Archiv der Kategorie: Logik – Alltag

AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 9

(Mit Nachtrag vom 1.Sept.2014)

VORGESCHICHTE

Für einen Überblick zu allen vorausgehenden Beiträgen dieser rekonstruierenden Lektüre von Avicennas Beitrag zur Logik siehe AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – BLITZÜBERSICHT.

Nach der üblichen Darstellung der Position von Avicenna folgt dann der Teil ‚DISKUSSION‘, in der seine Position kritisch hinterfragt und die Rekonstruktion einer möglichen Theorie der Alltagslogik fortgesetzt wird.

KATEGORISCH – AFFIRMATIV/ NEGATION – UNIVERSAL/ PARTIKULÄR

1. Im folgenden Abschnitt treten Begriffe auf, die z.T. schon zuvor auftraten (‚Kategorisch‘, ‚Negation‘, ‚Universal‘, ‚Partikulär‘), die aber jetzt mit neuen Randbedingungen nochmals diskutiert werden.

KATEGORISCH ALS AFFIRMATIV/ NEGATIV

2. Der Abschnitt beginnt mit einer Diskussion von ‚kategorischen‘ (‚kategorisierenden‘) Aussagen und der Frage, wann sie ‚affirmativ‘ und wann sie ’negativ‘ sind.

SUBJEKT – PRÄDIKAT, EINFACH – ZUSAMMENGESETZT

3. Zusätzlich zu den Unterscheidungen ‚affirmativ‘ – ’negativ‘ im Kontext einer ‚kategorisierenden‘ Aussage berücksichtigt Avicenna auch hier wieder Teilausdrücke. Während er zuvor die semantisch motivierten Begriffe ‚Name‘, ‚Verb‘ (auch ‚Term‘ genannt), sowie ‚Präposition‘ erwähnt hatte, benutzt er nun auch das Begriffspaar ‚Subjekt‘ und ‚Prädikat‘. Beide sind – wie sich aus dem Verwendungskontext nahelegt – ’semantisch‘ motiviert, d.h. nur durch Rückgriff auf die Bedeutung kann man zur Klassifikation ‚Subjekt‘ bzw. ‚Prädikat‘ kommen.
4. Versucht man die Begriffe ‚Name‘, ‚Verb‘ (‚Term‘), sowie ‚Präposition‘ mit den neuen Begriffen ‚Subjekt‘ und ‚Prädikat‘ in Beziehung zu setzen, dann gibt es eine gewisse Korrelation zwischen ‚Name‘ und ‚Subjekt‘ einerseits sowie ‚Verb‘ und ‚Prädikat‘ andererseits. Da Avicenna selbst keinerlei weitere Hinweise auf eine mögliche Beziehung liefert, bleibt an dieser Stelle einiges unklar.
5. Deutlich ist nur, dass Avicenna die Ausdrucksseite eines Ausdrucks e = <e1, e2, …> durch Rückgriff auf eine – nicht explizit beschriebene – Bedeutungsstruktur so analysiert, dass er sagen kann, welche ‚Teile‘ des Ausdrucks e als ‚Subjekt‘ zu nehmen sind, und welche Teile als ‚Prädikat‘.
6. So unterscheidet er im Bedeutungsraum zwischen ‚dem, über das‘ eine Feststellung getroffen wird, und ‚dem, was‘ in dieser Feststellung gesagt wird.
7. Im Beispielsatz N:(der Mensch)V:(ist)N:(ein Lebewesen) analysiert er den Teil [N:(der Mensch)] als ‚Subjekt‘ und den Teil [V:(ist)N:(ein Lebewesen)] als ‚Prädikat‘.
8. Ein anderer Beispielsatz (Wer immer)(sein)N:(Essen)OP:(nicht)V:(kaut)(der)V:(schädigt)(seinen)N:(Darm) enthält Aussageteile, für die Avicenna bislang keine semantisch motivierte grammatische Beschreibungskategorien eingeführt hat. Avicenna analysiert den Ausdruck wie folgt: Subjekt = [(Wer immer)(sein)N:(Essen)OP:(nicht)V:(kaut)] und Prädikat = [(der)V:(schädigt)(seinen)N:(Darm)].
9. Den Unterschied zwischen Subjekt = [N:(der Mensch)] und Subjekt = [(Wer immer)(sein)N:(Essen)OP:(nicht)V:(kaut)] charakterisiert Avicenna als Unterschied zwischen einem ‚einfachen‘ und einem ‚zusammengesetzten‘ Subjekt. Entsprechend auch für das Prädikat: Prädikat = [V:(ist)N:(ein Lebewesen)] und Prädikat = [(der)V:(schädigt)(seinen)N:(Darm)].
10. Sowohl für die Verwendung der Begriffe ‚Subjekt/ Prädikat‘ wie auch ‚einfach/ zusammengesetzt‘ liefert Avicenna keine explizite Kriterien. Er zitiert nur einige Ausdrücke als Beispiele und appelliert an die sprachliche Intuition des Lesers, die implizit verwendeten Analysekriterien zu verstehen.

AFFIRMATIV – NEGATIV

11. In den soeben erwähnten Kontexten wie auch in nachfolgenden Beispielen diskutiert er auch die Begriffe ‚affirmativ‘ und ’negativ‘.
12. Sein Hauptkriterium zur Verwendung der Begriffe ‚affirmativ‘ und ’negativ‘ ist der (semantische, bedeutungsgeleitete!) Aspekt, ob das, was in einer Aussage in einem Prädikat von einem Subjekt behauptet wird, ‚zutrifft’/ ‚der Fall ist‘ oder ’nicht zutrifft’/ ’nicht der Fall ist‘. Trifft das im Prädikat behauptete zu, dann will er es ‚affirmativ‘ nennen, ansonsten ’negativ‘.
13. Im vorausgehenden Abschnitt waren diese Verwendungskriterien auch benutzt worden, um zu sagen, wann eine Aussage ‚wahr‘ bzw. ‚falsch‘ ist. Nach den bisherigen Kriterien müsste man dann sagen, dass ‚wahr‘ und ‚affirmativ‘ einerseits und ‚falsch‘ und ’negativ‘ dann bedeutungsgleich wären.
14. In einem weiteren Beispiel benutzt Avicenna die Aussage SUBJ[N:(Zid)] PRÄD[V:(ist)(ohne)N:(Sicht)] – engl.: ‚Zid is without sight‘ – als ein Beispiel für eine ‚affirmative‘ Aussage, da das Prädikat PRÄD[V:(ist)(ohne)N:(Sicht)] eine Eigenschaft beschreibt, die auf das Subjekt (Zid) zutrifft.
15. Andererseits wird der Teilausdruck ‚ist ohne Sicht‘ bedeutungsmäßig als eine ‚Negation‘ verstanden im Sinne von ‚hat keine Sicht‘ im Gegensatz zu ‚hat Sicht‘. D.h. eine bedeutungsmäßige ‚Verneinung‘ kann durch verschiedene Ausdruckselemente realisiert werden, auch ohne den Ausdruck ’nicht‘. Dies würde bedeuten, dass eine ‚ausdrucksmäßig realisierte Verneinung‘ das Fehlen einer bestimmten Eigenschaft aussagen kann. Nach den Worten Avicennas kann aber genau solche eine Feststellung, dass eine bestimmte Eigenschaft fehlt, eine ‚Affirmation‘ sein, eben das Festellen, dass es der Fall ist, dass eine bestimmte Eigenschaft fehlt.
16. Wenn also eine Affirmation das Absprechen einer Eigenschaft beinhalten kann, wie sieht dann eine Verneinung einer solchen Affirmation aus?
17. Avicenna bringt folgendes Beispiel: SUBJ[N:(Zid)] PRÄD[V:(ist)(nicht)(ohne)N:(Sicht)]. Für ihn ist dieses eine ‚Negation‘, da die Affirmation, eine bestimmte Eigenschaft sei nicht da, verneint wird.
18. Mann könnte das Beispiel auch umschreiben zu: (Es ist nicht der Fall, dass) SUBJ[N:(Zid)] PRÄD[V:(ist)(ohne)N:(Sicht)].
19. Ersetzt man die Teilausdrücke durch Buchstaben – was Avicenna im Text auch einmal demonstriert –, dann könnte man auch schreiben (Es ist nicht der Fall, dass) (A)(B), bzw. dann $latex (A)\neg(B)$.

EXISTENZ

20. Zwischendrin bemerkt Avicenna auch mal, dass das Treffen einer Feststellung, eigentlich nur Sinn mache, wenn dasjenige, von dem etwas ausgesagt wird, auch existiere. Doch wird dieser Punkt nicht weiter diskutiert.

UNIVERSELL – PARTIKULÄR – QUANTITÄT – QUANTOREN

21. Vom Subjekt einer Aussage sagt Avicenna, sie kann ‚partikulär‘ oder ‚universell‘ sein. Falls universell, dann kann man unterscheiden, ob sie ‚unbestimmt‘ (engl.: ‚indeterminate‘) ist – wie viele genau involviert sind — oder eben ‚bestimmt‘ (engl.: ‚determinate‘).
22. Im Beispielausdruck (Zid)(ist)(ein)(Lebewesen) ist (Zid) ‚partikulär‘.
23. Im Beispielausdruck (Menschen)(bewegen)(sich) ist nach Avicenna unklar, ob ‚alle‘ Menschen gemeint sind oder nur ‚einige‘.
24. Die ‚bestimmten universellen Aussagen‘ teilt Avicenna in vier Klassen ein:
25. Typ 1: Subjekt = Alle, Affirmativ (Bsp.: Q=[(Jeder)]S=[(Mensch)]P=[(ist)(ein)(Lebewesen)]
26. Typ 2: Subjekt = Alle, Negativ (Bsp.: Q=[(Kein)]S=[(Mensch)]P=[(ist)(sterblich)](?)
27. Typ 3: Subjekt = Einige, Affirmativ Q=[(Einige)]S=[(Mensch)]P=[(sind)(Schriftsteller)]
28. Typ 4: Subjekt = Einige, Negativ Q=[(Nicht alle)]S=[(Mensch)]P=[(sind)(Schriftsteller)] (?)
29. Hier sind nur einige von Avicennas Beispielsätzen angeführt. Einige Beispiele werfen Fragen auf (?).
30. Mehrfach formuliert Avicenna auch folgendes ‚Metaprinzip‘: Wenn eine Aussage über ‚Alle‘ spricht, dann sei es unsicher, ob wirklich alle gemeint sind; sicher sei es aber, dass wenigstens ‚einige‘ gemeint sind.
31. Aus all diesen Überlegungen leitet er dann folgende Fallunterscheidungen her (von mir abgekürzt ‚+‘ für ‚affirmativ‘, ‚-‚ für negativ‘, ‚1‘ für ‚partikulär‘, ‚0‘ für ‚unbestimmt‘ und ‚a‘ für universell‘:
32. (+,1)
33. (-,1)
34. (0,+)
35. (0,-)
36. (a,+)
37. (a,-)
38. (1,+)
39. (1,-)
40. Die Fälle (+,1) und (-,1) bezeichnet Avicenna als ’nutzlos für die Wissenschaft‘ und die Fälle (0,+) und (0,-) sollten vermieden werden, da sie ‚verwirrend‘ sind.

NOTWENDIG – KONTINGENT

41. Am Beispiel der kategorisierenden Aussagen illustriert Avicenna auch die Begriffe ’notwendig‘ und ‚kontingent‘. Die Verwendung dieser Begriffe stimmt überein mit den zuvor eingeführten Begriffe ‚wesentlich‘ und ‚akzidentell‘.

MÖGLICH

42. Auch erwähnt Avicenna hier den Begriff ‚möglich‘. Er sieht mindestens zwei Verwendungsweisen von ‚möglich‘: einmal als (i) ’nicht unmöglich‘ und (ii) im Sinne von ‚kann existieren‘ und ‚kann nicht existieren‘. Fall (ii) ist für ihn das ‚real mögliche‘ und stimmt nach Ihm mit dem normalsprachlichen Gebrauch überein.
43. Die Verwendungsweise in Fall (i) von ‚möglich := nicht unmöglich‘ widerspricht eigentlich den Regel einer expliziten Definition, wie er sie an früherer Stelle aufgestellt hatte. Dort hatte er verlangt, dass der neu zu definierende Ausdruck e_new nicht auf der rechten Seite bei den definierenden – als bekannt vorausgesetzten – Ausdrücken vorkommen darf, also e_neu := <e_alt1, …, e_altn>.
44. Der Ausdruck ‚möglich := nicht unmöglich‘ entspricht dem Ausdruck ‚möglich := nicht nicht möglich‘. Darin wird der neue Ausdruck über sich selbst definiert, was ‚zirkulär‘ ist.

DISKUSSION

45. Dieser neue Text verstärkt den Eindruck der vorausgehenden Seiten, dass Avicenna keine wirklich systematische Theorie hat. Er folgt den in der Literatur vorkommenden Begriffen nach keiner erkennbaren Regel, und seine Analyse benutzt Kriterien, die höchst selten explizit benannt werden. Vorzugsweise stellt er Beispielsätze vor, die er nach impliziten Kriterien diskutiert. Auch wiederholt er scheinbar ähnliche Bedeutungszusammenhänge mit jeweils neuen Begriffen. Dennoch besteht noch immer der Eindruck, dass sich der bislang gewählte Interpretationszusammenhang durchhalten lässt.

