Gehirns und des ‚Geistes‘ vermutlich sowieso in einem ganz anderen Rahmen bedenken als dies in den Neurowissenschaften und den Kognitionswissenschaften bislang getan wird.]

GEIST OPERIERT MIT ‚BEDEUTUNG‘

10. Es folgen (SS.192-196) Überlegungen zur Tatsache, dass der ‚Geist‘ (‚mind‘) mit ‚Bedeutung‘ (‚meaning‘) arbeitet. Welche Zeichen und formale Strukturen wir auch immer benutzen, wir benutzen sie normalerweise nicht einfach ’nur als Zeichenmaterial‘, nicht nur rein ’syntaktisch‘, sondern in der Regel im Kontext ‚mit Bezug auf etwas anderes‘, das dann die ‚Bedeutung‘ für das benutzte Zeichenmaterial ausmacht. Kauffman bemerkt ausdrücklich, dass Shannon in seiner Informationstheorie explizit den Aspekt der Bedeutung ausgeschlossen hatte. Er betrachtete nur statistische Eigenschaften des Zeichenmaterials. Ob ein Zeichenereignis eine Bedeutung hat bzw. welche, das muss der jeweilige ‚Empfänger‘ klären. Damit aber Zeichenmaterial mit einer möglichen Bedeutung ‚verknüpft‘ werden kann, bedarf es eines ‚Mechanismus‘, der beides zusammenbringt. Für Kauffman ist dies die Eigenschaft der ‚Agentenschaft‘ (‚agency‘). Wie der menschliche Geist letztlich beständig solche neuen Bedeutungen erschafft, ist nach Kauffman bislang unklar.
11. Es folgen noch zwei Seiten Überlegungen zur Schwierigkeit, die nichtlineare Relativitätstheorie und die lineare Quantentheorie in einer einzigen Theorie zu vereinen. Es ist aber nicht ganz klar, in welchem Zusammenhang diese Überlegungen zur vorausgehenden Diskussion zum Phänomen der Bedeutung stehen.

Fortsezung mit Teil 6.

Ein Überblick über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER

REDUKTIONISMUS, EMERGENZ, KREATIVITÄT, GOTT – S.A.Kauffman – Teil 4

Vorausgehender Teil 3

NICHTVORAUSSAGBARKEIT DER WIRTSCHAFT

1. Im Kapitel ‚The Evolution of the Economy‘ (‚Die Evolution der Wirtschaft‘) (SS.150-176) beschreibt Kauffman, wie sich die bislang aufgefundenen Eigenschaften der Nichtergodizität und der Präadaptation auch im Bereich der Wirtschaft – bei ihm in Anlehnung an die ‚biosphere‘ ‚ecosphere‘ genannt – wiederfinden, mit allerlei Konsequenzen. Z.B. folgt aus der Annahme der Gültigkeit seiner Modellvorstellungen, dass eine Wirtschaft – in der Theorie – am besten gedeihen kann, wenn es eine möglichst große Vielfalt gibt. Denn dann ist die Chance zur Bildung neuer, innovativer – koevolutionärer – Lösungen am höchsten. Das System stimuliert sich dann quasi ’selbst‘, immer mehr. Zugleich folgt aus seinem Modell die prinzipielle Nichtvoraussagbarkeit der diversen Entwicklungen. (vgl.S.150f)
2. Als ein Beispiel für die Schwierigkeit der Voraussagbarkeit des wirtschaftlichen Geschehens und der Nichtreduzierbarkeit dieser Vorgänge auf die Physik führt Kauffman das berühmte Arrow-Debreu Modell des kompetitiven Gleichgewichts an (heute ein Kern der General equilibrium theory). Das Arrow-Debreu Modell wird bisweilen auch Arrow-Debreu-McKenzie Modell genannt, da neben Kenneth Arrow und Gérard Debreu später Lionel W.McKenzie einige Verbesserungen in das Modell eingebracht hatte.
3. Die Nichtreduzierbarkeit auf die Physik sieht Kauffman dadurch gegeben, dass die teilnehmenden Markt-Akteure u.a. auch mit ‚Werten‘ operieren, die sie den verschiedenen handelbaren Gütern zuordnen. Da nach Kauffman physikalische Modelle nur über reale Ereignisse in der realen Welt operieren können, folgt für ihn aus dieser Annahme die Nichtanwendbarkeit der Physik. (vgl. S.155) [Anmerkung: Wie schon früher angemerkt, hängt diese Schlussfolgerung an einer bestimmten Definition von Physik. Wenn man davon ausgeht, dass die Physik sich prinzipiell mit der ‚ganzen‘ Natur beschäftigt, dann würde sich die Physik – mit wachsenden Einsichten in die Besonderheiten der Welt – konzeptuell beständig weiter ausdehnen! Vom Selbstverständnis einer Physik her wären dann auch Akteure mit Werturteilen nicht notwendigerweise aus einer physikalischen Theoriebildung ausgeschlossen. Dann aber wären alle heute bekannten wissenschaftlichen Disziplinen nur ‚Spielarten‘ der einen Disziplin Physik. Das wirkt auch nicht sehr überzeugend. Hier stellt sich die wissenschaftstheoretische Frage nach der Abgrenzbarkeit der verschiedenen Disziplinen voneinander bzw. nach ihrer möglichen inhaltlichen Beziehung. Ich habe nicht den Eindruck, dass diese Frage bislang irgendwo nennenswert diskutiert wird. Aus ökonomischen und politischen Überlebensinteressen heraus erscheint eine erfolgreiche Abgrenzung meist erfolgversprechender als eine diffuse Vereinigung.]
4. Die Nichtanwendbarkeit der ökonomischen Modelle – und damit die Unmöglichkeit einer seriösen Voraussagbarkeit – sieht Kauffman sowohl in der Nichtvoraussagbarkeit der zu einem bestimmten Zeitpunkt tatsächlich vorhandenen Güter gegeben wie auch in der Nichtvoraussagbarkeit der zu einem bestimmten Zeitpunkt neu erfundenen Güter.(vgl. S.155) Der tiefere Grund scheint in der Unmöglichkeit zu liegen, den ökonomischen Entwicklungsprozess selbst zu modellieren.(vgl. S.156).
5. Kauffman erwähnt auch die Theorien game theory (‚Spieltheorie‘) und rational expectations (‚Rationale Erwartungen‘). In beiden Fällen sieht er eine Nichtanwendbarkeit in der Realität, da diese Theorien – wie schon im Falle der zuvor erwähnten Gleichgewichtstheorie – die zugrunde liegenden nicht voraussagbaren Entwicklungsprozesse weder beschreiben noch in Rechnung stellen können. (vgl. SS.156-158)
6. [Anmk: In der grundsätzlichen Kritik würde ich Kauffman zwar folgen, aber die Frage ist, ob man damit diesen verschiedenen Theoriebildungen gerecht wird. Insofern die genannten Theorien einen ‚totalen‘ Erklärungsanspruch erheben, muss man sie sicher kritisieren, da sonst falsche Erwartungen geweckt werden. Aber der Wert dieser Theorien liegt in der Praxis meist darin, dass die beteiligten Wissenschaftler mit Hilfe solcher Theorien (= Modellen) versuchen, ihr Verständnis der wirtschaftlichen Vorgänge zu klären und zu schärfen. Ohne solche Modelle gäbe es nur ein Grau-in-Grau von Datenfluten ohne erkennbare Strukturen. Mit solchen Modellen zeigen sich mögliche interessante Strukturen, die Anlass geben können, weiter zu denken. Und in allen drei Fällen kann man beobachten, wie diese Modellbildungen eine anhaltende Diskussion erzeugt haben und erzeugen, die zu immer weiteren Klärungen voranschreitet, einschließlich massiver Kritik, warum das Modell als Ganzes oder Teile davon nicht anwendbar sind. ]

WIRTSCHAFT UND AUTOKATALYSE

7. Nachdem Kauffman drei sehr prominente Modelle ökonomischen Geschehens in dem Punkt kritisiert hat, dass sie den allem Geschehen zugrunde liegende Prozess der Entwicklung nicht beschreiben, stellt er selbst ein Modell für solch einen Entwicklungsprozess vor. Dazu benutzt er wieder sein schon mehrfach zitiertes ‚autokatalytisches Modell‘. Die Kernidee ist ja, dass es zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte Menge von Gütern und Akteuren gibt. Zu einem Gut gibt es entweder ein ‚komplimentäres‘ Gut (ein Auto benötigt Reifen, eine Innenausstattung, usw.) oder ein ’substituierendes‘ Gut (z.B. statt Dampfantrieb ein Elektroantrieb). Diese komplimentären und ersetzenden Möglichkeiten stehen ferner in Wechselwirkungen mit einem an Akteure gebundenen Bedarf, der seiner Natur nach in keiner Weise umfassend und erschöpfend beschrieben noch vorweg genommen werden. Man kann leicht sehen, wie diese wechselseitigen ‚Stimulationen‘ umso vielfältiger und intensiver sein können, als die aktuelle Menge an verfügbaren Gütern und erwartenden Akteuren größer und vielfältiger ist. Kauffman spricht hier von Ko-Konstruktionen bzw. Ko-Evolution. Und, so wenig dieser gesamte Prozess des sich wechselseitigen Stimulierens und Hervorbringens in irgend einer Weise voraussagbar ist, so wenig ist auch das erfinderische Verhalten der beteiligten Akteure, der Menschen, als solches voraussagbar. (SS.158-163)
8. Auf den Seiten 163-172 stellt Kauffman dann konkrete Simulationen vor, die mit Computerversionen des Modells gerechnet worden sind. Die Details spielen hier keine Rolle. Allerdings zeigt sich in diesen Simulationen, dass verschiedene Phänomene in diesem Modell einem ‚Potenzgesetz‘ (‚power law‘) folgen. Damit stellt er eine Verbindung her zum Modell der ’selbstorganisierenden Kritikalität‘ Self-organized criticality (SOC), das in der Physik entdeckt worden war zur Beschreibung komplexer Phänomene in der Natur. Er selbst konnte in Experimenten nachweisen, wie sich die Verteilung der Lebenszeit von Individuen oder die Verteilung von Aussterbensereignisse mit solch einem Modell beschreiben lassen.(vgl. S.172f) Das Modell der selbsorganisierenden Kritikalität lies sich auch anhand der Daten der Lebenszeit von Firmen nachweisen. (vgl.S.174)