REKONSTRUIERENDE ECKWERTE BISHER

46. Als Eckwerte der rekonstruierenden Interpretation gilt bislang die Unterscheidung vom (i) ‚wissenden System‘ S in einer (ii) umgebenden realen Welt W und der Fähigkeit des wissenden Systems, (iii) bestimmte Ereignisse X der realen Welt W über einen Verarbeitungsprozess $latex \lambda$ in einen (iv) internen Bedeutungsraum M zu übersetzen. Parallel zum Bedeutungsraum M gibt es (v) eine Menge von Ausdrücken E, die (vi) auf unterschiedliche Weise mit dem Bedeutungsraum E innerhalb einer gewussten Beziehung $latex K \subseteq E \times M$ verknüpft werden können. Im Bereich des Bedeutungsraumes M kann (vii) unterschieden werden zwischen ‚aktuellen‘ Bedeutungsrepräsentationen M_now, die von aktuellen Ereignissen X der realen Welt verursacht sind, und ‚zeitlosen‘ Bedeutungsrepräsentationen M_0, mit $latex M_{now} \cap M_{0} = \emptyset, M_{now} \subseteq M, M_{0} \subseteq M$. Der Unterschied zwischen $latex M_{now}, M_{0}$ bezieht sich auf die zeitliche Komponente T in $latex M_{now}, M_{0}$. Würde man die zeitliche Komponente T aus $latex M_{now}$ ‚herausrechnen (also etwa $latex M_{now0} = M_{now} – T$), dann könnten die beiden Mengen $latex M_{now}, M_{0}$ gemeinsame Elemente enthalten ($latex M_{now0} \cap M_{0} \neq \emptyset$ ). Dies bedeutet, dass die charakterisierenden Eigenschaften der Objekte in $latex M_{now*}, M_{0}$ wissensmäßig ‚gleich‘ sein können. Durch (viii) Vergleich von Elementen aus M_now0 und M_0 kann dann entschieden werden, ob es der Fall ist, dass Elemente aus M_0 in M_now vorkommen oder nicht; falls sie vorkommen, dann ist eine feststellende (affirmative oder negative) Aussage ‚wahr‘, ansonsten ‚falsch‘.

REKONSTRUKTION: AFFIRMATIV – NEGATIV

47. Schon bei den von Avicenna angeführten Beispielen und deren Diskussion wird deutlich, dass eine gewisse Unklarheit darüber existiert, wie ’negative Ausdruckselemente‘ (wie z.B. ’nicht‘, ‚ohne‘) innerhalb des Begriffspaares ‚affirmativ/ negativ‘ zu bewerten sind. Zwar macht Avicenna darauf aufmerksam, dass das ‚Fehlen von etwas‘ eine Eigenschaft sein kann, die man ja gerade – affirmativ — aussagen möchte, aber es fehlt letztlich ein hartes Kriterium, wann das ‚Fehlen‘ von etwas nur ein ‚Ausdruckselement‘ ist oder ein ’semantischer Tatbestand‘, der ‚oberhalb‘ der Ausdruckselemente liegt, also wo es gerade das ‚Fehlen von etwas‘ ist, das man aussagen will.
48. In dieser Rekonstruktion wird davon ausgegangen, dass jede Aussage – entsprechend den Aussagen von Avicenna – entweder ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ ist. Dies setzt voraus, dass jede Aussage als solche ‚grundsätzlich affirmativ‘ ist, sie will etwas über ein Subjekt aussagen. Für diese Aussage wird ein Ausdruck e generiert (in der Regel mit mehreren Teilausdrücken, mindestens Subjekt und Prädikat), der einen Sachverhalt m_p mittels des Prädikats über ein Subjekt m_s behauptet. Innerhalb der Aussage e kann der Sachverhalt m_p sowohl ‚zusprechend‘ (affirmativ) im Sinne von ‚ist ein…’/ ‚hat …‘ sein oder absprechend, negierend ‚ist nicht …‘, ‚hat nicht …‘ usw. Unabhängig davon ob die kombinierten Sachverhalte (m_s, m_p) ‚zusprechend‘ oder ‚absprechend‘ sind, können sie ‚wahr‘ (in der realen Welt W zutreffend) oder ‚falsch‘ (in der realen Welt W nicht zutreffend) sein.
49. Während die Frage von ‚wahr’/ ‚falsch‘ eine rein semantische Angelegenheit ist, die durch die simultane wissensmäßige Unterscheidung von ’nur gewusst/ gedacht/ vorgestellt/ erinnert/ im Sinne von $latex M_{0}$ einerseits und ‚als aktuell wahrgenommen gewusst‘ im Sinne von $latex M_{now}$ möglich ist, hängt die Unterscheidung von ‚affirmativ/ negativ‘ davon ab, ob es Ausdruckselemente gibt, die explizit so vereinbart sind, dass sie in einem S-P-Urteilszusammenhang als ‚zusprechend‘ oder ‚absprechend‘ identifiziert werden können. Wenn niemand weiß, dass ’nicht‘ in der Deutschen Sprache eine ‚Verneinung‘ darstellt, kann auch kein ‚Absprechen von etwas‘ erkennen. Wenn jemand aber weiß, dass mit dem Ausdruckselement ’nicht‘ etwas verneint wird, dann weiß er aufgrund der Aussagensemantik, dass der Ausdruck ‚ist nicht sterblich‘ eben die Verneinung von ‚ist sterblich‘ ist (unabhängig von ‚wahr‘ und ‚falsch‘). Und da die Bedeutung der Verneinung an den Ausdruck ’nicht‘ geknüpft ist, wird diese Bedeutung jedes mal aktiviert, wenn das Ausdruckselement ’nicht‘ auftritt: ‚ist nicht sterblich‘, ‚ist nicht nicht sterblich‘, ‚es gilt nicht, dass Zid nicht unsterblich ist‘, usw. Allerdings sind die Konventionen in jeder Sprache unterschiedlich, wie das Auftreten von negierenden Ausdruckselementen vorzunehmen ist (während im Deutschen eine Häufung wie ’nicht nicht‘ in Grenzfällen noch gehen mag, geht ’nicht nicht nicht‘ normalerweise nicht mehr. Darüber hinaus gibt es zahllose andere Ausdruckselemente (wie z.B. ‚kein(e), mit, ohne, haben, …), die auch negierende Funktionen übernehmen können.
50. Ein Ausdruck wie (Zid (ist ohne Sicht)), bedeutungsmäßig äquivalent etwa zu zu (Zid (hat keine Sicht)) oder (Zid (kann nicht sehen)), sagt affirmativ ein Fehlen aus. Ob dies während der Aussage in der realen Welt zutrifft (= wahr) oder nicht (=falsch), folgt aus der Aussage selbst nicht.
51. Eine Verneinung dieser Aussagen geschieht zunächst auf der Ausdrucksebene, und dann kann man den so konstruierten Sachverhalt bzgl. Wahrheit oder Falschheit bewerten.
52. Es hängt von geltenden Konventionen ab, wie man die Verneinung der Aussage (Zid (ist ohne Sicht)) auf der Ausdrucksebene realisiert. Eine Möglichkeit besteht darin, auf einer Metaebene zu sagen, ‚Die Aussage (Zid (ist ohne Sicht)) trifft nicht zu. Dies würde primär aber meinen, dass diese Aussage in der realen Welt W nicht zutrifft. Würde man die interne Struktur der Aussage (Zid (ist ohne Sicht)) ändern, dann würde man eine neue Aussage schaffen, von der man wiederum fragen kann, ob sie in der realen Welt W zutrifft oder nicht. Also man könnte natürlich formulieren (Zid (ist nicht ohne Sicht)); damit würde man verneinen, dass Zid ohne Sicht sei, also eine Verneinung der vorhergehenden Aussage. Aber auch diese neuerliche Verneinung wäre grundsätzlich eine Affirmation, nämlich etwas, was man über Zid Aussagen will.
53. Die rekonstruierende Hypothese lautet also: jeder Ausdruck e vom Typ Aussage PROP impliziert die Affirmation eines Sachverhaltes m_p über ein Subjekt m_s unabhängig davon, wie viele Negationen/ Verneinungen der Ausdruck e enthält. Eine so realisierte affirmative Aussage zu (m_s, m_p) kann wahr oder falsch sein.

EXISTENZ

54. Das von Avicenna nur kursorisch erwähnte Moment der Existenz ist in der aktuell rekonstruierenden Interpretation gegeben durch die Annahme der umgebenden realen Welt W, deren aktuelle induzierten Bedeutungsrepräsentationen M_now als Bezugspunkt für die Charakterisierungen wahr/ falsch genutzt werden kann. In diesem Rahmen können beliebige Aussagen gebildet werden ,unabhängig davon, ob sie aktuell wahr/ falsch sind.

MÖGLICH

55. Die Kategorie ‚möglich‘ ist durch die bloße Angabe ‚kann existieren und kann nicht existieren‘ kaum erklärt. Zu sagen, dass ein B über ein gegebenes/ bekanntes A ‚hinausgeht‘, setzt eigentlich voraus, dass man die Ereignisse X der realen Welt W zunächst mal überhaupt als ‚exstierend‘ erkennen kann $latex \lambda(X)$ , so dass dann relativ zu diesem Wissen $latex \lambda(X)$ ein anderes Element Y als ’neu‘ oder als ‚möglich‘ explizit gedacht werden könnte. Wir wissen vom menschlichen Denken, dass wir uns allerlei Dinge als M_0 ‚vorstellen‘, ‚denken‘, ‚träumen‘ … können, von denen zum Zeitpunkt des Vorstellens nicht bekannt ist, ob sie sich genauso auch ereignen werden. Bei einigen dieser Vorstellungen M_0* haben wir ein zusätzliches Wissen K*, aufgrund dessen wir aus der Vergangenheit wissen, dass sie mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintreten können; von daher räumen wir diesen mittels K* als ‚eintretbar‘ klassifizierten Vorstellungen M_0* eine gewisse Möglichkeit ein. Bei anderen Vorstellungen $latex M_{X} = M_{0} – M_{0*}$ ist es uns weniger bis gar nicht klar, ob sie eintreten können, da das zugehörige Wissen K_X zu schwach ist.

QUNATITÄT – QUANTOREN

56. Im Kontext der schon zuvor erwähnten Begriffe ‚universell‘ und ‚partikulär‘ führt Avicenna nun den Gedanken der ‚Bestimmtheit’/ ‚Unbestimmtheit‘ ein und entwickelt daraus die Idee der Quantität in Gestalt von Quantoren.
57. Dies führt zu der grundsätzlichen Erweiterung (Q,S,P), d.h. das Zutreffen eines Sachverhaltes m_p wird nicht mehr nur für ein Subjekt S allgemein behauptet, sondern das Objekt m_s, das bedeutungsmäßig ein Subjekt fundiert, wird bezüglich seiner Quantität Q weiter spezifiziert als ‚Alle/ Jeder‘, ‚Nicht Alle/Einige‘, ‚Alle – nicht/ Keine(r)‘.
58. Bei der konkreten Angabe der sich daraus ergebenden möglichen Klassen kommt es aber dann bei Avicenna zu Unklarheiten, da er bei dieser Einteilung sein Begriffspaar ‚affirmativ/ negativ‘ benutzt, von dem wir zuvor gesehen haben, dass es möglicherweise ‚fehlerhaft‘ ist, da er den Begriff ‚affirmativ‘ und ’negativ‘ auf die gleiche semantische Stufe stellt. Wie zuvor aber schon festgestellt worden ist, muss man diese beiden Begriffe trennen. Wenn Avicenna z.B. die beiden ersten Typen seiner Aussagen klassifiziert als
59. Typ 1: Subjekt = Alle, Affirmativ (Bsp.: Q=[(Jeder)]S=[(Mensch)]P=[(ist)(ein)(Lebewesen)] oder Q=[(Jeder)]S=[(Mensch)]P=[(ist)(sterblich)]
60. Typ 2: Subjekt = Alle, Negativ (Bsp.: Q=[(Kein)]S=[(Mensch)]P=[(ist)(sterblich)](?)
61. dann ist die Charakterisierung von Typ 1 nachvollziehbar, von Typ 2 aber nicht. Von der Idee her soll in Typ 2 gezeigt werden, wie die Negation von Typ 1 beschaffen ist. In Typ 1 wird (affirmativ) behauptet, dass jeder Mensch ein Lebewesen ist bzw. sterblich ist. Im Typ 2 soll auch etwas (affirmativ) behauptet werden, nämlich dass ’nicht alle‘ Menschen Lebewesen sind bzw. sterblich sind. D.h. die Aussagen vom Typ 2 sind grundsätzlich weiterhin ‚affirmativ‘, es wird aber in ihrem Ausdruck ein zusätzliches verneinendes Ausdruckselement – hier ’nicht‘ – eingeführt, so dass der Sachverhalt, der affirmativ behauptet werden soll, ein zusätzliches verneinendes Element enthält. Daraus würde sich ergeben:
62. Typ 2b Q=[(Nicht alle)]S=[(Menschen)]P=[(sind)(sterblich)], was man umformen könnte zu Q=[(Einige)]S=[(Menschen)]P=[(sind)(nicht)(sterblich)].
63. Aus (nicht alle) folgt nicht (keine), wie bei Avicenna, sondern (einige).
64. Auch im Beispiel der Verneinung von ‚einige‘ kommt es bei Avicenna zu Unklarheiten:
65. Typ 3: Subjekt = Einige, Affirmativ Q=[(Einige)]S=[(Mensch)]P=[(sind)(Schriftsteller)]
66. Typ 4: Subjekt = Einige, Negativ Q=[(Nicht alle)]S=[(Mensch)]P=[(sind)(Schriftsteller)] (?)
67. Im Fall von Typ 4 geht es um die (affirmative) Behauptung, dass ’nicht einige‘ gemeint sind. Aus ’nicht einige‘ folgt aber nicht – wie bei Avicenna – ’nicht alle‘, sondern ‚(alle …. nicht…), d.h.
68. Typ 4b: Q=[(Nicht einige)]S=[(Mensch)]P=[(sind)(Schriftsteller)] kann umgeformt werden zu Q=[(Alle)]S=[(Mensch)]P=[(sind)(nicht)(Schriftsteller)]
69. Daraus folgt, dass eine Klassifikation nicht nach dem Muster (Q -affirmativ) und (Q – negativ) vorgenommen werden sollte, sondern nach dem Muster, alle Aussagen sind ‚affirmativ‘; innerhalb dieser Menge kann man verschiedene Quantoren unterscheiden (alle) bzw. (einige), und diese Quantoren sind entweder nicht verneint oder verneint. Das würde folgendes Schema ergeben:
70. Typ 1: Q=’alle‘
71. Typ 2b: Q='(nicht)(alle)‘ bzw. $latex (\neg)(Q)$ ist äquivalent zu Q=(einige),S,($latex \neg$),P).
72. Typ 3: Q=’einige‘
73. Typ 4b: Q='(nicht)(einige)‘ bzw. $latex (\neg)(Q)$ ist äquivalent zu Q=(alle),S,($latex \neg$),P).
74. Das von Avicenna formulierte ‚Metaprinzip‘: ‚Wenn eine Aussage über ‚Alle‘ spricht, dann ist es unsicher, ob wirklich alle gemeint sind; sicher ist es aber, dass wenigstens ‚einige‘ gemeint sind‘, muss auch hinterfragt werden. Würde sein Metaprinzip gelten, dann könnte man keine wirklichen ‚All-Aussagen‘ mehr machen, da grundsätzlich die intendierte Bedeutung von ‚alle‘ verneint würde. Dies macht keinen Sinn. Wenn jemand tatsächlich ‚alle‘ meint und dies ausdrücken will, dann muss der dazu vereinbarte Ausdruck ‚alle‘ auch entsprechend verwendet werden.
75. Die von Avicenna vorgenommene Fallunterscheidungen (von mir abgekürzt ‚+‘ für ‚affirmativ‘, ‚-‚ für negativ‘, ‚1‘ für ‚partikulär‘, ‚0‘ für ‚unbestimmt‘ und ‚a‘ für universell‘) der Art:
76. (+,1)
77. (-,1)
78. (0,+)
79. (0,-)
80. (a,+)
81. (a,-)
82. (1,+)
83. (1,-)
84. leidet an der gleichen Schwäche, wie schon zuvor bei der Diskussion seiner vier Quantorentypen, hier verstärkt um sein falsches Metaprinzip. Klammert man ‚affirmativ‘ als Einteilungskriterium aus, da dies auf alle Typen zutrifft, bleiben nur die beiden Quantoren und deren Verneinung:
85. Q=’alle‘,S,P
86. Q=(nicht)(alle),S,P $latex \leftrightarrow $ Q=(einige),S,(nicht),P
87. Q=’einige‘,S,P
88. Q=(nicht)(einige),S,P $latex \leftrightarrow $ Q=(alle),S,(nicht),P
89. Wollte man den umgangssprachlichen Quantor ‚keiner‘ benutzen, könnte man diesen über Typ 4b definieren: Q=’kein(er)‘,S,P $latex \leftrightarrow$ Q=(alle),S,($latex \neg$),P).