GRENZEN VON COMPUTERMODELLEN ZUR VORAUSSAGE WIRTSCHAFTLICHER PROZESSE

9. Abschliessend zweifelt er daran, dass man mittels Computersimulationen wirtschaftliche Prozesse so simulieren könne, dass man daraus belastbare Vorhersagen für die Zukunft gewinnen könnte.(vgl.S.174) Nochmals zitiert er Gödel mit seinem Unvollständigkeitsbeweis und stellt mit Blick auf die ökonomischen Modelle fest, dass die Ergebnisse von Gödel im Falle der Ökonomie auf jeden Fall auch zutreffen.
10. [Anmk: Eine detaillierte Diskussion der verschiedenen von Kauffman zitierten Modelle und Theorien ist in dem hier gesetzten Rahmen einer ersten Besprechung nicht geeignet. In anderen Kontexten werde ich verschiedene dieser Modelle noch genauer untersuchen und dann bei Gelegenheit im Blog darüber berichten. Die grundsätzliche Stossrichtung der Argumentation erscheint mir aber plausibel und wichtig. In der Tat ist es die innere Logik des Prozesses selbst, die interessant ist und die daraus sich ergebende Nichtvoraussagbarkeit der nächsten Prozesschritte. Dennoch geschieht das Ganze nicht vollständig ‚planlos‘, was sich aus verschiedenen Voraussetzungen ergibt. Hier zeigt sich eine interessante Paradoxie, die weiter zu ergründen ist.]

Zur Fortsetzung siehe Teil 5

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REDUKTIONISMUS, EMERGENZ, KREATIVITÄT, GOTT – S.A.Kauffman – Teil 3

Vorausgehender Teil 2

Letzte Änderung (mit Erweiterung): 24.März 2013

ZUSAMMENFASSUNG TEIL 1-2:

(1) Nach einer Charakterisierung des ‚Reduktionismus‘ am Beispiel der modernen Physik führte Kauffman verschiedene Argumente gegen diesen Reduktionismus an. Daraus und aus weiteren Argumenten formte er dann Argumente für die Nichtreduzierbarkeit des Biologischen auf das Physikalische. Diese führten dann zurück zum Ursprung des Lebens, zur unglaublichen Komplexität dieses Anfang und zugleich der anhaltenden Schwierigkeit, diesen Anfang plausibel erklären zu können. Kauffman präsentiert dabei auch ein eigenes Modell, das Modell der autokatalytischen Mengen, das — zumindest mathematisch – viele der wichtigen Fragen zu erklären scheint. Die dann folgenden Gedanken sind sehr ‚dicht‘ und kombinieren mehrere komplexe Konzepte: z.B. Begriffe wie ‚Bedeutung‘, ‚Wert‘, ‚Handeln‘, ‚Handelnder‘, ‚Zeichen‘ als wichtige Eigenschaften des Biologischen. Dazu die Frage nach möglichen Vorläufern, nach ‚allerersten Handelnden‘, sozusagen ‚Protoagenten‘. Zusätzlich wird angenommen, dass sich auf das Verhalten eines biologischen Systems der Begriff ‚zielgerichtet‘ anwenden lässt, der weitere Begriffe wie ‚Bedeutung‘, ‚Wert‘, ‚Absicht‘ und ‚Handelnder‘ impliziert. Schon auf der Ebene einer einzelnen Zelle sieht Kauffman alle wichtigen Eigenschaften als gegeben an: Zellen können ‚entdecken‘ (‚detect‘), sie haben eine ‚Wahl‘ (‚choice‘), und sie können ‚handeln‘ (‚act‘). Zusätzlich können sie sich ‚reproduzieren‘ und können mindestens einen ‚Arbeitszyklus‘ (‚work cycle‘ (im Sinne einer Carnot-Maschine) ausführen. Zusätzlich aber, und dies hebt Kauffman hervor, benötigen diese Systeme die Fähigkeit, diese Zufuhr von freier Energie zu organisieren. Dazu gehört die Fähigkeit der ‚Speicherung‘ von Energie und der Selbstreproduktion. Kauffman schlägt vor, diese ‚Zielgerichtetheit‘, die ein außenstehender Betrachter in solch einem evolutionären Prozess ‚erkennen‘ kann, als eine spezifische Eigenschaft solcher Systeme zu sehen, die er ‚Handlungsfähigkeit‘ (‚agency‘) nennt. Am Beispiel eines einfachen Bakteriums verdeutlicht Kauffman diese Begriffe weiter und führt an dieser Stelle fundamentale Begriffe kognitiver Prozesse ein wie ‚Semiose‘, ‚Zeichen‘, ‚Bedeutung‘, Absicht‘ usw. In diesem Zusammenhang erwähnt Kauffman nochmals David Hume (1711 – 1776), der die philosophische These aufgestellt hatte, dass man aus einem einfache ‚Sein‘, aus bloßen ‚Fakten‘, kein ‚Sollen‘ ableiten kann. Die zuvor von Kauffman vorgelegte Interpretation eines Proto-Handelnden würde dies einerseits bestätigen (der Gradient als solcher impliziert nichts), aber andererseits würde deutlich, dass ein Faktum (der Gradient) innerhalb der Beziehung zu einem System, das diesen Gradienten als ‚Zeichen‘ für etwas ‚interpretieren‘ kann, das für das System einen ‚Wert‘ darstellt, in den ‚Kontext eines Sollens‘ geraten kann, das vom interpretierenden System ausgeht. Während Arbeit für einen Physiker nach Kauffman beschrieben werden kann als eine ‚Kraft die über eine Distanz wirken kann‘, reicht dies nach Peter Atkins (Chemiker) nicht aus: Arbeit nimmt auch Bezug auf ‚Einschränkungen‘ (‚constraints‘), durch die die Freiheitsgrade verringert werden und diese Einschränkungen wiederum erlauben neue Arbeit. Er nennt dies das ‚Vorantreiben der Organisation von Prozessen‘ (‚propagating the organization of processes‘). Er erwähnt in diesem Zusammenhang den Unterschied zwischen ‚Wärme‘ (‚heat‘) und ‚Arbeit (‚work‘). Die maximale Verschiedenheit von Bewegungen in einem Gas liegt vor, wenn die Moleküle eine maximale Bewegungsfreiheit haben, also ein Minimum an Einschränkungen. Dieser Zustand erzeugt ‚Wärme‘ aber leistet keine ‚Arbeit‘. Um ‚Arbeit‘ zu verrichten muss man die Freiheitsgrade ‚einschränken‘. Kauffman kritisiert ferner das sehr verbreitete Konzept der ‚Information‘ nach Shannon bzw. das algorithmische Informationskonzept von Kolmogorov und meint, dass dieser Informationsbegriff zu kurz greift. Beiden Konzepten ist gemeinsam, dass sie letztlich nur nach der Menge der Informationen fragen, die übermittelt wird, aber vollständig offen lassen, ‚was‘ Information denn letztlich ist.
(2) [ANMERKUNG: Schon die bisherigen Ausführungen zeigen, dass Kauffmans Reflexionen sich komplexer Begriffe (‚Handelnder‘, ‚Semiose‘,…) bedienen, die er von ‚außen‘ an das ‚Phänomen‘ heranträgt. Die Phänomene selbst ‚zwingen‘ diese Begriffe ’nicht‘ auf; als reflektierender Beobachter kann man aber bei Kenntnis solcher Konzepte ‚Ansatzpunkte im Phänomen‘ sehen, die die Anwendung solcher Begriffe ’nahelegen‘. Folgt man seinen Deutungsvorschlägen, dann kann man in der Tat zwischen den Phänomenen und den vorgeschlagenen Begriffen eine Reihe von Zusammenhängen ‚erkennen‘, die die ‚reinen Fakten‘ in ‚komplexe Phänomene‘ ‚verwandeln‘, die sich einer aktuell möglichen physikalischen Interpretation entziehen.]
(3) Auf den SS.101-119 untersucht Kauffman unter der Überschrift ‚Order for Free‘ verschiedene mathematische Modelle, die emergente Phänomene simulieren. Auf die technischen Details gehe ich hier nicht weiter ein. [Anmk: Ich werde diese Modelle ab SS2013 im Rahmen meiner Vorlesungen testen und dann gelegentlich nochmal darüber berichten. Für die zentralen Aussagen der folgenden Kapitel spielen die Details keine Rolle.]

NICHTERGODISCHES UNIVERSUM

(4) Auf den SS 120-128 untersucht Kauffman das ‚Nichtergodische Universum‘ (Nonergodic Universe‘). Mit ‚Ergodizität‘ (‚Ergodicity‘) ist eine gewisse ‚Gleichheit‘ gemeint, die sich in der Gesamtheit der Ereignisse feststellen lässt, die unter Voraussetzung einer ‚Endlichkeit‘ eine ‚Wiederholbarkeit‘ impliziert. ‚Nichtergodizität‘ meint dann, dass nicht alle Ereignisse gleich häufig sind; damit wird das, was tatsächlich vorkommt, ‚besonders‘. Und Kauffman geht davon aus, dass die Entwicklung des Universums in allen bekannten Phasen in diesem Sinne besonders, ‚einzigartig‘ (‚unique‘) ist und sich hierin ’nicht wiederholt‘. (vgl. S.120f)
(5) Mittels einer Modellrechnung versucht er dies zu verdeutlichen: er nimmt das Beispiel von Proteinen mit jeweils L=200 Aminosäurebausteinen (tatsächliche Proteine können erheblich länger sein). Nimmt man an, dass 20 verschiedene Aminosäurebausteine verfügbar sind, dann ergibt sich die Menge aller möglichen Kombinationen als 20^200, dies entspricht 1.6 * 10^260. Als Alter des Universums nimmt er 10^17 s an. Ferner nimmt Kauffman beispielhaft an, dass für die Bildung eines Moleküls 10^-15 s benötigt würden. Er errechnet dann die Zahl von 10^67 Wiederholungen der gesamten Geschichte des Universums, um alle möglichen Poteine zu bilden [Anmk1: ich hatte 1.6*10^213 errechnet]. [Anmk2: Die Annahme von Kauffman setzt voraus, dass die Proteine nacheinander gebildet werden. Würde man annehmen, dass der Bildungsprozess parallel stattfinden würde, könnten natürlich zur gleichen Zeit viel mehr Proteine gebildet werden. Nimmt man – sehr idealisierend – an, dass sich innerhalb von 10^-15 s 10^80 Proteine bilden würden, dann wären dies innerhalb eines Durchlaufs des Universums vom BigBang bis heute 10^112 verschiedene Proteine. Das entspräche einem verschwindend kleinen Prozentsatz von 9.95*10^-111 % aller möglichen Proteine (der Länge 20). Das würde bedeuten, dass die Geschichte des gesamten Universums auch in diesem extrem unwahrscheinlichen Fall paralleler Erzeugung noch 1.6*10^148 mal wiederholt werden müsste, um alle möglichen Proteine der bescheidenen Länge L=200 zu bilden. Die Annahme eines ergodischen Universums für den Bereich der biogenen Moleküle erscheint also als stark unzutreffend.]
(6) Und Kauffman merkt an, dass dieser nicht-ergodische Charakter sich auf alle komplexen Phänomene oberhalb der Atome erstreckt.(vl. S.123). [Anmk: In Abwandlung der Kauffmanschen Überlegungen zu den autokatalytischen Prozessen könnte man auch folgende Überlegung formulieren: bei allen Prozessen, in denen sich komplexe Strukturen aus einfacheren Strukturen bilden, beobachten wir, dass in einem bestimmten Raumgebiet R_i sich eine spezifische Anfangsmenge S_j von Strukturen gebildet hat, deren Nachfolgezustand nf(S_j)=S_(j+1) sich durch Stattfinden bestimmter endlicher Veränderungen ’nf‘ (Operationen) bilden. D.h. die Menge der möglichen nachfolgenden Strukturen ist nachhaltig bestimmt durch die vorausgehende Stufe. Dadurch wird die Menge der ‚formal möglichen‘ Strukturen eingeschränkt auf die Menge der ‚historisch möglichen‘ Strukturen. Dies kann ’negativ‘ wirken im Sinne einer unnötigen Beschränkung. Man kann diesen Prozess aber auch so verstehen, dass die zu einem bestimmten Zeitpunkt ‚erreichten‘ Strukturen eine Art ‚Strukturgedächtnis‘ bilden von dem, was möglich ist. Die nachfolgenden Zeitpunkte müssen also nicht bei ‚Punkt Null‘ anfangen sondern können die ‚bisherigen Erfahrungen‘ nutzen. Das wiederum wäre im Sinn einer ‚Wissensbildung‘ ein ‚positiver‘ Fortschritt und wäre genau jene Form von ‚Beschleunigung‘, die die realen evolutionären Prozesse von den formalen Modellen reiner Zufälle unterscheidet. Da sich ferner nur solche Strukturen auf Dauer behaupten können, die sich im Kontext ‚bewähren‘, weil sie den ‚Gegebenheiten entsprechen‘, bilden solche ‚memorierten Strukturen‘ nicht nur eine ’neutrale, zufallsgesteuerte‘ Selektion, sondern eine ‚ko-evolutive‘ Entwicklung im Sinne eines strukturellen ‚Echos‘ auf das, was durch die Vorgabe der jeweiligen Umgebung ‚erwartet‘ wird.] Und nach weiteren spekulativen Modellexperimenten (vgl. S.123ff) folgert er dann, dass durch das Aufkommen von nichtergodischen = historischen Prozessen die Gewinnung von zureichenden Wahrscheinlichkeiten im realen Universum prinzipiell nicht möglich ist (höchstens unter sehr speziellen Randbedingungen). Damit gewinnt das Universum einen sowohl nicht-zufälligen Charakter und besitzt doch – quasi paradox — zugleich eine Nichtvoraussagbarkeit.(vgl.S.127f)

ADAPTION, PRÄADAPTION, KO-EVOLUTION

(7) Im folgenden Kapitel ‚Breaking The Galilean Spell‘ (etwa: Das Brechen von Galileis Zauber)(SS.129-149) versucht Kauffman nicht nur das, was er den ‚Zauber Galileis‘ nennt, ‚auszutreiben‘ (vgl.S.131), sondern auch – positiv – die Grundlage zu legen für seine ‚Wiederentdeckung des Heiligen‘.(vgl. S.130) Zur Erinnerung: Der ‚Zauber Galileis‘ besteht für Kauffman darin, dass die neue Form der wissenschaftlichen Beschreibbarkeit der Natur, die – natürlich nicht nur – mit Galilei begann und dann in den empirischen Wissenschaften (mit Newton, Schroedinger, mit Einstein usw.) eine ungeheuerliche Erfolgsgeschichte geschrieben hat, den Eindruck entstehen lies, als ob man das Verhalten der Natur mit einigen wenigen Gesetzen mathematisch vollständig beschreiben kann. Zeigten schon die Ausführungen in den vorausgehenden Kapiteln zur ‚Nichtergodizität‘ des Universums, dass diese Beschreibbarkeit nicht vollständig sein kann, so bringt jetzt Kauffmann nochmals speziell die biologische Evolution ins Spiel. Seine Hauptthese lautet: Das Biologische ist radikal nichtvorhersagbar und endlos kreativ. (vgl.S.130).
(8) Die zentralen Begriffe hier sind ‚Adaptation‘ und dann ‚Präadaptation‘. Mit ‚Adaptation‘ ist generell der Prozess gemeint, dass bestimmte genetisch kodierte Eigenschaften sich im Laufe der Interaktion mit den jeweiligen Umgebungen nicht nur generell ‚verändern‘ können, sondern dass es bestimmte Eigenschaften sind, die sich im Laufe der Zeit auf diese Weise ‚passend‘ zu einer bestimmten Umgebung ‚herausbilden‘. Diese biologische Eigenschaften (Kauffman macht dies am Beispiel der Entwicklung des Organs Herz fest) sind nach Kauffman weder erkenntnismäßig noch ontologisch mit den bekannten physikalischen Gesetzen voraussagbar. (vgl. S.131) Der Grund hierfür ist der Mangel an wiederkehrenden Eigenschaften. Weder sind jene Konstellationen voraussagbar, die zur Herausbildung des Herzens geführt haben, noch konnte man die dann tatsächliche Herausbildung des Herzens voraussagen, da die jeweiligen genetischen Kombinationen (nach Kauffman) prinzipiell nicht voraussagbar sind. ‚Prädaptation‘ ist eine Art Verfeinerung des Begriffs ‚Adaptation‘ dahingehend, dass es innerhalb einer genetischen Information Teilinformationen geben kann, die über lange Zeit hin keine besondere ‚Bedeutung‘ besaßen, bis irgendwann eine Konstellation Auftritt in der es plötzlich eine interessante ‚Verwendung‘ gibt. (vgl. S.131f) Berücksichtigt man den zusätzlichen Umstand, dass Adaptationsprozesse zeitgleich mit unzählig vielen anderen Adaptationsprozessen verlaufen, dann bilden solche Phänomene des sich ‚wechselseitig die Bälle Zuspielens‘ die Grundlage für das, was wir ‚Koevolution‘ nennen. Ein Adaptationsprozess alleine könnte noch so viele ‚Ansatzpunkte‘ (präadaptive Voraussetzungen) bieten; eine bestimmte Entwicklung würde nur stattfinden, wenn entsprechend parallel andere Entwicklungen zeitgleich auch verfügbar wären. Die in der Wechselwirkung sich dann zeigenden neuen Eigenschaften sagen etwas aus, über die beteiligten Prozesse, sind aber natürlich nicht voraussagbar im Sinne der klassischen Physik. Für eine Voraussagbarkeit würde man ein umfassendes Wissen aller möglichen künftigen Umgebungen benötigen samt der zugehörigen beteiligten adaptiven Prozesse. Nach Kauffman hat dieses Wissen niemand, es nicht verfügbar, also kann man auch nichts voraussagen. (vgl. S.132f).
(9) [Anmk: An dieser Stelle ist Vorsicht geboten. Zwar liegt hier sicher keine Voraussagbarkeit im Sinne der klassischen Physik vor, aber die klassische Physik wurde ja schon längst um die Quantenphysik erweitert. In der Quantenphysik weiß man deutlich weniger als im Falle von biologischen adaptiven Prozessen, und dennoch kann man quantenphysikalisch vieles ‚erklären‘. Ich halte es für möglich und wahrscheinlich, zu einer Theoriebildung im Zwischenbereich von Quantenphysik und klassischer Physik zu kommen, die mit beiden Bereichen ‚kompatibel‘ ist und die in der Tat die klassisch nicht voraussagbaren biologischen adaptiven Phänomene ‚erklären‘ und in gewisser Weise auch ‚voraussagen‘ kann. Dazu müsste man nur den Theoriebegriff entsprechend anpassen, was bislang – so scheint es – einfach noch niemand getan hat. Warum eigentlich nicht?]