Fortsetzung folgt …

QUELLEN

  • Avicenna, ‚Avicennas Treatise on Logic‘. Part One of ‚Danesh-Name Alai‘ (A Concise Philosophical Encyclopedia) and Autobiography, edited and translated by Farang Zabeeh, The Hague (Netherlands): Martinus Nijhoff, 1971. Diese Übersetzung basiert auf dem Buch ‚Treatise of Logic‘, veröffentlicht von der Gesellschaft für Nationale Monumente, Serie12, Teheran, 1952, herausgegeben von M.Moien. Diese Ausgabe wiederum geht zurück auf eine frühere Ausgabe, herausgegeben von Khurasani.
  • Digital Averroes Research Environment
  • Stanford Encyclopedia of Philosophy, Aristotle’s Logic
  • Whitehead, Alfred North, and Bertrand Russell, Principia Mathematica, 3 vols, Cambridge University Press, 1910, 1912, and 1913; Second edition, 1925 (Vol. 1), 1927 (Vols 2, 3). Abridged as Principia Mathematica to *56, Cambridge University Press, 1962.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume One. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-182-3.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume Two. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-183-0.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume Three. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-184-7

Eine Übersicht über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 8

VORGESCHICHTE

1. In einem ersten Beitrag AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 1 hatte ich geschildert, wie ich zur Lektüre des Textes von Avicenna gekommen bin und wie der Text grob einzuordnen ist. In einem zweiten Beitrag AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 2 ging es um die Frage, warum überhaupt Logik? Avicenna führt erste Unterscheidungen zu verschiedenen Wissensformen ein, lässt aber alle Detailfragen noch weitgehend im Dunkeln. Im Teil AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 3 ging es um einfache und zusammengesetzte Begriffe, und bei den einfachen Begriffen um ‚individuelle‘ und ‚universelle‘. Schon hier zeigt sich der fundamentale Unterschied zwischen der antiken und der modernen-formalen Logik. In der antiken Logik wird die Ausdrucksebene E – und einer sich daran manifestierenden Folgerungslogik – immer in Verbindung mit einer zugehörigen Bedeutungsstruktur gesehen, die sich an einer Objektstruktur O festmacht. Die moderne formale Logik kennt zwar auch ‚Semantiken‘ und ‚Ontologien‘, diese sind aber ’sekundär‘, d.h. es werden nur solche ‚formalen Semantiken‘ betrachtet, die zum vorausgesetzten syntaktischen Folgerungsbegriff ‚passen‘. Dies sollte dann später an konkreten Beispielen diskutiert werden. Hier liegt der Fokus auf der antiken Logik im Sinne Avicennas. Im Abschnitt AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 4 knüpft Avicenna an den zuvor eingeführten Begriff des ‚universellen‘ Begriffs an und betrachtet jetzt solche als ‚universell‘ bezeichneten Ausdrücke in einem Ausdruckskontext von aufeinanderfolgenden Ausdrücken. Alle diese Ausdrücke könnte man im Sinne der antiken Logik auch als ‚Urteile‘ bezeichnen, durch die einem bestimmten Ausdruck durch andere Ausdrücke bestimmte Bedeutungen (Eigenschaften) zu- oder abgesprochen werden. Hier unterscheidet er die Fälle eines ‚wesentlichen‘ Zusammenhanges zwischen zwei Begriffen und eines ’nicht wesentlichen‘ – sprich ‚akzidentellen‘ – Zusammenhangs. Im Abschnitt AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 5 führt Avicenna eine Reihe von neuen technischen Begriffen ein, die sich nicht alle in ihrer Bedeutung widerspruchsfrei auflösen lassen. Es handelt sich um die Begriffe ‚Genus‘, ‚Spezies‘, Differenz, allgemeine und spezielle Akzidens, den Begriff ‚Kategorie(n)‘ mit den Kategorien ‚Substanz‘, ‚Qualität‘ und ‚Quantität‘. Die Rekonstruktion führt dennoch zu spannenden Themen, z.B. zu einem möglichen Einstieg in das weltverändernde Phänomen der kognitiven Evolution. Im Abschnitt AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 6 geht es um die Begriffe ‚Definition‘ und ‚Beschreibung‘. Im Verhältnis zwischen beiden Begriffen geht die Beschreibung der Definition voraus. In der ‚Definition‘, die Avicenna vorstellt, wird ein neuer Ausdruck e mittels anderer Ausdrücke <e1, …, ek>, die sich auf schon bekannte Sachverhalte beziehen, ‚erklärt‘. Die von Avicenna dann vorgenommene Erklärung, was eine ‚Definition‘ sei, hängt u.a. stark ab von dem Begriff der ‚Bekanntheit‘ und dem Begriff des ‚wahren Wesens‘. Für die Tatsache, dass ein Mensch A bestimmte Ausdrücke <e1, …, ek> einer Sprache L ‚kennt‘ oder ’nicht kennt‘, dafür gibt es keine allgemeinen Regeln oder Kriterien. Von daher macht die Verwendung der Ausdrücke ‚bekannt’/ ’nicht bekannt‘ eigentlich nur Sinn in solch einem lokalen Kontexten W* (z.B. einem Artikel, ein Buch, ein Vortrag, …), in dem entscheidbar ist, ob ein bestimmter Ausdruck e einer Sprache L schon mal vorkam oder nicht. Schwierig wird es mit dem Begriff des ‚wahren Wesens‘. In meiner Interpretation mit der dynamischen Objekthierarchie gibt es ‚das wahre Wesen‘ in Form von Objekten auf einer Stufe j, die Instanzen auf Stufen kleiner als j haben. Dazu gab es weitere Überlegungen. Im folgenden Abschnitt AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 7 beschreibt Avicenna syntaktisch zusammengesetzte, aber semantisch einfache Ausdrücke. Innerhalb der Ausdrücke unterscheidet er die Teileausdrücke ‚Name‘, ‚Verb‘ und ‚Präposition‘. Die unterschiedliche Charakterisierung erfolgt nicht aufgrund der syntaktischen Form, sondern aufgrund der semantischen Eigenschaften, die mit diesen Ausdrücken verbunden werden. Neben dem Objektbezug, der die eigentliche Bedeutung fundiert, gibt es im Bedeutungsraum auch noch den zeitlichen und den räumlichen Aspekt. Das Zusammenspiel von Bedeutung und Ausdruck wird angerissen.

AUSSAGEN/ FESTSTELLUNGEN – WAHR oder FALSCH

2. Nun wendet sich Avicenna zusammengesetzten (engl.: ‚compound‘) ‚Aussagen‘ (engl.: ‚proposition‘) bzw. ‚Feststellungen‘ (engl.: ’statements‘) bzw. ‚bekräftigende Rede‘ (engl.: ‚affirmative speech‘) zu.
3. Stillschweigend wird hier vorausgesetzt, dass eine Aussage mit den im vorausgehenden Abschnitt charakterisierten semantischen Ausdruckstypen (Name, Verb, Präposition) realisiert ist.
4. ‚Aussagen‘ [P] sind alle jene Ausdrücke E, von denen man sagen kann, sie treffen zu (sind ‚wahr‘), oder sie treffen nicht zu (sind ‚falsch‘); Aussagen sind eine echte Teilmenge aller Ausdrücke, $latex P \subset E$.
5. Avicenna unterscheidet drei Arten von Aussagen:
6. Beispiele für ‚kategorische‘ Aussagen sind (Der Mensch)(ist)(ein Lebewesen) bzw. (Der Mensch)(ist nicht)(ein Lebewesen).
7. Beispiele für ‚Disjunktiv-konditionelle‘ (engl.:‘ ‚disjunctive conditional‘) Aussagen sind (Etwas)(ist)(dies)(oder)(jenes) bzw. (Etwas)(ist nicht)(dies)(oder)(jenes) (oder: (Es ist nicht der Fall, dass)(Etwas)(ist)(dies)(oder)(jenes).
8. Beispiele für ‚Konjunktiv-konditionelle‘ (engl.:‘ ‚conjunctive conditional‘) Aussagen sind (Wenn)(dies)(der Fall ist)(dann)(ist auch)(das)(der Fall) oder (Weil)(dies)(der Fall ist)(ist)(auch)(das der Fall) oder (Und nicht)(Wenn)(dies)(der Fall ist)(oder)(das)(der Fall ist).