KREATIVITÄT

(10) Durch diese wechselseitigen Abhängigkeiten der biologischen adaptiven Entwicklungen voneinander sind sie nicht nur schwer (bis garnicht) voraussagbar, sondern sie sind auch fragil, anfällig für ein kommendes Scheitern, wenn bestimmte Randbedingungen wieder wegfallen, die sie voraussetzen. (vgl. S.133) Identifiziert man diese ‚partiell gesetzlose‘ Situation mit ‚Kreativität‘ in dem Sinne, dass in einer ‚offenen‘ Situation beständig ’neue‘ Strukturen generiert werden, dann ist diese ‚endlose (‚ceaseless‘) Kreativität eine Form, die man mit dem Begriff ‚Gott‘ in Verbindung bringen kann, sozusagen eine natürliche Form von ‚Heiligkeit‘ (’sacred‘). (vgl.S.135) [Anmk: das englische Wort ’sacred‘, das Kauffman benutzt, ist eigentlich ein Adjektiv und kommt alleine als Substantiv eigentlich nicht vor. Er benutzt es aber so, wie wir im Deutschen das Wort ‚das Heilige‘ benutzen.]
(11) Auf die Frage, ob man die Gesetzeslosigkeit der biologischen adaptiven Prozesse ‚beweisen‘ könne, mein Kauffman mit Hinweis auf Goedels Unvollständigkeitsbeweis, dass die Voraussetzung für solch einen Beweis nicht gegeben seien, da mit der beständigen Erzeugung neuer nicht voraussagbarer Fakten kein vollständiges abgeschlossenes System vorliege, das einen solchen Beweis erlaube. (vgl.S.135)[Anmk: Das scheint mir zu wenig. Es geht ja hier nicht um die Fakten im einzelnen, sondern um die strukturellen Rahmenbedingungen, unter denen bestimmte Fakten auftreten bzw. nicht auftreten. Ich sehe zwar momentan auch niemanden, der einen solchen Beweis dafür oder dagegen bislang geführt hat, aber ich würde momentan nicht ausschließen wollen, dass wir zumindest mehr sagen können, als es Kauffman hier tut. Immerhin legt er hier den Finger auf die ‚Wunde’… ]

Teil 4

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DIE GROSSE VEREINIGUNG: Philosophie, Wissenschaft, Kunst und Religion?

1. Nachdem in den letzten Wochen — zumindest gedanklich — die ‚Vereinigung‘ von getrennten Bereichen fortgesetzt wurde (Seit Januar 2012 Philosophie und Wissenschaft, seit Februar 2013 Philosophie, Wissenschaft und Theologie/ Religion), blieb die Frage nach der Rolle der Kunst bislang außen vor.
2. Dies gründet nicht darin, dass ich selbst etwas gegen Kunst hätte — partiell war und bin ich selbst künstlerisch engagiert –, aber auch mir geht es so wie vielen (den meisten?) heute, dass diese Bereiche in unser Gesellschaft akribisch getrennt werden. In den Schulen, insbesondere den Hochschulen des Landes, sind diese Bereiche voneinander abgeschottet. In den großen Zeitungen sind die Redaktionen ebenfalls säuberlich getrennt: hier die Wissenschaften, hier das Feuilleton als Sammelstelle für Alles, was nicht Wissenschaft ist, ausgenommen Politik und Wirtschaft.
3. Und da wir uns im Normalfall eher innerhalb der vorgebahnten gesellschaftlichen Rollen und Leitplanken bewegen, praktizieren wir ein gedankliches Schisma, das — zumindest Europa und die davon beeinflussten anderen Länder — seit Jahrhunderten besteht.
4. Nun geht es nicht unbedingt um eine ‚Gleichmacherei‘, als ob Kunst gleich Wissenschaft sei oder umgekehrt, aber zumindest um die Frage der ‚inneren Beziehung‘ zwischen Philosophie, Wissenschaft, Kunst und Religion.
5. Für eine solche Fragestellung gibt es viele Gründe: Trotz vieler wissenschaftlicher Disziplinen, vieler unterschiedlicher Künste, leben wir in EINER Welt, in der dies alles ‚gleichzeitig‘ passiert, als reales Geschehen. Also sind es ‚genuine Phänomene‘ dieser einen Welt, die etwas, über die Eigenschaften dieser Welt sagen. Ferner ist es EINE spezifische Gattung, der homo sapiens sapiens, der all diese Verhaltensweise aufweist, manifestiert. Trotz aller Unterschiedlichkeit entspringen alle diese verschiedenen Phänomene einer Quelle und illustrieren je auf ihre Weise Eigenschaften dieser einen Quelle.
6. Eine Abschottung dieser verschiedenen Phänomene voneinander wäre radikal ‚unphilosophisch‘, würde dies doch bedeuten, dass man das, was die Grundlage allen Erkennens bildet, Phänomene als Teil des Erlebensraumes, ‚verdrängen‘, ‚verleugnen‘ würde. Das kann nicht angehen. Philosophisch haben wir keine ‚Metaregel‘, die es uns erlauben würde, beliebige Phänomene zu ‚Un-Phänomenen‘ zu erklären. Das oberste philosophisches Prinzip lautet, JEDES Phänomen zunächst mal als Phänomen zu akzeptieren. Wie man dieses dann später ‚interpretiert‘, ist eine nachgeordnete Frage, verlangt jedoch — zumindest im philosophischen Denken — maximale ‚Transparenz‘.
7. Die Hauptaufgabe der Philosophie angesichts der Vielfalt der Phänomene ist also die ‚Wahrung der Vielfalt‘ mit allen verfügbaren denkerischen Mitteln.
8. Die empirischen Wissenschaften haben sich in den Jahrhunderten seit ihrer Profilierung (kein einzelnes Anfangsdatum; schleichender gesellschaftlicher Prozess) dadurch ausgezeichnet, dass sie in Kombination von ‚empirischen Messverfahren‘ und ‚mathematischer Modellierung‘ TEILBEREICHE der Phänomenwelt untersucht haben. Ihre Ergebnisse sind zweilfellos atemberaubend. Dennoch sollte man vor lauter Begeisterung nicht den Blick dafür verlieren, dass es eben TEILBEREICHE des Phänomenraumes sind, d.h. dass diese Untersuchungen nur möglich waren, weil man ‚methodisch bewusst‘ viele andere Phänomene ‚ausgeklammert‘ hat, da sie mit empirischen Mitteln nicht untersuchbar waren. Zugleich hat die empirische Wissenschaft im Laufe der Jahrhunderte deutliche ‚gedankliche Entwicklungen‘ erlebt: mathematische Modelle wurden laufend verändert, verfeinert, bisweilen durch völlig neue Paradigmen ‚ersetzt‘ (z.B. klassische Physik a la Newton und Quantenphysik).
9. Es scheint so zu sein, dass die ‚Ausklammerung‘ der nicht empirisch messbaren Phänomene — mangels hinreichender philosophischer Reflexion ?! — bei vielen Akteuren zu dem Eindruck geführt hat, dass die REDUIZIERTEN (nicht ‚reduktionistisch‘!) empirischen Theorien eigentlich schon ‚Alles‘ abdecken, was sie natürlich nicht tun, da sie ja einen Großteil der Phänomene schlichtweg ausklammern. Sachlich gesehen ist dies kein Problem, aber psychologisch und machtpolitisch ist es natürlich ‚angenehmer‘, eine gesellschaftlich ’starke‘ Position zu haben als eine ’schwache‘ (z.B. die geisteswissenschaftlichen Disziplinen als ‚Sorgenkinder‘ der zunehmend ökonomisierten Universitäten). Eine Aufrechterhaltung des empirischen Interpretationsmonopols ist also weniger philosophisch-rational begründet als vielmehr psychologisch, soziologisch usw.
10. Dies so sachlich zu diagnostizieren, ist eine Sache. Eine andere Frage ist, wie man sich denn ein weniger abgrenzendes, sondern eher ein konstruktives Verhältnis zwischen empirischen Wissenschaften und den Künsten vorstellen soll? (Also Geisteswissenschaften erweitert um Kunst!)
11. Ein Verständnis der Künste könnte der kreativ-spielerische Umgang mit der ganzen Bandbreite der Phänomene sein ohne die methodisch induzierten Grenzen durch die empirischen Messverfahren. Dies würde sowohl neue Phänomene wie auch neue, implizite Zusammenhänge in diesen Phänomenen sichtbar machen, die für das, was wir als homo sapiens sapiens in dieser Welt sind/ sein können, wesentlich sind. Denn wir ‚kennen‘ uns nur ‚im Vollzug‘. Wer wir ’sind‘ bzw. wer wir ’sein können‘ zeigt sich nur im ‚praktischen Ausloten‘ der Möglichkeiten. Die methodisch induzierten Grenzen der Phänomenselektion der empirischen Wissenschaften sind im Grundsatz zu eng und — falsch verstanden — ideologisch gefährlich. Genauso wenig wie wir philosophisch auftretende Phänomene einfach ‚beiseite schieben‘ können, genauso wenig dürfen wir von vornherein bestimmte Verhaltensweisen einfach — ohne sehr harte Gründe — verbieten, da nur so überhaupt die Phänomene sichtbar werden können, die uns zu neuen, erweiterten Erkenntnissen führen können.
12. Dass bestimmte Phänomenproduktionen wie z.B. bestimmte Formen von ‚Musik‘ oder bestimmte ‚Bilder‘, in Menschen ‚angenehme Gefühle‘ anregen können, dürfte nicht das primäre und nicht das einzige Interesse in der Phänomenproduktion sein. Sonst würde durch solche spezielle Gefühle der gleiche selektierende Isolationseffekt entstehen, wie durch die methodisch induzierten Eingrenzungen der empirischen Wissenschaften (Die Geschichte ist voll von ‚Moden‘ und ‚Trends‘, die sich gewandelt haben und die sich selbst wechselseitig außer Kraft gesetzt haben. Die Rolle und Bedeutung von ‚Gefühlen‘ bei der Bewertung von Wirklichkeit wäre eine eigene Reflexion wert).
13. Die Auslotung des Möglichen im Rahmen einer kreativ-spielerischen Kunst könnte also die Grundlage für ein vertieftes Verständnis dessen sein, was/ wer/ wie wir sind. Zugleich würde eine solche prinzipiell unbegrenzte Phänomenproduktion aber nur dann zu einem ‚gesellschaftlich wirksamen Sinn‘ führen, wenn diese Phänomene ‚angemessen‘ kommuniziert würden bzw. wenn evtl. möglichst viele ähnliche Phänomenproduktionen vollziehen würden, da diese dann als ‚Teile von ihnen selbst‘ sie unmittelbar betreffen und prägen. Es ist zu fragen, ob die heute beobachtbare ‚Spezialisierung und Professionalisierung‘ von künstlerischer Phänomenproduktion nicht eher ein hochgezüchtetes Randphänomen von künstlerischer Aktivität ist, die nah dran ist an bloßer ‚Gefälligkeit‘ und Stereotypisierung und genau den kreativ-spielerischen Charakter verliert. Von gesellschaftlicher ‚Rezeption‘ kann bei dem heutigen hochspezialisierten organisierten Kunstbetrieb kaum gesprochen werden (Welche verschwindende Minderheit von Spezialisten liest Feuilletons?).
14. Dies ist ein weites Feld und kann hier jetzt nicht angemessen behandelt werden. Es geht nur darum, einen ersten Orientierungspfosten zu setzen, um anzudeuten, dass eine stärkere Interaktion von Kunst einerseits und Philosophie und Wissenschaft andererseits auch entsprechende gesellschaftliche Formen und Kommunikationsprozesse erfordert.
15. Die notwendige kommunikative Aufarbeitung neuer — künstlerisch hervorgebrachter — Phänomene muss sicherlich auf vielen Ebenen vollzogen werden. Für den methodischen Gesamtzusammenhang ist die Philosophie zuständig. Für die Erweiterung der wissenschaftlichen Untersuchungen ist die Wissenschaft selbst in enger Kooperation mit der Philosophie zuständig (z.B. auch in der Form der ‚Wissenschaftstheorie‘).
16. Letzteres kann aber nur funktionieren, wenn der Wissenschafts- und Philosophiebetrieb eine kontinuierliche Reflexion pflegen, die diese Fragen als ’normale Fragen‘ in der Routinepraxis ‚pflegen‘. Davon sind wir weit, weit entfernt. Das geschichtlich gewachsene Schisma ist tief verankert in den Köpfen aller Beteiligten und die — ungerechtfertigt unterstellte? — Eitelkeit in den Köpfen der Wissenschafts und/ oder Feuilleton-Redaktionen der Medien tut ihr Ihriges, um dieses Schisma täglich am Leben zu erhalten. Das gelegentlich immer wieder aufflammende Wehklagen der einen über diesen unseligen Zustand oder die abwertenden Bemerkungen der anderen helfen hier nicht weiter.
17. In einem internationalen Projekt, das ich in diesen Monaten zu starten versuche (lange Vorläufe in den letzten Jahren) versuchen wir ein radikal technologisches Experiment direkt mit Kunst und Philosophie zu verknüpfen. Sowohl ‚Reengineering von Goethe‘ wie auch ‚Goethefizierung von künstlicher Intelligenz‘ als platte Formeln, um etwas Komplexes anzudeuten.
18. Wie schon in vorausgehenden Blogeinträgen besprochen, führen die ‚emergenten‘ Phänomene die heutigen empirischen Wissenschaften an die Grenzen ihrer aktuellen Methoden und Modellen. In einer Metareflexion kann man erkennen, dass die empirischen Wissenschaften die Auflösungen der methodischen Aporien nur nur Erweiterung ihrer Modellbildungen durch Einbeziehung höherer Komplexitätsstufen auflösen kann. Diese können aber genau von jenen Disziplinen eingebracht werden, die sich mit ‚Handlung‘, ‚Sprache‘, ‚Bewusstsein‘, ‚Wissen‘, ‚Gefühlen‘, ‚Kunst‘ usw. beschäftigen. Diese ‚Zwitter-Disziplinen‘ — teils empirisch, prinzipiell mathematisch — können Brücken bauen zwischen den verschiedenen bislang schismatisch aufgesplitterten Phänomenmengen. Zwitter-Disziplinen haben kein Problem mit Kunst bzw. künstlerischen Phänomenen.
19. In diesem weit aufgespannten Raum von Philosophie (Kampf für alle Phänomene), empirisches Wissenschaft (Präzisierung des empirisch Messbaren), Zwitter-Disziplinen (Integration der empirischen und nicht-empirischen Phänomene) sowie Kunst (kreativ-spielerische Auslotung des Phänomenraumes) ist prinzipiell Raum für Religion, eigentlich mehr denn je. Ich verstehe unter Religion eine menschliche Haltung dahingehend, dass ein religiöser Mensch die Vielfalt des Phänomenraumes nicht nur als ‚unbeteiligter Zuschauer‘ sieht, sondern sich als ‚Teil des Ganzen‘ begreift. Dadurch verlieren die Phänomene ihren neutralen Status: sie werden zu möglichen ‚Zeichen‘ einer ‚impliziten Bedeutung‘, die sich in der Interaktion mit der Welt ‚zeigen kann‘. Dies verlangt allerdings einen ‚bewussten‘ Umgang mit der Welt als einer Welt, die einem ’nicht egal‘ ist. Alle religiös-mystischen Traditionen, die ich kenne, sind in diesem Punkt kompatibel. Die Gesamtheit des Wissens, wie es sich in Philosophie, Wissenschaften und Kunst erschließt, ist für eine so verstandene Religiosität kein Gegensatz, sondern ganz im Gegenteil ‚Ermöglichungsgrund‘ eines verantworteten Umgangs mit der Welt. Die ‚geistigen Besonderheiten‘, die viele offizielle Religionsgemeinschaften im Laufe ihrer Geschichte produziert haben, wirken vor diesem Hintergrund befremdlich und eher religionsfeindlich (eine leicht paradoxe Formulierung).