DISKUSSION

WAHR/FALSCH

9. Zunächst einmal die Formulierung, ‚dass etwas der Fall sei‘ als Kriterium für die Eigenschaft ‚wahr‘ und die Formulierung ‚dass etwas nicht der Fall sei‘ als Kriterium für die Eigenschaft ‚falsch‘.
10. Aussagen bilden eine Kombination aus Ausdruck e und Bedeutungskomponente m aus dem Bedeutungsraum M.
11. Vom Sprecher/ Hörer wird angenommen, dass er die Beziehung zwischen e und m ‚kennt‘, schreiben wir K(e,m) (für die Beziehung KNOW [K] mit $latex K \subseteq E \times M$).
12. Jetzt wird gesagt, dass eine solche Beziehung K(e,m) ‚zutreffen‘ kann oder ’nicht zutreffen‘ kann, bzw. ‚wahr’/ ‚falsch‘ sein kann.
13. Dies bedeutet, es muss einen zusätzlichen Aspekt, einen zusätzlichen Umstand Y geben, wodurch ein Sprecher/ Hörer zu solch einer Charakterisierung kommen kann.
14. Dieser zusätzliche Umstand Y muss ‚veränderlich‘ sein, d.h. er muss in einem Zustand Y_w auftreten, wodurch die Beziehung K(e,m) als ‚wahr‘ bezeichnet wird, und in einem Zustand Y_f, woraus ‚falsch‘ folgt. Möglicherweise gibt es auch noch eine neutrale Variante Y_n, bei deren Vorliegen man nicht weiß, ob es die Eigenschaft ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ zutrifft.
15. Intuitiv wissen wir, dass wir zwar mit Ausdrücken e bestimmte Bedeutungen/ Vorstellungen m verknüpfen können, wir wissen aber auch, dass solche gewussten Sachverhalte m sich in der ‚realen Welt‘ W ändern können.
16. Zuvor haben wir schon die Annahmen entwickelt, dass sich eine dynamische Objekthierarchie O mittels $latex \kappa$ angeregt von Eigenschaften X der realen Welt W bilden lässt. D.h. die Objektstruktur O, die ein Teil des Bedeutungsraumes M ist – also auch Anteile in der Bedeutung m von der Beziehung K(e,m) haben kann –, ist nicht identisch mit den Eigenschaften X der realen Welt. Die Objektstruktur O ist ein ‚konstruiertes Bild über X‘. Von daher ist es denkbar, dass das konstruierte Bild O in M als Grundlage von K(e,m) zwar unveränderlich ist – es ist, wie es ist –, dass aber die auslösenden Eigenschaften X der realen Welt sich geändert haben, und sei es nur für einen Moment (t,t‘) mit t‘ > t.
17. Man könnte nun sagen, dass Beziehungen K(e,m) die sind, bei denen der Bedeutungsanteil m in dieser Beziehung so stark von einem X in der realen Welt abhängt, dass eine ‚Änderung von X‘ als ‚Differenz‘ wahrgenommen werden kann, d.h. es wird nicht direkt ein X oder ein verändertes X verglichen, sondern nur die ‚prozessierte Form‘ vom X über die Prozesse perc() und $latex \alpha$ unter Berücksichtigung von Raum und Zeit und Anzahl. So wie das gewusste ‚m‘ einem bestimmten Xm entspricht, so würde ein ‚Nicht-Xm‘, also $latex \overline{Xm}$ in der entsprechenden Form $latex nicht-m=\alpha(perc(\overline{X}))$ als ‚verschieden‘ von m erkannt/ aufgefasst/ verstanden.
18. Anders gesagt: Wenn wir in unserm Wissen von einer Beziehung K(e,m) ‚wissen‘, bei der wir ein Bedeutungselement ‚m‘ aus M ‚kennen‘, das durch unsere Interaktion mit der realen Welt W anlässlich bestimmter realer Welteigenschaften Xm ‚konstruiert‘ werden konnte also $latex m = \lambda(\alpha(perc(Xm)),M)$, – mit $latex O \subseteq M$ –, dann würde ein von Xm verschiedener Sachverhalt $latex \overline{Xm}$ auch eine unterschiedliche Bedeutungsrepräsentation $latex \overline{m} = \lambda(\alpha(perc(\overline{Xm})),M)$ hervorbringen können. Damit könnte unser ‚Wissen‘ im allgemeinen Bedeutungsraum M die beiden Bedeutungsobjekte ‚m‘ und ‚$latex \overline{m}$‘ direkt ‚vergleichen‘.
19. Wichtig wäre bei diesem Vergleich, dass hier die Zeitkomponente eine Rolle spielt. In der gewussten Beziehung K(e,m) ist die Zeit in gewisser Weise ‚aufgehoben‘, ’neutralisiert‘, für das Vergleichsobjekt ‚m‘ bzw. ‚$latex \overline{m}$‘ müsste gelten, dass es ‚aktuell‘ ist, ‚jetzt‘. Dann könnte man sagen, wenn eine Bedeutung ‚m‘ aus einer Wissensbeziehung K(e,m) über dem Bedeutungsraum M eine Entsprechung in einem ‚aktuellen m‘ finden kann (gebunden an eine aktuelle Wahrnehmung perc()), dann korrespondiert das gewusste ‚$latex m_{K}$‘ aus K(e,m) mit dem aktuell wahrnehmbaren ‚$latex m_{now}$‘. Ist dies nicht der Fall, lässt sich keine aktuelle Entsprechung zwischen einem gewusstem ‚$latex m_{K}$‘ aus K(e,m) zu einem wahrnehmbaren ‚$latex m_{now}$‘ finden, weil die aktuellen Bedeutungen ‚$latex \overline{m}_{now}$‘ anders sind.
20. In dieser Konstruktion gibt es in der Tat nur zwei Fälle: entweder findet sich zu einem gewussten m eine aktuelle Entsprechung ‚$latex m_{now}$‘ oder eben nicht. Dazwischen gibt es nichts. Ein ’neutrales‘ m kommt hier nicht zum Tragen. Denkbar wäre allerdings ein ‚Irrtum‘ in dem Sinne, dass das aktuell wahrgenommene ‚$latex \overline{m}_{now}$‘ zwar verschieden ist, dass diese Verschiedenheit aber entweder ‚falsch eingeschätzt‘ wird oder die Konstruktion des ‚$latex \overline{m}_{now}$‘ irgendwelche ‚Störungen‘, ‚Verzerrungen‘ aufweist, so dass das ‚$latex \overline{m}_{now}$‘ einige ‚Ähnlichkeiten‘ mit dem gewussten m aufweist, die zu einem Fehlurteil führen. Denn, nicht nur kann die aktuelle Konstruktion $latex \lambda$ Fehler aufweisen, sondern auch die auf ‚Erinnerung‘ basierende gewusste Beziehung K(e,m) kann Fehler aufweisen, die das gewusste m in die Nähe des aktuellen ‚$latex \overline{m}_{now}$‘ bringen. Also, Neutralität gibt es hier nicht, aber mögliche Irrtümer unterschiedlichster Art.

AUSSAGENTYPEN

21. Nach dieser Klärung, wie die Eigenschaft ‚wahr’/ ‚falsch‘ in dieser Rekonstruktion von Avicenna nachvollziehbar wären, geht es um die Frage, was es mit den drei Aussagetypen auf sich hat, die ich hier abkürzend ‚Kategorisierend‘, ‚Disjunktiv‘ und ‚Konjunktiv‘ bezeichne.
22. Im Fall des Aussagetyps ‚Kategorisierend‘ mit dem Beispiel (Der Mensch)(ist)(ein Lebewesen) bzw. (Der Mensch)(ist nicht)(ein Lebewesen) geht es offensichtlich nicht um einen Bezug zur aktuell realen Welt mit ihren realen Eigenschaften X, sondern um eine Beziehung zwischen zwei gewussten Bedeutungsstrukturen $latex m_{Mensch}$ und $latex m_{Lebewesen}$. Zwischen diesen beiden Bedeutungsstrukturen $latex m_{Mensch}, m_{Lebewesen}$ gibt es eine Beziehung der Art, dass die Bedeutungsstruktur $latex m_{Mensch}$ eine ‚Instanz‘ der Bedeutungsstruktur $latex m_{Lewesen}$ ist. Sofern dies der Fall ist wird durch eine Aussage der Art (Der Mensch)(ist)(ein Lebewesen) genau dieser Fall angesprochen. Wenn der Ausdruck (Der Mensch)(ist)(ein Lebewesen) mit den Verhältnissen der Bedeutungsstrukturen übereinstimmt (was man direkt wissen kann), dann trifft der gewusste Sachverhalt zu, andernfalls nicht. Natürlich kann es auch in diesem Fall prozessspezifische Fehler geben, die Bedeutungszuordnungen konstruieren, die falsch sind oder missverständlich oder verändert.
23. Im Fall der disjunktiven und konjunktiven Aussagetypen ist die Lage etwas unübersichtlicher, da Avicenna keine direkte Charakterisierung der beiden Aussagetypen mittels Wahrheitswerten vornimmt. Er erwähnt nur verschiedene Ausdrücke, denen man ‚intuitiv‘ eine Bedeutung zuordnen muss, und diese Beispiele sind – bei genauer Betrachtung – sogar widersprüchlich.
24. Bedient man sich des Hilfsmittels der Wahrheitswerttabelle, die zumindest in der stoischen Logik schon bekannt gewesen sein soll, dann kann man die beiden Aussagetypen Disjunktion und Konjunktion eindeutig charakterisieren. Dazu ist es hilfreich, die Ausdrücke von Avicenna ein wenig zu ’normieren‘.
25. DISJUNKTION: Statt zu schreiben (Etwas)(ist)(dies)(oder)(jenes), würde man umschreiben A=(Etwas)(ist)(dies) und B=(Etwas)(ist)(jenes), sodass der ganze Ausdruck lauten würde (A)(oder)(B), wobei sowohl A als auch B vom Typ ‚Aussage‘ sind, die ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ sein kann. Dann könnte man sagen, dass ein Aussagetyp ‚Disjunktion‘ nur dann wahr ist, wenn wenigstens eine der beiden Teilaussagen A oder B wahr ist bzw. nur dann falsch ist, wenn beide Teilaussagen A und B falsch sind.
26. Den Fall, den Avicenna als ‚Konjunktives Konditional‘ einführt, ist nicht eindeutig. Es könnte entweder der späteren aussagenlogischen Konjunktion entsprechen oder auch der aussagenlogischen Implikation. Seine unvollständige Charakterisierung lässt beide Rekonstruktionen zu. Ich betrachte hier beide Fälle.
27. KONJUNKTION: Statt zu schreiben (Weil)(dies)(der Fall ist)(ist)(auch)(das der Fall) würde man im Fall der Konjunktion abkürzend schreiben A=(dies)(der Fall ist) und B=(das(ist)(der Fall). Dann könnte man sagen, der Ausdruck (A)(und)(B) ist nur wahr, wenn jeder der beiden Teilaussagen A und B wahr ist, und ist falsch, wenn wenigstens einer der beiden Teilaussagen falsch ist.
28. IMPLIKATION: Der Ausdruck (Wenn)(A)(dann)(B) ist nur falsch, wenn A wahr ist und B zugleich falsch; in allen anderen Fällen ist der Ausdruck wahr.
29. Disjunktion, Konjunktion und Implikation sind also Aussagetypen, die aus zwei Teilausdrücken A und B bestehen, die selbst wieder Aussagen sind, die wahr oder falsch sein können. Die beiden Teilausdrücke A und B werden dann durch die Teilausdrücke (oder), (und) sowie (wenn)-(dann)- verknüpft. Sie unterscheiden sich dadurch, wie der Wahrheitswert des Gesamtausdrucks von der Verteilung der Wahrheitswerte auf die Teilausdrücke festgelegt ist. Die Teilausdrücke (oder), (und) sowie (wenn)-(dann)- nennt man später dann auch ‚aussagenlogische Operatoren‘.
30. Man sieht hier leicht, dass der Aussagetyp ‚kategoriesierend‘ nicht in dieses Schema passt. Der Aussagetyp ‚kategorisierend‘ ist eine Aussage A, die wahr oder falsch sein kann unabhängig von irgendeinem aussagenlogischen Operator.

NEGATION

31. Die Verneinung von Aussagen hat man später dann auch anders geschrieben.
32. Statt zu schreiben (Etwas)(ist nicht)(dies)(oder)(jenes) hat man später geschrieben $latex \neg(A)(oder)(B)$ mit dem Zeichen $latex \neg$ für ’nicht‘ oder ‚es ist nicht der Fall, dass‘. Statt (oder) wurde später auch geschrieben $latex \vee$. Statt (und) das Zeichen $latex \wedge$. Dann bekommt man $latex \neg(A)(\vee)(B)$ bzw. $latex \neg(A)(\wedge)(B)$.

ERGEBNIS

33. Diese Rekonstruktionsansätze mögen genügen, um zu verdeutlichen, dass man eine plausible Semantik zur bisherigen Logik von Avicenna dazu konstruieren und dass man seine Aussagen zu Aussagetypen mit Wahrheitswerten letztlich mit den Konzepten der modernen Aussagenlogik versöhnen kann.
34. Was hier (noch) nicht gemacht wird, das ist die sich daraus ergebenden Konsequenzen in ihrer ganzen Breite zu entwickeln. Dies wird zu einem späteren Zeitpunkt geschehen.
35. Was die Semantik angeht, so kann man natürlich die Quintessenz der Semantik in einem formalen Modell auch noch viel einfacher fassen. Allerdings liegt das Interesse hier gerade darin, es nicht einfach nur zu vereinfachen, sondern es ganz speziell auch im Hinblick auf das Alltagsdenken und mit Blick auf die kognitiven Prozesse so zu verorten, dass die ‚Entstehung der Bedeutung‘ – zumindest prinzipiell – mit erfasst wird. Die Minimalforderung lautet, dass ein Ingenieur/ Informatiker in der Lage sein sollte, mit diesem Minimalmodell einen Roboter/ Softwareagenten zu bauen, der selbstständig die Bedeutung normalsprachlicher Ausdrücke von jeder Sprache für realweltliche Kontexte W erlernen kann.

Eine Fortsetzung findet sich HIER.