Einen Überblick über alle bisherigen Blogeinträge nach Themen findet sich HIER

Kunst als eigene Aktivität

Ich habe vor einigen Jahren, angeregt durch philosophische Reflexionen, begonnen, eigene ‚Kunstexperimente‘ zu realisieren. Ein Bereich ist die experimentelle Musik nach dem Konzept der ‚radically unplugged music (RUM)‘. Dazu habe ich mittlerweile mehr als 400 Musikstücke generiert. ‚Radically Unplugged‘ heisst, dass man nicht nach Noten spielt, das man vorher nicht probt, dass keine Stimme weiss was die andere als nächstes tun wird. Dadurch ist es möglich, dass Personen sich am Experiment beteiligen, die als ‚unmusikalisch‘ gelten, die keine Noten lesen können, ja, die nicht einmal ein Instrument spielen können. Hier ein Stück, das ich gestern ‚produziert‘ habe: ‚Coming To An End‘

Hinweis: Wer sich dieses Klangexperiment anhören möchte, sollte unbedingt darauf achten, über eine sehr gute Soundkarte und einen sehr guten Kopfhörer zu verfügen (noch besser eine Soundanlage mit guten Boxen), andernfalls sind viele Klanganteile nur sehr schlecht oder garnicht hörbar!

REDUKTIONISMUS, ERMERGENZ, KREATIVITÄT, GOTT – S.A.Kauffman – Teil 1

ZUSAMMENHANG MIT DEM BLOG

Letzte Korrekturen: 23.März 2013

(1)Der Zusammenhang mit dem Blog besteht darin, dass im Blog der klassische Widerspruch zwischen ‚Geist‘ auf der einen Seite und ‚Materie‘ auf der anderen von vielen Seiten neu reflektiert wird. Dabei zeigte sich u.a. dass durch die Einbeziehung der neueren Erkenntnisse über das Biologische und seiner Entstehung die Phänomene des Biologischen zu einer neuen Sicht der Materie und der Energie führen können, zu einer Sicht, die deutlich macht, dass die klassische Sicht der Physik sich immer mehr als unbefriedigend erweist. Ergänzt wurden diese Reflexionen durch frühere Einträge im Blog, in denen auch die Sicht des ‚Geistes‘ aus Sicht der Philosophie dahingehend ‚aufgebrochen‘ worden sind, dass auch die klassische Philosophie im Lichte der neueren Erkenntnisse zum Leben ihre eigenen Erkenntnisvoraussetzungen neu bedenken kann und auch muss (dies wurde spätestens seit dem Vortrag in Bremerhaven offenbar!). Zwar bedeutet die Einbeziehung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse eine ‚Verletzung‘ des klassischen philosophischen – und insbesondere des phänomenologischen – Paradigmas, aber es bedeutet keine vollständige Auflösung noch gar eine ‚Zerstörung‘ der Philosophie, sondern – möglicherweise – eine notwendige ‚Erneuerung‘, die schließlich dazu führen kann, die unselige Trennung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften aufzuheben. Diese Trennung erscheint im neuen Denken als ein ‚Artefakt‘ des klassischen Denkens aufgrund falscher Voraussetzungen.
(2) Diese veränderte Sicht auf das Verhältnis zwischen ‚Geist‘ und ‚Materie/ Energie‘ wirkt sich auch aus auf eine veränderte Sicht zum Glauben an das mit ‚Gott‘ Gemeinte, zur Rolle der Religionen und Kirchen (siehe z.B. den Blog zum 24.Dez.2012 und seinen Teil 2).
(3)In diesem Zusammenhang bin ich auf das Buch von Stuart Alan Kauffman gestossen „Reinventing The Sacred. A new View of Science, Reason, and Religion.“ (etwa: Die Wiederentdeckung des Heiligen. Eine neue Sicht der Wissenschaft, des Verstandes und der Religion). Veröffentlicht 2008 (siehe weitere Angaben zu Kauffman unten).

EINSTIEG IN DAS BUCH

(4) Die Einleitung und das erste Kapitel sind ein wenig ’schleppend‘ und ich war schon fast versucht, es wieder weg zu legen, aber dann ab S.10 nimmt das Bucht deutlich Fahrt auf. Und ich habe den Eindruck, dieses Buch kann helfen, die neue Sicht insbesondere im Bereich Physik und Biologie weiter zu differenzieren. Außerdem hat das Buch die unangenehme Eigenschaft, dass Kauffman praktisch nirgends richtig zitiert. Es gibt zwar im Anhang verschiedene Quellenangaben, aber im Text werden die Namen von Autoren oder deren Aussagen zwar erwähnt, aber es gibt keine klare Quellenangaben. Das ist schade, ärgerlich und erschwert das Nachlesen (in diesem Blog mache ich das zwar auch sehr oft, aber es ist auch ein Blog und keine offizielle Veröffentlichung).
(5) Das große Thema des Buches ist nach Kauffman die Unzulänglichkeit einer Physik (bzw. der ganzen Naturwissenschaft), sofern sie sich ‚reduktionistisch‘ versteht, d.h. die Wirklichkeit ausschließlich interpretiert als Rückführung aller Phänomene auf eine Ansammlung von Teilchen. Dieser Denkweise hält er Fakten entgegen, die aus seiner Sicht etwas anderes repräsentieren: die ‚Emergenz‘ des Biologischen, das sich von der Molekülebene aus bis hin zu den komplexen gesellschaftlichen Ausprägungen als eine Form des ‚Zusammenwirken‘ zeigt, die sich nicht aus den physikalischen Gesetzen ableiten lässt, aber dennoch ‚real‘ ist. D.h. es gibt Realität, die uns alle bestimmt, die sich nicht physikalisch (bzw. allgemeiner ’naturwissenschaftlich‘) erklären lässt.
(6) In diesem ‚irreduziblen‘ Phänomen des ‚Biologischen‘ sieht Kauffman eine ‚Kreativität‘ am Werk, die typisch ist für diese Phänomene und er möchte den Begriff ‚Gott‘ für diese das ganze Universum durchwaltende ‚Kreativität‘ benutzen, sozusagen das mit ‚Gott‘ Gemeinte als das sich überall ‚kreativ‘ Zeigende und darin sich Manifestierende (vgl. z.B. S.XI). In diesem Verständnis sieht er einen Anknüpfungspunkt an den weltweiten Glauben an einen Schöpfergott (‚creator god‘), speziell natürlich in der jüdisch-christlichen Tradition (vgl. S.XII). Damit wird das Göttliche stückweise ‚empirisch‘, was neue Ansatzpunkte liefert für ein in der Welt lokalisierte ‚Spiritualität (’spirituality‘), für eine Wiederentdeckung des ‚Heiligen‘ (’sacred‘).(vgl. S.XII)
(7) Den ‚Reduktionismus‘ sieht er schon in den Anfängen der Wissenschaft (Galilei, Descartes, Newton, Laplace) gegeben (vgl. S.2), er kulminiert in der modernen Sicht, dass die Physik letztlich annimmt, dass wir ‚am Grunde‘ der Materie nur ‚Partikel oder Strings haben, die sich in Bewegung befinden‘ (vgl. S.3). Aber mit dieser Basis lässt sich die Vielfalt der biologischen Phänomene nicht beschreiben, auf keinen Fall ‚voraussagen‘. (vgl. S.3ff) Und von daher kann er sagen, dass diese (biologischen) Phänomene (dazu gehören auch die gesellschaftlichen Ausprägungen, insbesondere die Wirtschaft) jenseits der bisherigen Naturgesetze liegen. (Vgl. S.5)
(8) Für Kauffman charakteristisch am Biologischen ist neben seiner vollständigen Nicht-Voraussagbarkeit dass es sich trotz nicht vorhandener Gesetze quasi von selbst organisiert, eine große Vielfalt entwickelt, dabei aber kohärent bleibt.(vgl. S.6) Eine Besonderheit des Biologischen in ihrem selbstorganisatorischen Auftreten ist auch die Eigenschaft der ‚Agentenschaft‘ (‚agency‘), die einhergeht mit Fragen von ‚Werten‘ (‚values‘) und des ‚Tuns‘ (‚doings‘). Biologische Systeme sind nicht ’neutral‘, sondern sie sehen in allem ‚Werte‘. (vgl. SS.6-9)
(9) Und in diesem Kontext der sich überall zeigenden Kreativität wiederholt er seinen Vorschlag aus dem Vorwort, dass das mit ‚Gott‘ Gemeinte zu sehen ist als dasjenige, was sich in all dem manifestiert. Dazu gehört auch eine entsprechende ‚Mystik‘.(vgl. S.6,9)

REDUKTIONISMUS (VERSUCH DER ZURÜCKFÜHRUNG ALLER PHÄNOMENE AUF EINFACHSTE ELEMENTE)