QUELLEN

  • Avicenna, ‚Avicennas Treatise on Logic‘. Part One of ‚Danesh-Name Alai‘ (A Concise Philosophical Encyclopedia) and Autobiography, edited and translated by Farang Zabeeh, The Hague (Netherlands): Martinus Nijhoff, 1971. Diese Übersetzung basiert auf dem Buch ‚Treatise of Logic‘, veröffentlicht von der Gesellschaft für Nationale Monumente, Serie12, Teheran, 1952, herausgegeben von M.Moien. Diese Ausgabe wiederum geht zurück auf eine frühere Ausgabe, herausgegeben von Khurasani.
  • Digital Averroes Research Environment
  • Stanford Encyclopedia of Philosophy, Aristotle’s Logic
  • Whitehead, Alfred North, and Bertrand Russell, Principia Mathematica, 3 vols, Cambridge University Press, 1910, 1912, and 1913; Second edition, 1925 (Vol. 1), 1927 (Vols 2, 3). Abridged as Principia Mathematica to *56, Cambridge University Press, 1962.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume One. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-182-3.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume Two. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-183-0.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume Three. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-184-7

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AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 7

VORGESCHICHTE

1. In einem ersten Beitrag AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 1 hatte ich geschildert, wie ich zur Lektüre des Textes von Avicenna gekommen bin und wie der Text grob einzuordnen ist. In einem zweiten Beitrag AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 2 ging es um die Frage, warum überhaupt Logik? Avicenna führt erste Unterscheidungen zu verschiedenen Wissensformen ein, lässt aber alle Detailfragen noch weitgehend im Dunkeln. Im Teil AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 3 ging es um einfache und zusammengesetzte Begriffe, und bei den einfachen Begriffen um ‚individuelle‘ und ‚universelle‘. Schon hier zeigt sich der fundamentale Unterschied zwischen der antiken und der modernen-formalen Logik. In der antiken Logik wird die Ausdrucksebene E – und einer sich daran manifestierenden Folgerungslogik – immer in Verbindung mit einer zugehörigen Bedeutungsstruktur gesehen, die sich an einer Objektstruktur O festmacht. Die moderne formale Logik kennt zwar auch ‚Semantiken‘ und ‚Ontologien‘, diese sind aber ’sekundär‘, d.h. es werden nur solche ‚formalen Semantiken‘ betrachtet, die zum vorausgesetzten syntaktischen Folgerungsbegriff ‚passen‘. Dies sollte dann später an konkreten Beispielen diskutiert werden. Hier liegt der Fokus auf der antiken Logik im Sinne Avicennas. Im Abschnitt AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 4 knüpft Avicenna an den zuvor eingeführten Begriff des ‚universellen‘ Begriffs an und betrachtet jetzt solche als ‚universell‘ bezeichneten Ausdrücke in einem Ausdruckskontext von aufeinanderfolgenden Ausdrücken. Alle diese Ausdrücke könnte man im Sinne der antiken Logik auch als ‚Urteile‘ bezeichnen, durch die einem bestimmten Ausdruck durch andere Ausdrücke bestimmte Bedeutungen (Eigenschaften) zu- oder abgesprochen werden. Hier unterscheidet er die Fälle eines ‚wesentlichen‘ Zusammenhanges zwischen zwei Begriffen und eines ’nicht wesentlichen‘ – sprich ‚akzidentellen‘ – Zusammenhangs. Im Abschnitt AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 5 führt Avicenna eine Reihe von neuen technischen Begriffen ein, die sich nicht alle in ihrer Bedeutung widerspruchsfrei auflösen lassen. Es handelt sich um die Begriffe ‚Genus‘, ‚Spezies‘, Differenz, allgemeine und spezielle Akzidens, den Begriff ‚Kategorie(n)‘ mit den Kategorien ‚Substanz‘, ‚Qualität‘ und ‚Quantität‘. Die Rekonstruktion führt dennoch zu spannenden Themen, z.B. zu einem möglichen Einstieg in das weltverändernde Phänomen der kognitiven Evolution. Im Abschnitt AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 6 geht es um die Begriffe ‚Definition‘ und ‚Beschreibung‘. Im Verhältnis zwischen beiden Begriffen geht die Beschreibung der Definition voraus. In der ‚Definition‘, die Avicenna vorstellt, wird ein neuer Ausdruck e mittels anderer Ausdrücke <e1, …, ek>, die sich auf schon bekannte Sachverhalte beziehen, ‚erklärt‘. Die von Avicenna dann vorgenommene Erklärung, was eine ‚Definition‘ sei, hängt u.a. stark ab von dem Begriff der ‚Bekanntheit‘ und dem Begriff des ‚wahren Wesens‘. Für die Tatsache, dass ein Mensch A bestimmte Ausdrücke <e1, …, ek> einer Sprache L ‚kennt‘ oder ’nicht kennt‘, dafür gibt es keine allgemeinen Regeln oder Kriterien. Von daher macht die Verwendung der Ausdrücke ‚bekannt’/ ’nicht bekannt‘ eigentlich nur Sinn in solch einem lokalen Kontexten W* (z.B. einem Artikel, ein Buch, ein Vortrag, …), in dem entscheidbar ist, ob ein bestimmter Ausdruck e einer Sprache L schon mal vorkam oder nicht. Schwierig wird es mit dem Begriff des ‚wahren Wesens‘. In meiner Interpretation mit der dynamischen Objekthierarchie gibt es ‚das wahre Wesen‘ in Form von Objekten auf einer Stufe j, die Instanzen auf Stufen kleiner als j haben. Dazu gab es weitere Überlegungen.

NAMEN, VERBEN/TERME, PRÄPOSITIONEN

2. Nach all den Vorüberlegungen nähert sich Avicenna nun dem eigentlichen Gegenstand der (antiken, auf das Alltagsdenken bezogenen) Logik, nämlich jenen ‚Ausdrücken‘, durch die entscheidende Bedeutungen kommuniziert werden.
3. Er beginnt mit ‚einfachen‘ Ausdrücken.

4. Er nimmt an, dass sich einfache Ausdrücke e aus drei Teilausdrücken zusammen setzen, die er als ‚Name‘, ‚Verb‘ und ‚Präposition‘ klassifiziert.

5. Terminologisch merkt er an, dass der grammatische Begriff ‚Verb‘ von Logikern ‚Term‘ genannt wird.

6. Sowohl der Name als auch das Verb sollen eine ‚vollständige Bedeutung‘ haben, Präpositionen dagegen nicht.

7. Namen unterscheiden sich von Termen dadurch, dass sie sich nicht auf eine ‚zeitliche Abfolge‘ (engl.: ‚temporal sequence‘) beziehen.

8. Verben hingegen – im Unterschied zu Namen – haben sowohl eine ‚Bedeutung‘ wie auch einen ‚zeitlichen Bezug‘ (engl.: ‚temporal significance‘).

9. Grenzfälle sind Namen wie ‚Heute‘ (engl.: ‚day‘) und ‚Gestern‘ (engl.: ‚yesterday). Obwohl sie einen ‚Teil der Zeit‘ (engl.: ‚part of time‘) bezeichnen (engl.: ’signify‘), sind sie doch keine Verben, da bei diesen Namen ihre ‚Bedeutung‘ mit dem ‚zeitlichen Bezug‘ zusammenfällt; bei einem Term wie ‚geschlagen‘ (engl.: ’struck‘) ist die Bedeutung (Vorgang des Schlagens) klar zu unterscheiden von dem Zeitbezug (der Vorgang war in der Vergangenheit).

10. Beispiele: e = <e1,e2,e3,e4,e5> = N:(Ich)Va:(habe)N:(den Zid)Vb:(gesehen); Der einfache Ausdruck e zerfällt in mehrere Ausdrucksteile <e1,e2,e3,e4,e5>, denen sich Bedeutungen zuordnen lassen. e1 = (Ich), bezieht sich auf den aktuellen Sprecher, und wird von daher als Name [N] für ein Objekt gewertet, das dem Namen eine Bedeutung verleiht. <e3, e4> = (den Zid) bezieht sich auf eine Person Zid, und wird auch als Name für ein Objekt gewertet, das dem Namen eine Bedeutung verleiht. e2 und e5 = (habe) … (gesehen) bezieht sich auf einen Vorgang des Sehens, bei der ein Beobachter etwas sieht (Bedeutungsanteil); zusätzlich wird ein zeitlicher Aspekt angedeutet, dass es sich um einen Vorgang in der Vergangenheit handelt. Ausdruck e1 füllt die ‚Rolle‘ des Beobachters und Ausdruck <e3, e4> spielt die Rolle des beobachteten Objekts.

11. Beispiel: e = <e1,e2,e3,e4> = N:(Zid) V:(ist) PRÄP:(im) N:(Haus). Der einfache Ausdruck e zerfällt in mehrere Ausdrucksteile <e1,e2,e3,e4>, denen sich Bedeutungen zuordnen lassen. e1 = N:(Zid) ist ein Ausdruck, der sich auf eine Person Zid bezieht, die dem Ausdruck als Objekt eine Bedeutung verleiht. e2 = V:(ist) ist ein Ausdruck, der sich auf einen Sachverhalt ‚etwas ist an einem Ort‘ bezieht, der dem Ausdruck sowohl eine Bedeutung verleiht wie auch eine davon unabhängige zeitliche Bestimmung, dass es in der Gegenwart ist. e3 = PRÄP:(im) ist ein Ausdruck, der sich auf einen räumlichen Sachverhalt bezieht ‚etwas ist in einem Raumgebiet‘, der dem Ausdruck eine Bedeutung verleiht, ohne expliziten Zeitbezug. e4 = N:(Haus) ist ein Ausdruck, der sich auf einen Ort Haus bezieht, der dem Ausdruck als Objekt eine Bedeutung verleiht. Die Kombination aus <e2, e3> ergibt einen Sachverhalt, der einerseits ein Objekt verlangt, von dem gesagt wird, dass es sich irgendwo befindet, und ein Objekt, das den Ort markiert. Beides ist mit e1 und e4 gegeben.

DISKUSSION

TERMINOLOGIE

12. Zur Terminologie: dass die (antiken) Logiker ‚Verben‘ als ‚Terme‘ bezeichnen sollen ist eine Sache. In diesem Kontext der Ausdrucksanalyse erscheint es mir eher verwirrend, zwei verschiedene Terminologien zu vermischen. Ich behalte im Folgenden die ‚grammatischen‘ Begriffe bei. Später kann man dann alle grammatischen Begriffe in einem mehr formalisierten logischen Kontext ‚übersetzen‘, falls notwendig.

13. Von ‚einfachen‘ Ausdrücken e zu sprechen, wenn die Ausdrücke sich alle aus mehreren Teilausdrücken e = <e1, e2, e3, …> zusammen setzen, kann verwirrend wirken, zumal er in vorausgehenden Abschnitten mit ‚einfachen‘ Ausdrücken tatsächlich solche meinte, die eben nicht zusammen gesetzt sind. Avicenna gibt keine direkte Erklärung für diese geänderte Verwendungsweise seines Begriffs eines ‚einfachen Ausdrucks‘, aber der Kontext legt folgende Interpretation nahe:

SYNTAX UND SEMANTIK

14. Es gibt eine ’syntaktische‘ Einfachheit (im Sinne von ’nicht zusammen gesetzt‘) und es gibt eine ’semantische‘ Einfachheit. Einfache Aussagen in diesem Abschnitt scheinen zu den ’semantisch einfachen‘ Ausdrücken zu gehören, denn syntaktisch sind sie eindeutig nicht einfach, sondern zusammengesetzt.

DER SEMANTISCHE RAUM

15. Damit stellt sich die Frage, wie man den ’semantischen Raum‘ ( den ‚Bedeutungsraum) eines Ausdrucks e (sowohl syntaktisch einfach als auch syntaktisch zusammengesetzt) so charakterisieren kann, dass man eine ‚einfache‘ Bedeutung von einer ’nicht einfachen = komplexen‘ Bedeutung unterscheiden kann.

16. Avicenna selbst hat ja in den vorausgehenden Abschnitten den ‚Bedeutungsraum‘ nicht ausdrücklich als eigenständigen Gegenstand thematisiert, immer nur indirekt, anhand von einzelnen Beispielen. Von diesen seinen indirekten, fragmentarischen Andeutungen aus lässt sich die Frage nach einer klaren Unterscheidung einer ‚einfachen‘ und einer ’nicht einfachen‘ Bedeutung im Kontext eines Ausdrucks e kaum einfach beantworten.

17. Als ‚Abfallprodukt‘ der bisherigen Rekonstruktion wurde das Konzept einer ‚dynamischen Objekthierarchie‘ O angedeutet, für die allgemeine Metaklassifikationen (entspricht in etwa dem klassischen Kategorienbegriff) wie z.B. ‚echtes Objekt‘ (etwa die Kategorie ‚Substanz‘), ‚unechte Objekte (etwa die Kategorie ‚Qualität‘), ‚Zeit‘, ‚Raum‘ und ‚Zahl‘ (etwa die Kategorie ‚Quantität‘) postuliert werden konnten.

18. Wenn man nun also von einem ‚Bedeutungsraum‘ (semantischen Raum) M sprechen will, dann müsste man entweder diese – bislang nur angedeuteten – Objektstrukturen mit den zusätzlichen Metaklassifikationen zugrunde legen oder eine Alternative formulieren. Ohne irgendwelche Annahmen dieser Art wäre der Begriff des semantischen Raumes vollständig leer und damit jegliche Art von Rekonstruktion von Ausdrücken e mit Bezug auf die zugehörigen ‚Bedeutungen‘ beliebig: alles wäre richtig und zugleich falsch.

19. Bis auf weiteres wird hier die bisherige Skizze zum dynamischen Objektraum mit den Metaklassifikationen als Arbeitshypothese für die weitere Interpretationen benutzt.

20. Von einem Ausdruck e mit Teilausdrücken <e1, e2, e3, …> zu sagen, dass bestimmte Ausdrucksteile $latex e_{i}$ bestimmte, voneinander abgrenzbare Bedeutungen haben, ihnen also unterschiedliche ’semantische Funktionen‘ zukommen, ist einerseits gewagt, da die Ausrücke als solche keinerlei syntaktische Hinweise haben müssen, aus denen man dies erkennen könnte, zugleich aber auch interessant, da damit die Denkaufgabe gestellt wird, wie es möglich sein soll, beliebige Ausdrucksteile $latex e_{i}$ in einem Ausdruck e durch Bezugnahme auf ‚etwas anderes‘, nämlich auf die ‚Bedeutung‘ indirekt charakterisieren zu können.

SIMULTANE DEFINITONEN

21. In gewissem Sinne könnte man hier auch von einem Definitionsvorgang sprechen: das Neue, das Unbekannte, das sind die Ausdruckselemente <e1, e2, e3, …> in einem Ausdruck e, das Bekannte das ist ein vorausgesetztes Bedeutungsgefüge, und die definitorische Erklärung ist die Verbindung von neuem Ausdruckselement und bekanntem Bedeutungsobjekt. Abweichend vom einfache Fall der expliziten syntaktischen Definition von einem Element e durch eine Folge von anderen Ausdrücken <e1, e2, e3, …> haben wir es hier im Falle der Definition von syntaktischen Ausdrücken durch Bezugnahme auf semantische Objekte mit zwei zusätzlichen Aspekten zu tun: (i) die Erklärung findet nicht in ein und demselben syntaktischen Raum statt sondern es werden zwei ansonsten getrennte Räume miteinander verknüpft: der syntaktische Raum mit dem semantischen Raum, und umgekehrt. Ferner (ii) wird nicht nur ein einziges syntaktisches Element ‚erklärt‘, sondern es werden mehrere syntaktische Elemente ‚parallel’/ ’simultan‘ erklärt.

22. Einen vergleichbaren Fall von ’simultaner‘ Erklärung haben wir im Falle von mathematischen Strukturtheorien, wie sie auch bei modernen empirischen Theorien auftreten. Ein typischer Fall wäre eine Struktur wie $latex < M, f1, …, fk >$. Hier werden mehrere Ausruckselemente eingeführt, deren Bedeutung sich erst im (syntaktischen) Gesamtkontext ergibt, der zusätzlich mit semantischen Elementen aufgeladen werden kann.

23. Ein anderes Beispiel sind formale Semantiktheorien, in denen zusammengesetzte Ausdrücke der Art e = <e1, e2, …> durch eine komplexe Abbildungsvorschrift so auf eine formale Struktur (auch ‚Domäne‘ oder ‚Modell‘ genannt) bezogen werden, dass für jeden syntaktisch zusammengesetzten Ausdruck e gesagt werden kann, wann das ‚Modell‘ M diese syntaktischen Ausdrücke ‚erfüllt‘, oft geschrieben $latex M \models e$ mit ‚e‘ als dem Ausdruck, der durch das Modell ‚erfüllt‘ wird.

24. Eine Besonderheit bei diesen Charakterisierungen von Ausdruckselementen e über den ‚Umweg‘ einer Bedeutungsstruktur M liegt darin, dass es nicht ausreicht, jedem einzelnen Teilausdruck $latex e_{i}$ eine – quasi isolierte – Bedeutung zuzuordnen, sondern die einzelnen bedeutungsfundierenden Objekte O der Bedeutungsstruktur M kommen in bedeutungsspezifischen Anordnungen (in Raum, Zeit, …) vor. Diese spezifischen Sachverhalte müssen in den Ausdruckselementen mitkodiert werden. Es reicht also nicht, nur zu sagen, dass das Ausdruckselement ‚e1‘ ein Objekt o1 bezeichnet, das für eine konkrete Person steht, sondern man muss zusätzlich auch – meistens – einen möglichen ‚Vorgang‘ benennen, in den das Objekt o1 eingebettet ist, und – meistens – zusätzlich mit einem zeitlichen Aspekt. Das wären dann schon mindestens drei verschiedene Kodierungsdimensionen, die im Bereich der Ausdruckselemente repräsentiert werden müssten.

25. Aufgrund der Beispiele von Avicenna gäbe es die zusätzlichen Arbeitshypothesen, dass (i) Vorgänge durch ‚Verben‘ [V] kodiert werden, (ii) zeitliche Aspekte sowohl durch Verben wie auch durch ‚Namen‘ [N], und (iii) räumliche Aspekte durch ‚Präpositionen‘ [PRÄP].

26. Die interessante Frage wäre natürlich, wie genau diese verschiedenen Objektstrukturen und -eigenschaften und -Relationen in der dynamischen Objekthierarchie O als dem Bedeutungsraum M repräsentiert sind. Sie müssten ja so vorliegen, dass man sie einfach ‚ablesen‘ könnte und dann durch einen entsprechenden ‚Übersetzungsprozeß‘ von M nach E zugeordnet werden könnten, also $latex \lambda: M \longrightarrow E$ (mit $latex \lambda $ als Übersetzungsvorschrift).

27. Nehmen wir das Beispiel e = <e1,e2,e3,e4> = N:(Zid) V:(ist) PRÄP:(im) N:(Haus). Es gibt hier (woher wissen wir dies überhaupt!) zwei Ausdruckselemente e1 und e4, die sich auf ‚echte Objekte‘ beziehen; e1 bezieht sich auf eine konkrete Personen, e4 auf ein Objekt, in dem Menschen sich aufhalten können. Der Ausdruck ist kein echtes Objekt, da es nur eine bestimmte Form von Beziehung zwischen zwei Objekten repräsentiert, nämlich dass ein Objekt A ‚räumlich in‘ einem anderen Objekt B vorkommt. Das Ausdruckselement e2 repräsentiert einen Zusammenhang zwischen zwei Objekten (echt oder unecht), der zudem aktuell ist, genauer: von einem Zielobjekt A wird gesagt, dass es in einer ist-Beziehung zu einem anderen Objekt steht. Da aber nach dem ‚Sprachgefühl‘ (was ist das?) die Kombination <e1, e2, e4> nicht geht, muss also <e3,e4> zusammen auftreten, damit e1 mittels e2 mit e4 kombiniert werden kann. Eine Arbeitshypothese könnte sein, dass echte Objekte, die mögliche ‚Orte des Vorkommens‘ bezeichnen, eine zusätzliche Präposition benötigen, um als Gegenpart in einer ist-Relation auf zu treten. Das ist natürlich hier alles sehr ad hoc und unsystematisch. Es kann aber verdeutlichen, dass die große Arbeitshypothese mit der bereichsübergreifenden Zuordnung $latex \lambda $ von Elementen einer Bedeutungsstruktur M (mit der dynamischen Objekthierarchie O als Teilstruktur) zu einer Menge E von möglichen Ausdrücken eine sehr detaillierte Beschreibung verlangt, die nicht ad hoc entscheidet, sondern systematisch.

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QUELLEN

  • Avicenna, ‚Avicennas Treatise on Logic‘. Part One of ‚Danesh-Name Alai‘ (A Concise Philosophical Encyclopedia) and Autobiography, edited and translated by Farang Zabeeh, The Hague (Netherlands): Martinus Nijhoff, 1971. Diese Übersetzung basiert auf dem Buch ‚Treatise of Logic‘, veröffentlicht von der Gesellschaft für Nationale Monumente, Serie12, Teheran, 1952, herausgegeben von M.Moien. Diese Ausgabe wiederum geht zurück auf eine frühere Ausgabe, herausgegeben von Khurasani.
  • Digital Averroes Research Environment
  • Stanford Encyclopedia of Philosophy, Aristotle’s Logic
  • Whitehead, Alfred North, and Bertrand Russell, Principia Mathematica, 3 vols, Cambridge University Press, 1910, 1912, and 1913; Second edition, 1925 (Vol. 1), 1927 (Vols 2, 3). Abridged as Principia Mathematica to *56, Cambridge University Press, 1962.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume One. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-182-3.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume Two. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-183-0.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume Three. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-184-7

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AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 6

VORGESCHICHTE

1. In einem ersten Beitrag AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 1 hatte ich geschildert, wie ich zur Lektüre des Textes von Avicenna gekommen bin und wie der Text grob einzuordnen ist. In einem zweiten Beitrag AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 2 ging es um die Frage, warum überhaupt Logik? Avicenna führt erste Unterscheidungen zu verschiedenen Wissensformen ein, lässt aber alle Detailfragen noch weitgehend im Dunkeln. Im Teil AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 3 ging es um einfache und zusammengesetzte Begriffe, und bei den einfachen Begriffen um ‚individuelle‘ und ‚universelle‘. Schon hier zeigt sich der fundamentale Unterschied zwischen der antiken und der modernen-formalen Logik. In der antiken Logik wird die Ausdrucksebene E – und einer sich daran manifestierenden Folgerungslogik – immer in Verbindung mit einer zugehörigen Bedeutungsstruktur gesehen, die sich an einer Objektstruktur O festmacht. Die moderne formale Logik kennt zwar auch ‚Semantiken‘ und ‚Ontologien‘, diese sind aber ’sekundär‘, d.h. es werden nur solche ‚formalen Semantiken‘ betrachtet, die zum vorausgesetzten syntaktischen Folgerungsbegriff ‚passen‘. Dies sollte dann später an konkreten Beispielen diskutiert werden. Hier liegt der Fokus auf der antiken Logik im Sinne Avicennas. Im Abschnitt AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 4 knüpft Avicenna an den zuvor eingeführten Begriff des ‚universellen‘ Begriffs an und betrachtet jetzt solche als ‚universell‘ bezeichneten Ausdrücke in einem Ausdruckskontext von aufeinanderfolgenden Ausdrücken. Alle diese Ausdrücke könnte man im Sinne der antiken Logik auch als ‚Urteile‘ bezeichnen, durch die einem bestimmten Ausdruck durch andere Ausdrücke bestimmte Bedeutungen (Eigenschaften) zu- oder abgesprochen werden. Hier unterscheidet er die Fälle eines ‚wesentlichen‘ Zusammenhanges zwischen zwei Begriffen und eines ’nicht wesentlichen‘ – sprich ‚akzidentellen‘ – Zusammenhangs. Im Abschnitt AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 5 führt Avicenna eine Reihe von neuen technischen Begriffen ein, die sich nicht alle in ihrer Bedeutung widerspruchsfrei auflösen lassen. Es handelt sich um die Begriffe ‚Genus‘, ‚Spezies‘, Differenz, allgemeine und spezielle Akzidens, den Begriff ‚Kategorie(n)‘ mit den Kategorien ‚Substanz‘, ‚Qualität‘ und ‚Quantität‘. Die Rekonstruktion führt dennoch zu spannenden Themen, z.B. zu einem möglichen Einstieg in das weltverändernde Phänomen der kognitiven Evolution.

DEFINITION UND BESCHREIBUNG

2. Der nächste Abschnitt handelt von ‚Definition‘ und ‚Beschreibung‘. Im Verhältnis zwischen beiden Begriffen geht die Beschreibung der Definition voraus.

3. In der ‚Beschreibung‘ mittels eines Ausdrucks e beziehe ich mich auf ‚etwas‘, ohne dass ich das ‚wahre Wesen‘ der Sache kennen muss, d.h. ich kann auch durch Bezug auf Teilaspekte beschreiben.

4. In der ‚Definition‘ mittels eines Ausdrucks e benutze ich andere Ausdrücke <e1, …, ek>, die sich auf schon bekannte Sachverhalte beziehen, und (idealerweise?) ist mir das wahre Wesen der zu beschreibenden Sache bekannt. In der Definition ‚beziehe‘ (engl.: ‚denote‘) ich mich auf etwas und zugleich grenze ich es ab von anderem.

5. Implizit kann man dem Text entnehmen, das der zu definierende Ausdruck e von dem definierenden Ausdruck <e1, …, ek> zu trennen ist; letzterer wird von Avicenna ‚definiens‘ genannt; dass der erste Ausdruck ‚definiendum‘ heißt, wird implizit unterstellt.

6. Avicenna weist auf vier hauptsächliche Fehler hin, die man beim Definieren begehen kann; ich fasse sie hier in zwei Fällen zusammen: (i) ‚Zirkularität‘: Wenn der zu definierende Ausdruck e selbst auch bei den definierenden Ausdrücken <e1, …, e, …, ek> vorkommt; (ii) ‚Unklarheit‘: Wenn mindestens einer der definierenden Ausdrücke <e1, …, ek> nicht bekannt genug ist. Im Fall (i) setze ich das, was ich definieren will, schon als bekannt voraus und im Fall (ii) ist das, wodurch ich etwas erklären möchte, selbst auch erklärungsbedürftig.

DISKUSSION

7. Die von Avicenna vorgenommene Erklärung, was eine ‚Definition‘ sei hängt u.a. stark ab von dem Begriff der ‚Bekanntheit‘ und dem Begriff des ‚wahren Wesens‘.

8. Zu sagen, dass die die Bedeutung eines neuen Ausdrucks e (der zu definierende Ausdruck, das Definiendum) zurückgeführt werden soll auf ’schon bekannte‘ Ausdrücke (die definierenden Ausdrücke, das Definiens) klingt im ersten Moment sehr plausibel, erweist sich bei näherer Betrachtung aber als ein schwieriges Kriterium.

9. Für die Tatsache, dass ein Mensch A bestimmte Ausdrücke <e1, …, ek> einer Sprache L ‚kennt‘ oder ’nicht kennt‘, dafür gibt es keine allgemeinen Regeln oder Kriterien; der eine mag zu einem bestimmten Zeitpunkt wissen, was mit DNA gemeint ist, die andere nicht.

10. Von daher macht die Verwendung der Ausdrücke ‚bekannt’/ ’nicht bekannt‘ eigentlich nur Sinn in solch einem lokalen Kontexten W* (z.B. einem Artikel, ein Buch, ein Vortrag, …), in dem entscheidbar ist, ob ein bestimmter Ausdruck e einer Sprache L schon mal vorkam oder nicht. Darüber hinaus kann man dann nur sagen, dass derjenige, der sich in den lokalen Kontext W* begibt, die ‚Voraussetzungen für W*‘ kennen sollte (in einer Schule/ Universität setzt z.B. der Lehrstoff von Stufe j normalerweise Wissen aus einer Stufe j-1 voraus).

11. Noch schwieriger wird es mit dem Begriff des ‚wahren Wesens‘. Das ‚Wesen‘ war uns schon begegnet im Kontext der Rede über ‚universelle Begriffe‘, deren Instanzen ‚wesentlich‘ bezogen sind auf den Oberbegriff. Dabei wurde hier als Interpretationsrahmen die dynamische Objekthierarchie O angenommen, die aus sinnlichen Wahrnehmungs- und Abstraktionsprozessen hervorgeht.

12. In dieser unterstellten dynamische Objekthierarchie O gibt es ‚das wahre Wesen‘ in Form von Objekten auf einer Stufe j, die Instanzen auf Stufen kleiner als j haben. Unter Voraussetzung einer solchen Hierarchie kann man z.B. sagen – was auch Avicenna tut –, dass (der Mensch)(ist)(ein Lebewesen). Zusätzlich kann man abgrenzend sagen, dass der Mensch ‚Lachen‘ kann und ‚Sprechen‘; Eigenschaften, die man lange Zeit nur dem Menschen zugeschrieben hatte und keinem anderen Lebewesen.