(10)Der Punkt ohne Wiederkehr der Reduktionisten sind die einfachsten, kleinsten Elemente/ Teilchen/ Strings mit ihrer ‚Selbstbewegung‘, hinter und neben denen nichts mehr geht. Kauffman zitiert hier u.a. das Diktum des (großen?) Physikers Weinberg „Je mehr wir das Universum verstehen, umso bedeutungsloser wird es.“(vgl. S.10)
(11)Diese Art des reduktionistischen Denkens weist vielerlei Schwachstellen und Ungereimtheiten auf. Ungereimtheiten, die nah betrachtet eigentlich schon eher eklatante Denkfehler sind, bei denen man sich nur wundern kann, dass Nobelpreisträger sie nicht wahrhaben wollen. Doch zunächst wiederholt Kaufffman einige dieser Ungereimtheiten auf den SS.10-18. Mit der Fixierung des Blicks auf letzte kleinste Elemente gibt es keine ‚Handelnde‘ (‚agency‘) mehr, damit keine ‚Werte‘ und keine ‚Bedeutung‘. Eine ‚teleologische Sprache‘ ist verpönt. Newtons Gesetze induzieren einen umfassenden Determinismus (allerdings noch mit einer umkehrbaren Zeit!). Theistische Gottesauffassungen tendieren nun zu ‚Deistischen‘ (Gott als ‚Uhrmacher‘-Typ…); Gott interveniert nicht mehr. (vgl.S.15) Ein ‚freier Wille‘ wird fragwürdig. Wie soll der Geist mit einem mechanistischen Körper interagieren? Descartes kreiert den expliziten Dualismus.(vgl. S.15)

ARGUMENTE GEGEN EINEN NAIVEN REDUKTIONISMUS

(12)Kauffman zitiert auf den SS.19-21 den Physiker und Nobelpreisträger Philip W.Anderson, der in einer Arbeit 1972 darauf aufmerksam gemacht hat, dass es mit steigender Komplexität in der Anordnung der Atome in Moleküle ‚Symmetriebrüche‘ dahingehend gibt, dass die Lokalisierung der Atome in diesen Verbindungen ab einem bestimmten Punkt nicht mehr in alle mögliche Richtungen stattfindet, sondern nur noch in bestimmte (man spricht von ‚Chiralität‘ im Sinne von ‚Rechts-‚ oder ‚Linkshändigkeit‘). Dies bedeutet, dass auf einer ‚höheren‘ Organisationsebene ‚Phänomene‘ ‚real‘ werden, die sich nicht aus den einzelnen ‚Bestandteilen‘ ‚ableiten‘ lassen. Ein Reduktionismus würde hier nicht nur nichts erklären, sondern würde – im Gegenteil – reale Phänomene ‚leugnen‘.
(13)Kauffman zitiert auf den SS.22f nochmals Anderson mit einer Überlegung zur Berechenbarkeit und dass dieser Berechenbarkeitsbegriff nicht auf physikalischen Eigenschaften beruht. Hier gehen nach meinem Verständnis aber verschiedene Dinge durcheinander. (i) Die Vermischung des Konzepts ‚Turingmaschine‘ von Turing mit dem Rechnerarchitekturkonzept von von Neumann: Turing hatte keine Rechnerarchitektur beschrieben sondern ein logisch-mathematisches Konzept für Berechenbarkeit formuliert, das keinerlei Annahmen bzgl. einer bestimmten Architektur trifft (im Gegensatz zu von Neumann); (ii) die Anführung der Unentscheidbarkeits- und Unvollständigkeitsbeweise von Goedel und Turing an dieser Stelle wirken ein wenig ‚Beziehungslos‘; man weiß nicht so richtig, was sie hier sollen; (iii) die Beweise mit Hilfe der Turingmaschine sind nicht an konkrete physikalische Eigenschaften geknüpft: dies benutzt Anderson/ Kauffman als Argumente gegen den Reduktionismus. Hier zeigen sich Eigenschaften auf einer ‚höheren Ebene‘, die sich nicht auf einzelne Bestandteil zurückführen lassen.
(14)Kauffman erwähnt auf SS.23f das philosophische Konzept der ’supervenience‘ (von vielen einzelnen Aussagen auf einer ‚tieferen‘ Ebene auf eine Aussage auf einer ‚höheren‘ Ebene schließen, wobei die ‚höhere‘ Ebene ‚types‘ (Typen, Klassen) verkörpert und die tiefere (Realisierungs-)Ebene ‚token‘ (Instanzen, Elemente der Klassen). Diese Einlassung bleibt allerdings zu vage, um ihre Tragweite beurteilen zu können.
(15)Kauffman zitiert dann einen anderen Nobelpreisträger, den Physiker Robert Laughlin (SS.24f). Am Beispiel von Gasen und festen Körpern macht Laughlin darauf aufmerksam, dass viele reale Eigenschaften von solchen großen Aggregaten nur messbar und definierbar sind auf der Ebene der Gesamtaggregate; eine Rückführung auf die einzelnen Bestandteile macht keinen Sinn.
(16)Kauffman zitiert ferner (S.25) den Physiker Leo Kadanoff (kein Nobelpreisträger, aber lange Jahre Präsident der amerikanischen Gesellschaft der Physiker (‚American Physical Society (APS)‘). Er konnte aufzeigen, dass die Navier-Stokes Gleichungen für das Verhalten von Flüssigkeiten, die nicht quantenmechanisch abgeleitet werden können, von einem idealisierten (mathematischen) Modell abgeleitet werden können. Auch diese Eigenschaften hängen also nicht ab von den zugrunde liegenden Elementen/ Teilchen/ Strings.
(17)Auf den SS.25-27 erwähnt Kauffman das Beispiel der klassischen Thermodynamik von Sadi Carnot, nach dem (2.Hauptsatz der Thermodynamik) die Entropie in einem geschlossenen System nur zunehmen kann. Dies bedeutet, dass die Zeit nur eine Richtung kennt. Damit entsteht ein Widerspruch zur klassischen Mechanik von Newton, in der die Zeit sowohl ‚vorwärts‘ wie auch ‚rückwärts‘ laufen konnte. Boltzman, Gibbs und andere haben zwar versucht, diesen Widerspruch durch Einführung der statistischen Mechanik zu lösen (alle Elemente streben dem Zustand einer ‚höheren Wahrscheinlichkeit‘ zu), aber diese Begründung erfolgt nicht aus den Elementen selbst, sondern aufgrund von Zusammenhängen, die über die einzelnen Elemente hinausgehen (Kauffman zitiert stattdessen ein anderes Argument, das mich nicht überzeugt).
(18)Auf den SS.27f diskutiert Kauffman das Problem der Naturkonstanten. Das Standard-Modell der Physik vereint mit der allgemeinen Relativitätstheorie können das bekannte Universum nur erklären, wenn sie 23 spezielle Naturkonstanten annehmen. Die konkreten Werte dieser Konstanten lassen sich nicht irgend woher aus einem Modell generisch ableiten, sondern müssen speziell, von Hand, bestimmt werden. Verändert man einzelne Werte auch nur geringfügig, dann hätten wir ein vollständig anderes Universum. Nach dem Physiker Lee Smolin würde schon eine Abweichung in der Größenordnung von (1/10)^27 das Universum ‚lebensunfreundlich‘ machen. (Vgl.S.28). Diese speziellen Makroeigenschaften lassen sich in keiner Weise aus den bekannten Eigenschaften der einzelnen Elemente/ Teilchen/ Strings ableiten. Sie zeigen sich nur im Zusammenhang.
(19)Mögliche Antworten (vgl. S.28f) sind das starke und das schwache anthropische Prinzip: (i) Im starken anthropischen Prinzip wird ein Schöpfer-Gott angenommen, der die Welt genauso geschaffen hat, wie sie nun mal für ‚Leben‘ günstig ist. Dies ist aber keine überzeugende Antwort. (ii) Im schwachen anthropischen Prinzip nimmt man eine Vielzahl von Welten an. Einige von diesen haben die Parameter so, wie sie für das Leben ‚günstig‘ sind; unser Universum ist eines davon.
(20)Die Annahme einer Vielzahl möglicher Universen hat bislang die meisten Argumente für sich. Die Position des klassischen Reduktionismus wirkt in diesem Kontext mehrfach unglaubwürdig und letztlich argumentativ schwach.