13. Grundsätzlich ist solch ein Erklärungsansatz nachvollziehbar, er hat aber die Schwäche, dass jeder Mensch möglicherweise unterschiedliche Informationen zu ‚Lebewesen‘ angesammelt hat, und wie die Geschichte der Biologie zeigt (man denke beispielsweise nur an die großen Naturforscher Linné (1707 – 1778), Alexander v. Humboldt (1769 – 1859), und Darwin (1809 – 1882)), hat sich das gemeinschaftliche Wissen über die Natur in den letzten150 Jahren dramatisch weiter entwickelt. Dies bedeutet, dass das grundsätzliche Modell Sinn macht, was aber zu einem bestimmten Zeitpunkt das ‚wahre Wesen‘ einer Sache ist, das ist jeweils neu zu überprüfen. Dazu kommt, dass im Jahr 2014 die Wissensmenge in jedem Gebiet dermaßen angewachsen ist, dass es immer schwieriger wird– selbst für Experten –, abschließend festzustellen, was denn jetzt alles tatsächlich bekannt ist.

14. Im übrigen sei angemerkt, dass es in der modernen Logik und Mathematik zusätzliche Definitionsformen gibt. Eine, die sehr wichtig ist, sei hier erwähnt, das ist die Definition, die einem rekursiven Schema folgt. Bei dieser Definition wird zwar auch das Neue durch das schon Bekannte erklärt, aber bei dem, was erklärt wird, handelt es sich nicht um ein statisches Objekt, sondern um einen Erzeugungsprozess, bei dem man mit einem bekannten Objekt o anfängt und dann auf dieses Projekt wiederholt eine bestimmte bekannte Operation f anwendet, die so geartet ist, dass man die Operation auch wieder auf das Ergebnis der Operation anwenden kann. Klassisches Beispiel ist die Erzeugung der natürlichen Zahlen. Die Operation heißt ‚Nachfolger‘ [Nf]. Angewendet auf ein Startobjekt o mit Nf(o) bekommt man ein Nachfolgeobjekt o‘, das genau definiert ist. Auf dieses kann man wieder die Nachfolgeoperation anwenden Nf(Nf(o)) = o“, usw. Auf diese Weise kann man über einen Erzeugungsprozess abzählbar unendlich viele neue Objekte allein dadurch definieren, dass man die Vorschrift für den Prozess hinschreibt: wenn o eine natürliche Zahl $latex \mathcal{N}$ ist, dann ist auch Nf(o) eine natürliche Zahl $latex \mathcal{N}$. Was definiert wird, das ist die abzählbar unendlich Menge aller natürlichen Zahlen. Was bekannt ist, das ist ein Anfangselement und eine einfache Operation.

Eine fortsetzung findet sich HIER.

QUELLEN

  • Avicenna, ‚Avicennas Treatise on Logic‘. Part One of ‚Danesh-Name Alai‘ (A Concise Philosophical Encyclopedia) and Autobiography, edited and translated by Farang Zabeeh, The Hague (Netherlands): Martinus Nijhoff, 1971. Diese Übersetzung basiert auf dem Buch ‚Treatise of Logic‘, veröffentlicht von der Gesellschaft für Nationale Monumente, Serie12, Teheran, 1952, herausgegeben von M.Moien. Diese Ausgabe wiederum geht zurück auf eine frühere Ausgabe, herausgegeben von Khurasani.
  • Digital Averroes Research Environment
  • Stanford Encyclopedia of Philosophy, Aristotle’s Logic
  • Whitehead, Alfred North, and Bertrand Russell, Principia Mathematica, 3 vols, Cambridge University Press, 1910, 1912, and 1913; Second edition, 1925 (Vol. 1), 1927 (Vols 2, 3). Abridged as Principia Mathematica to *56, Cambridge University Press, 1962.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume One. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-182-3.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume Two. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-183-0.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume Three. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-184-7

Eine Übersicht über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 5

VORGESCHICHTE

1. In einem ersten Beitrag AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 1 hatte ich geschildert, wie ich zur Lektüre des Textes von Avicenna gekommen bin und wie der Text grob einzuordnen ist.
2. In einem zweiten Beitrag AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 2 ging es um die Frage, warum überhaupt Logik? Avicenna führt erste Unterscheidungen zu verschiedenen Wissensformen ein, lässt aber alle Detailfragen noch weitgehend im Dunkeln.
3. Im Teil AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 3 ging es um einfache und zusammengesetzte Begriffe, und bei den einfachen Begriffen um ‚individuelle‘ und ‚universelle‘. Schon hier zeigt sich der fundamentale Unterschied zwischen der antiken und der modernen-formalen Logik. In der antiken Logik wird die Ausdrucksebene E – und einer sich daran manifestierenden Folgerungslogik – immer in Verbindung mit einer zugehörigen Bedeutungsstruktur gesehen, die sich an einer Objektstruktur O festmacht. Die moderne formale Logik kennt zwar auch ‚Semantiken‘ und ‚Ontologien‘, diese sind aber ’sekundär‘, d.h. es werden nur solche ‚formalen Semantiken‘ betrachtet, die zum vorausgesetzten syntaktischen Folgerungsbegriff ‚passen‘. Dies sollte dann später an konkreten Beispielen diskutiert werden. Hier liegt der Fokus auf der antiken Logik im Sinne Avicennas.
4. Im nächsten Abschnitt VICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 4 knüpft Avicenna an den zuvor eingeführten Begriff des ‚universellen‘ Begriffs an und betrachtet jetzt solche als ‚universell‘ bezeichneten Ausdrücke in einem Ausdruckskontext von aufeinanderfolgenden Ausdrücken . Alle diese Ausdrücke könnte man im Sinne der antiken Logik auch als ‚Urteile‘ bezeichnen, durch die einem bestimmten Ausdruck durch andere Ausdrücke bestimmte Bedeutungen (Eigenschaften) zu- oder abgesprochen werden. Hier unterscheidet er die Fälle eines ‚wesentlichen‘ Zusammenhanges zwischen zwei Begriffen und eines ’nicht wesentlichen‘ – sprich ‚akzidentellen‘ – Zusammenhangs.

BEGRIFFSINFLATION

5. Im nächsten Abschnitt führt er mindestens fünf neue technische Begriffe ein, deren Erklärung partiell unvollständig bleibt. Dies ist sehr schade. Aber, versuchen wir zu verstehen, was noch verstehbar ist.
6. Es sind die Begriffe ‚Genus‘ (Gattung?), ‚Spezies‘ (Art?), Differenz, allgemeine und spezielle Akzidens, und den Begriff ‚Kategorie(n)‘.
7. Er beginnt die Diskussion mit der ‚universellen Bedeutung‘, von der er behauptet, man könne hier 5 Typen unterscheiden (ohne sie direkt anzugeben). Drei Typen von universellen Bedeutungen seien ‚wesentlich‘ und zwei ’nicht-wesentlich‘, also ‚akzidentell‘.
8. Seine Erklärungen zu den ‚wesentlich universellen‘ Bedeutungen wiederholt in gewisser Weise das bislang Gesagte, indem er das Klassifizierungsmerkmal als Frage formuliert: ‚Zu welcher Art Y von Dingen gehört eine Entität X‘? Die Antwort wäre allgemein: ‚X ist ein Y‘, eventuell noch ergänzt um charakteristische Eigenschaften wie ‚Y ist/ hat/kann … Z‘. Letztlich ist dies, wie Avicenna feststellt, eine Definition, bei der etwas Neues (das X) durch Bezugnahme auf etwas schon Bekanntes (Y) erklärt wird. Y ist eine notwendige Voraussetzung für X.
9. Als Beispiel führt er u.a. an, Frage: ‚Was ist ein X=Mensch?‘, Antwort: ‚X=Mensch ist ein Y=Lebewesen‘ (‚animal‘).
10. Allerdings benutzt er auch Beispiele, die von dem ‚üblichen‘ Konzept eines Dings (einer ‚Entität‘ (engl.: ‚entity‘)) abweichen. Statt von ‚Mensch‘, ‚Kuh‘ und ‚Pferd‘ spricht er auch von ‚Schwarzheit‘, ‚Rotheit‘ und ‚Weisheit‘ bzw. auch von ‚Drei‘, ‚Fünf‘ und ‚Zehn‘.
11. Bedeutungen X = {‚Schwarzheit‘, ‚Rotheit‘, ‚Weisheit‘} beantwortet er mit Y=Qualitäten. Bedeutungen X = {‚Drei‘, ‚Fünf‘, ‚Zehn‘} beantwortet er mit Y=Zahlen.
12. Etwas später benutzt der die Bedeutungen ‚Substanz‘, ‚Qualität‘ und ‚Quantität‘ als universelle Begriffe für die ersten Beispiele, so dass man lesen kann/ muss Wenn X= {‚Mensch‘, ‚Kuh‘ und ‚Pferd‘}, dann Y= ‚Substanz‘, wenn X = {‚Schwarzheit‘, ‚Rotheit‘, ‚Weisheit‘} dann Y=Qualität, wenn X = {‚Drei‘, ‚Fünf‘, ‚Zehn‘} dann Y=Quantität.
13. Von den ‚wesentlichen universellen‘ Begriffen ‚Substanz‘, ‚Qualität‘ und ‚Quantität‘ sagt Avicenna, dass sie sich nicht weiter verallgemeinern lassen, d.h. wenn X=Substanz, dann gibt es kein allgemeineres Y, auf das sich dieser universelle Begriff zurückführen lässt (und entsprechend für X=Qualität‘ und X=Quantität). Deshalb nennt Avicenna diese universellen Begriffe, die wesentlich keinen anderen universellen Begriff mehr ‚über sich‘ haben, ‚Kategorien‘, ohne dass er diesen Zusammenhang explizit benennt; er tut es einfach.
14. Als Beispiele für ‚akzidentelle universelle‘ Begriffe führt er an, dass ‚fest‘ (engl.: ’solid‘) allgemeiner sei als ‚Lebewesen‘, aber spezieller als ‚Substanz‘; entsprechend sei ‚Zahl‘ allgemeiner als ‚gleich‘ (engl.: ‚even‘), aber spezieller als ‚Quantität‘. ‚Gleichheit (engl.: ‚eveness‘) sei allgemeiner als ‚vier‘, doch spezieller als ‚Quantität‘.
15. Dann führt er die Begriffe ‚Genus‘ und ‚Spezies‘ ein mit der Formulierung, dass dasjenige, das allgemeiner ist, die speziellere Spezies sei, und umgekehrt, dass dasjenige, was das speziellere Universelle ist, ist die allgemeinere Spezies. Diese Formulierungen sind nicht eindeutig.
16. Später sagt er noch, dass es Dinge gibt, die sowohl Genus und Spezies sein können oder Dinge, die nur Genus sind, und nicht unter irgendeiner Spezies sind.
17. Dann folgt die Feststellung, dass die Begriffe ‚Substanz‘, ‚Qualität‘ und ‚Quantität‘ kein Genus einer Spezies seien; unter ihnen befinden sich nur Instanzen wie ‚Mensch‘, ‚Schwarzheit‘ und ‚vier‘.
18. Aus diesen Beispielen folge die Natur einer Spezies, die kein Genus sein kann, sondern nur Spezies von allen Spezies, die ‚unter‘ ihr kommen.
19. Instanzen eines wesentlichen universellen Begriffs können sich durch akzidentelle Eigenschaften unterscheiden (z.B. angenommen {X1, X2} sind beide Y und X1 ist ’schwarz‘ und X2 ‚weiß‘ und ’schwarz‘. Dann ist die Eigenschaft ’schwarz‘ allgemeiner als X1 und X2, ’schwarz‘ kommt X1 und X2 nicht wesentlich, sondern akzidentell zu, kann aber differenzierend wirken.
20. Abschließend führt Avicenna noch folgende Beispiele an: Jeder universelle Begriff ist entweder Genus, so wie ‚Lebewesen‘, oder Spezies, so wie ‚Mensch‘, oder Differenz, so wie ‚die Fähigkeit zu Sprechen‘, oder ‚allgemein akzidentell‘ so wie ‚Bewegung‘, ‚Schwarzheit‘, ‚Weisheit‘.