DIE NICHTREDUZIERBARKEIT DER BIOLOGIE AUF DIE PHYSIK

(21)Auf den Seiten 31-43 entwickelt Kauffman zusätzliche Argumente, warum der klassische Reduktionismus nicht funktioniert, indem er die Besonderheiten der Biologie thematisiert. Allerdings springt er nach meinem Verständnis bisweilen zwischen verschiedenen Argumenten im Text hin und her, was die Argumentation erschwert.
(22)So ist der anfängliche Hinweis des Einflusses von Malthus auf Darwin wenig geeignet, die Besonderheit des Phänomens des Biologischen heraus zu stellen. Dies ist schon eher gegeben mit der Einsicht Darwins, dass zwischen der Elterngeneration und der Kindgeneration Veränderungen stattfinden können, die je nach Kontext mehr oder weniger ‚erfolgreich‘ sein können. Dies führte einerseits zum Aufsprengen des statischen Klassifikationssystems von Carl Linnaeus (vgl. S.32) und erlaubte eine zunehmende ‚logische‘ Interpretation der geologischen Befunde. (vgl.S.33) In den 1930igern vereinigte sich das evolutionäre Konzept Darwins mit der modernen Genetik (Mayer, Dobzhansky u.a.), weiter intensiviert durch die Erkenntnisse der Molekularbiologie ab den 1950igern (Watson, Crick u.a.).(vgl. S.33) Das Feststellen von Eigenschaften auf höherer Ebene der Komplexität, die sich nicht aus den zugrunde liegenden Elementen direkt ableiten lassen, nennt Kauffman dann ‚epistemologische Emergenz‘ (also etwa ‚Emergenz aus erkenntnistheoretischer Sicht‘), und die reale Gegebenheit von biologischen Strukturen höherer Komplexität bezeichnet er als ‚ontologische Emergenz‘. (vgl. S.34)
(23)Die Entstehung der vielen, immer komplexeren Arten, dazu stark variierend, lässt sich nach Kauffman nicht allein aus den beteiligten Elementen ableiten. Dies ist allein schon deshalb schwierig, weil viele wichtige beteiligten Faktoren ‚zufälliger‘ Natur sind. (vgl. S.37f) Dazu kommt aber noch ein ganz anderer Umstand. Nimmt man – mit den meisten Physikern – an, dass die Raum-Zeit kontinuierlich ist [Anmerkung: was nicht zwingend der Fall sein muss], dann hat Georg Cantor (1845 – 1918) aufgezeigt, dass die reellen Zahlen eine überabzählbar große Menge darstellen. Dies bedeutet, man kann sie nicht aufzählen. Dies wiederum bedeutet, dass es keinen Computer geben kann, diese Menge zu simulieren. Dies gilt dann auch für ein Universum mit einer kontinuierlichen Raum-Zeit.(vgl. S.39f)
(24)Dieses letzte Argument von Kauffman mit der Nichtaufzählbarkeit empfinde ich als wenig zwingend (wenngleich die Nichtaufzählbarkeit als solche natürlich Fakt ist). Wichtiger sind vielmehr jene Argumente, die auf zentrale Eigenschaften des Biologischen abheben, die sich nicht aus den Bestandteilen alleine ableiten lassen. In diesem Sinne verweist Kauffman auf den Umstand, dass der Mechanismus der Selbstreproduktion nicht an ein bestimmtes Material gebunden ist und sich von daher im gesamten Universum ‚irgendwo‘ ereignen könnte. (vgl. S.40f) In diesen Zusammenhang gehört das Astrobiologie-Programm und die Entwicklung einer ‚Allgemeinen Biologie‘, die über die Bedingungen des Lebens auch jenseits der Bedingungen auf der Erde nachdenkt.
(25)Kauffman spekuliert dann auch darüber, dass die Entdeckung des evolutionären Prinzips durch Darwin nicht nach dem Muster der ‚Induktion‘ entstanden sei, also viele einzelne Beispiele und dann eine verallgemeinernde Idee, sondern dass Darwins Überlegungen auf einer komplexeren Ebene abgelaufen seien, auf der er seine Konzepte definiert habe. (vgl.41-43) Diese Überlegungen erscheinen mir sehr spekulativ und wenig hilfreich. Entscheidend ist, ob wir empirische Phänomene einer Art P haben, die sich nicht aus den Eigenschaften P‘ vermuteter ‚einfacherer‘ Bestandteile direkt ableiten lassen. Wenn nicht, dann haben wir mit den Phänomenen P ‚genuine‘ empirische Phänomene, die erst auf einer höheren Organisationsstufe ’sichtbar‘ werden. Ob diese Einsichten ‚induktiv‘ oder ‚deduktiv‘ gewonnen wurden, spielt keine Rolle.
(26)Als solche ‚genuinen‘ Eigenschaften der Biologie nennt Kauffman Eigenschaften wie sie mit den Begriffen ‚Leben‘, ‚Handelnder‘, ‚Wert‘, ‚Bedeutung‘, ‚Bewusstsein‘ bezeichnet werden.

URSPRUNG DES LEBENS

(27)Auf den SS.44-71 versucht Kauffman, den Ursprung des Lebens mit den Augen einer Allgemeinen Biologie zu bestimmen, die als Disziplin nicht nur völlig eigenständig gegenüber einer Physik ist, sondern darüber hinaus diese sogar beeinflussen und herausfordern kann. [ANMERKUNG: in einem Gespräch mit meinem Freund, dem Physiker MW (nicht zu verwechseln mit dem Physiker vom Cafe Siesmayer, das war der Freund und Physiker MK), hatten wir letztlich den Punkt der Disziplingrenzen diskutiert. Er meinte, dass es keine klaren Grenzen gäbe, wo die Physik anfängt oder aufhört. Letztlich hat die Physik einen ganz allgemeinen Erklärungsanspruch bzgl. der erfahrbaren Natur. Wenn sie das Biologische als eigenständiges Naturphänomen akzeptieren würde – woran sie niemand hindern kann außer sie sich selbst – dann gäbe es keine Abgrenzung hin zur Biologie).
(28) Die Ideen zur Entstehung des Lebens konzentrieren sich letztlich um die Frage eines geeigneten Modells, die Entstehung einer biologischen Zelle zu erklären. Eine Zelle wird dabei als ein ‚offenes System‘ angenommen, das sich nicht in einem Gleichgewichtszustand‘ befindet und zur Erhaltung dieses Nicht-Gleichgewichts beständig Energie zuführen muss. Zusätzlich besitzt sie die besondere Eigenschaft, sich selbst vollständig zu Duplizieren. (vgl.S.46f) Da eine ’normale‘ Zelle schon sehr komplex ist, wird nach ‚einfacheren Vorläuferstufen‘ gefragt, aus denen sich dann das komplexere Modell herleiten lässt.
(29)Nach Kauffman versteht die Wissenchaft bis heute nicht genau, wie die Verdopplungsfähigkeit genau funktioniert. Er will daher zunächst der Frage nachgehen wie sich Moleküle in einfachen Systemen reduplizieren können.(vgl.S.47)
(30)Kauffman diskutiert dann mehrere Theorieansätze (vgl. SS.47-54), bis er den Theorieansatz vorstellt, den er ‚kollektive Autokatalyse‘ nennt. Damit ist gemeint, dass die Molküle einer Menge sich zwar nicht selbst reproduzieren können, aber sie dienen sich wechselseitig als Katalysatoren, dass andere Moleküle dies tun können.(vgl. S.55) In diesem Sinne sind z.B. die Zellen in unserem Körper ‚autokatalytische‘ Zellen: die einzelnen Moleküle in der Zelle können sich selbst nicht vermehren, aber die Zelle als ganze wirkt als Katalysator dafür, dass die vielen Moleküle im Innern der Zelle dies können.(vgl.S.56) Dies bedeutet, dass das Gesamtverhalten ein wesentlicher Faktor darstellt, damit zwischen den Elementen bestimmten Reaktionen möglich sind.(vgl. S.58f)
(31)Für die Theorie der autokatalytischen Mengen benutzt Kauffman das Konzept des ‚Zufallsgraphen‘ (random graphs) von Paul Erdös und Alfréd Rényi (1959), der dann zum Konzept des ‚chemisch-Reaktionsgraphen‘ erweitert wird. Die verschiedenen chemischen Reaktionen werden dann in Form unterschiedlicher verbindender Kanten/ Pfeile repräsentiert. (vgl.SS.61ff) Mit Hilfe dieses Graphenkonzeptes lässt sich einfach ein ‚aktueller‘ Zustand definieren und ein ‚Nachfolgezustand‘, durch den die Menge der ‚möglichen neuen Nachbarn‘ (‚the adjacent possible‘) definierbar wird.(vgl.S.64) Im Übergang zu den neuen Nachbarn wird ein neuer aktueller Zustand zusammen mit den soeben neuen Nachbarn definiert, der wieder neue Nachbarn erlaubt, usw. Mit Hilfe dieses ‚Ausbreitungskonzeptes‘ will Kauffman auch ‚Kreativität‘ definieren, die Kreativität des Universums. (vgl. S.64) Simulation einfacher Modelle solcher autokatalytischer Mengen haben nun gezeigt, dass ab einer bestimmten Anzahl von Elementen die ‚Reaktionsdichte‘ natürlicherweise zunimmt, was dann sehr schnell zu großen ‚Clustern‘ führt.(vgl.S.65f)
(32)Andere haben diese Modelle dahingehend weiterentwickelt, dass sie sich ‚vererben‘ können und bei dieser Vererbung Veränderungen erlauben.(vgl. S.67f) Weitere Eigenschaften (Quellen von freier Energie, Metabolismus) lassen sich in dieses Modell integrieren. (vgl.SS.68-70) Noch ist offen, ob sich dieses mathematische Modell voll lauf reale Molekülmengen anwenden lässt. Klar ist allerdings, dass sich die Eigenschaften des Gesamtsystems nicht aus den Bestandteilen alleine herleiten lässt. Ein klassischer Reduktionismus wäre also ausgeschlossen.
(33)Fortsetzung folgt … kritische Auseinandersetzung am Schluss…

Fortsetzung von TEIL 2

Quellen:

Kauffman, S.A., Reinventing the Sacred. A new View of Science, Reason, and Religion. New York: Basic Books, 2008 (Paperback 2010)

Über S.A.Kauffman in der Englischen Wikipedia: http://en.wikipedia.org/wiki/Stuart_Kauffman (Zuletzt besucht 5.Jan.2013)

Interessante Vorlesungen von Kauffman als Videos: http://csb.cs.tut.fi/stu_news.php (Zuletzt besucht 5.Jan.2013)

Eine Übersicht über alle bisherige Blogeinträge nach Themen findet sich HIER