INTERPRETATION- ANMERKUNGEN

21. War die Re-Lektüre und einsetzende Interpretation von Avicennas Text bis zu dieser Stelle relativ einfach, so zeigen sich jetzt erste Problemstellungen, die man nicht mehr so einfach ‚verworten‘ kann.
22. Einmal gibt es das Phänomen, dass er Begriffe einführt und benutzt, die nicht – zumindest auf einen ersten Blick – direkt erklärbar sind. Dann werden Zusammenhänge thematisiert, wo man sich die Frage stellen kann, ob er dies wirklich ‚gemeint‘ haben kann oder, falls ja, wie man damit umgehen will.
23. Dies gibt Gelegenheit, kurz ein paar Worte zum ‚Interpretieren‘ zu sagen. Ich werde dabei nicht auf die sehr umfangreiche Literatur zu diesem Thema eingehen (im Bereich Philosophie, Literatur und wissenschaftliche Bibelauslegung gibt es dazu nicht hunderte, sondern sicher tausende von Artikeln und Büchern. Einiges davon musste ich zu früheren Zeiten durcharbeiten). Ich beschränke mich hier auf jene Grundprinzipien, die ich hier anwenden möchte.
24. Die philologischen Fragen, ob die englische Übersetzung hier den arabischen Text korrekt wiedergibt, oder ob gar der arabische Text Überlieferungsfehler aufweist, kann ich hier nicht behandeln. Ich muss den Text nehmen, wie ich ihn vorfinde, und wenn sich für mich Unklarheiten ergeben, kann ich sie nur benennen und versuchen sie zu interpretieren.
25. Was die ‚Interpretation‘ (Auslegung, Deutung, …) des Textes angeht, so gibt es ja mindestens zwei verschiedene Ansprüche: (i) man will die ‚Bedeutung‘ rekonstruieren, die der Autor selbst mit dem verknüpft hatte (also eine Art ‚konservierende‘ Interpretation), oder (ii) man will die Bedeutung des Autors (des Textes) in einem anderen/ neuen Bedeutungsrahmen ‚rekonstruieren‘, ihn quasi von Bedeutungsraum R_Autor in den Bedeutungsraum R_Leser ‚übersetzen‘.
26. Beide Vorgehensweisen haben ihr Recht. Die ‚konservierende‘ Rekonstruktion ist idealerweise eigentlich der erste Schritt und die Voraussetzung für die ‚Neuinterpretation‘. Es ist aber eine offene Frage, ob ein Leser immer und überall über genau die Voraussetzungen in seinem Denken verfügt, dass er den ursprünglichen Bedeutungsraum R_Autor überhaupt eins-zu-eins rekonstruieren kann. Nach ca. 1000 Jahren, die uns von Avicenna trennen, ist es sogar ziemlich unwahrscheinlich, dass wir dies überhaupt noch können.
27. Hier, in dieser Rekonstruktion, werde ich erst gar nicht versuchen, den ursprünglichen Bedeutungsraum R_Autor zu rekonstruieren, da ich niemals wüsste, ob ich mit meinen Überlegungen ‚richtig‘ liege oder nicht. Dies Referenzproblem haben alle wissenschaftlichen Rekonstruktionen alter Texte (dies gilt natürlich auch für das hebräische Alte Testament, das griechische Neue Testament und den arabischen Koran).
28. Im weiteren Verlauf werde ich also die bisherigen Rekonstruktionsannahmen weiter verfolgen. Letztlich ist es eine Art ‚Test‘, ob und wie sich der Text von Avicenna in einem modernen erkenntnistheoretischen Modell ’neu lesen‘ lässt.

DISKUSSION

29. Bisher haben wir folgende allgemeine Annahmen bei der Rekonstruktion des Textes von Avicenna getroffen:
30. Die Ausdruckselemente E einer Sprache L sind nur ‚Zeiger‘, die auf irgendwelche kognitiven Objekte O hindeuten, die im Rahmen der generierten Zeigebeziehung M für die Ausdruckselemente E zu dem werden, was wir ihre Bedeutung nennen.
31. Die kognitiven Objekte O entstehen in einem Erzeugungsprozess, der Eigenschaften X der umgebenden Welt W über sinnliche Wahrnehmungsprozesse perc() und interne Abstraktionsprozesse $latex \alpha$ als irgendwelche Objekte O klassifiziert. Man könnte von daher auch sagen $latex \kappa = perc \otimes \alpha$, oder $latex \kappa(X, O) = O$.
32. Wir hatten ferner noch unterschieden zwischen ‚echten‘ Objekten, d.h. solchen Bündelungen von Objekten, die als solche in der umgebenden Welt W ‚vorkommen‘ und und solchen ‚unechten‘ Objekten, die zwar gebildet werden können, die aber immer nur ‚als Teil anderer Objekte‘ auftreten können. Die Definition von ‚wesentlich universellen Objekten‘ von Avicenna deckt sich mit dem Konzept ‚echter Objekte‘ und Avcennas Definition von ‚akzidentellen universellen‘ Objekten deckt sich mit den unechten Objekten, die anderen Objekten zukommen können, aber nicht müssen.

DISKUSSION – KATEGORIEN

33. Avicenna führt dann indirekt das Konzept von ‚(wesentlichen universellen) Kategorien‘ ein, die ich indirekt rekonstruiert habe als solche ‚wesentlich universellen Objekte‘, ‚über die‘ es keine weiteren Verallgemeinerungen mehr gibt. Da er es nur bei einzelnen Beispielen belässt ohne wirkliche Argumentationen bleibt hier einiges offen.
34. Die genannten drei Kategorien erscheinen wie eine Art ‚Meta-Klassifikation‘ über allen möglichen Objekten, so eine Art ‚Typisierung‘ der verschiedenen möglichen Objektbildungen. Versucht man im Bereich der Objektklassifikationen kriterien zu finden, welches Objekt zu welcher Kategorie gehört, wird es aber schnell schwierig.
35. Kategorie ‚Substanz‘: Wann ist ein Objekt eine ‚Substanz‘ und wann ‚Qualität‘ oder ‚Quantität‘? Ein erster Ansatzpunkt wäre zu sagen, dass alle ‚echten‘ Objekte ‚Substanzen‘ sind und alle ‚unechten‘ Objekte ‚Qualitäten‘. Was aber wäre dann mit den ‚Quantitäten‘? Die ‚Anzahl‘ von Objekten (echten wie unechten) ist ja keine ‚Eigenschaft an sich‘, sondern ist eher eine ‚Metaeigenschaft‘, die man vorhandenen (real oder gedachten) Objekten zuordnen kann. Im Vergleich zu Farben, Formen, Tönen usw., die auf Sinneseigenschaften aufsetzen, ist ‚Quantität‘ als Metaeigenschaft eine abgeleitete, sekundäre, abstrakte Eigenschaft, so wie z.B. auch ‚größer/ kleiner‘, ‚vorher/ nachher‘, ‚vorne/ hinten, ‚oben/ unten‘, usw. In allen genannten Fällen gibt es schon irgendwelche Objekte, zwischen denen räumliche, zeitliche – oder sonstige – allgemeine Beziehungen erkennbar sind. Diese indirekten, sekundären, abgeleiteten Beziehungen bilden dann eine eigene Klasse von ‚abstrakten‘ Eigenschaften, von denen die ‚Quantitäten‘ nur eine Teilmenge wären. Wenn also Avicenna schon die Kategorie ‚Quantität‘ bemüht, warum nicht auch ‚Raum‘ und ‚Zeit‘?
36. Alle diese Überlegungen zu ‚Kategorien‘ als zusätzliche Meta-Klassifikationen der generierbaren Objekte setzen allerdings voraus, dass es möglich ist, im Bereich der Objekthierarchie für alle Objekte O solche ‚Kontexte‘ annehmen zu können, durch die sie bzgl. ‚Substanz‘, ‚Qualität‘, ‚Quantität‘, ‚Raum‘ und ‚Zeit‘ charakterisierbar werden. Im bisher verfolgten Modell würde dies bedeuten, dass Objekte nicht nur über ihre ‚direkten‘ sensorischen Eigenschaften $latex K_{s}$ generiert werden, sondern sie werden von vornherein auch mit minimalen ‚Raumanteilen‘ bzw. in bestimmten ‚Abfolgen‘ ‚gespeichert‘ bzw. sind sensitiv bzgl. Abfolgen ‚erinnerbar‘.

DENKEN ALS KOGNITIVE EVOLUTION

37. Oder, wenn schon, dann noch allgemeiner: der gesamte Objekterzeugungsprozess $latex \kappa$ mus so beschaffen sein, dass er die fundamentalen Eigenschaften X der umgebenden Welt so in die Objekthierarchie übersetzt, dass (i) echte und unechte Objekteigenschaften hinreichend erhalten bleiben können, dass (ii) räumliche und zeitliche Verhältnisse hinreichend repräsentiert werden können, dass (iii) quantitative Verhältnisse erzeugt werden können (z.B. Aufzählungen und Äquivalenzklassen), dass (iv) neben den Eigenschaften, die ‚gegeben‘ sind (IST, real), auch ’neue‘ Kombinationen erzeugt werden können (Möglichkeit, Potenz, kombinatorischer Raum), und dass (v) neue Kombinationen (Möglichkeiten) mit dem ‚realen Raum‘ verglichen werden können.
38. Sofern dies möglich ist (und alles, was wir über das menschliche Denken heute wissen, bestätigt dies), kann man dann diese Art von Denken als Fortsetzung der biologischen Evolution im Bereich des Denkens (quasi als kognitive Evolution) betrachten, d.h. die biologische Evolution hat – mit ihrem kombinatorischen genetischen Mechanismus – Strukturen geschaffen (Körper mit Gehirn), die in der Lage sind, die an die materiellen Strukturen gebundene Kombinatorik neuer Lebensformen über die Neuronennetze zu dynamisieren, zu beschleunigen, zu flexibilisieren. Mit der Kombinatorik des neuronalen Denkens konnte die biologische Evolution der Entwicklung neuer, leistungsfähigerer Lebensformen einen gewaltigen Schub im einzelnen Organismus verleihen; durch die Möglichkeit symbolischer Kombination können sich die neurologisch erzeugbaren neuen Denkräume zusätzlich direkt miteinander verschränken und die Entwicklung neuer Lebensformen in bis dahin ungeahnte Dimensionen katapultieren.
39. Doch zurück zur vorliegenden Interpretationsaufgabe.

GENUS – SPEZIES

40. Bislang haben wir ansatzweise eine Rekonstruktion des Konzeptes von ‚Kategorien‘ als Meta-Klassifikationen im Bereich der dynamischen Objekthierarchie.
41. Unklar, da widersprüchlich, bleibt bei Avicenna die Verwendung der Begriffe ‚Genus‘ und Spezies‘. Eine erste, einfache, und nachvollziehbare Interpretation wäre die, jedes Objekt als ein ‚Genus‘ zu bezeichnen, das ‚Instanzen‘ besitzt, denen ‚differenzierende‘ Eigenschaften zukommen (wie auch die verschiedenen Genus-Objekte sich voneinander durch Eigenschaften unterscheiden). ‚Spezies‘ wären dann jene voneinander abgrenzbaren Instanzen (vgl. auch Carl von Linné (1707 – 1778), sein Werk ‚Systema Naturae‘), die einem Genus ‚untergeordnet‘ wären. Allerdings kommen die Begriffe ‚Genus‘ und ‚Spezies‘ im Text mehrfach in Verwendungen vor (z.B. auch als ‚Spezies der Spezies‘), die sich – aus meiner Sicht – einer schlüssigen Interpretation entziehen.

ALLGEMEINE UND SPEZIELLE AKZIDENZ

42. Mit den Begriffen ‚allgemeine‘ und ’speziellen‘ Akzidenzien verhält es sich ähnlich: es gäbe eine einfache, nachvollziehbare Interpretation, aber diese deckt nicht alle Verwendungsweisen dieser Begriffe ab.
43. Ausgangspunkt sind ja nicht-zusammengesetzte Ausdrücke mit einer universellen Bedeutung, bei der zwischen ‚wesentlichen‘ und ‚akzidentellen‘ unterschieden wurde. Die ‚akzidentellen universellen Begriffe wurden zuvor schon als ‚unechte Objekte‘ rekonstruiert, die niemals isoliert auftreten können, sondern immer nur als Teile von echten (wesentlichen universellen) Objekten. Insofern sind sie ‚akzidentell‘ und eine informelle abkürzende Redeweise könnte sie als ‚Akzidentien‘ bezeichnen, verstanden als Eigenschaften, die bei einem Objekt auftreten können, aber nicht müssen.
44. Wäre zu klären, was ‚allgemeine‘ von ’speziellen‘ Akzidenzien unterscheidet. Hier nochmals die Beispiele aus dem Text, wonach ‚fest‘ (engl.: ’solid‘) allgemeiner sei als ‚Lebewesen‘, aber spezieller als ‚Substanz‘; entsprechend dass ‚Zahl‘ allgemeiner sei als ‚gleich‘ (engl.: ‚even‘), aber spezieller als ‚Quantität‘, und schließlich dass ‚Gleichheit (engl.: ‚eveness‘) allgemeiner sei als ‚vier‘, doch spezieller als ‚Quantität‘.
45. Die Eigenschaft ‚fest‘ ist nach bisheriger Rekonstruktion klar ein unechtes Objekt, d.h. eine akzidentelle Eigenschaft, die als Teil von echten Objekten auftreten kann. Zu sagen, dass diese akzidentelle Eigenschaft allgemeiner sei als ‚Lebewesen‘, aber spezieller als ‚Substanz‘, macht nicht unbedingt Sinn, genauso wenig wie es Sinn machen würde, Hühner mit Grashalmen zu vergleichen. Es sei denn, es gäbe einen ‚übergreifenden Aspekt‘, auf den sich beide, die Hühner und die Grashalme, beziehen lassen würden.
46. Ich kann in diesem Zusammenhang keinen solchen übergreifenden Gesichtspunkt erkennen. Bestimmte akzidentelle Eigenschaften können bei Objekten auf verschiedenen Stufen der Objekthierarchie auftreten. Hier ein Beziehungsgeflecht zwischen den Eigenschaften konstruieren zu wollen überzeugt mich nicht.

ALLGEMEINE EINSCHÄTZUNG

47. Schon an dieser Stelle der Relektüre von Avicennas Logik deutet es sich an, dass Avicenna viele seiner technischen Begriffe nur unzulänglich erklärt und voneinander abgrenzt. Ein Grund dafür kann sein, dass er die das Konzept der Objekterstehung und der Objekthierarchie als Gegenpol zu den Ausdrücken offenbar nicht als eigenständiges System systematisch entwickelt. In anderen Interpretationsprojekten (z.B. bei Nicolai Hartmann) musste ich die Rekonstruktion irgendwann einfach abbrechen, da der Text in sich irgendwann so widersprüchlich war, dass ein sinnvolles Weiterlesen nicht mehr möglich erschien.

Fortsetzung folgt …

QUELLEN

  • Avicenna, ‚Avicennas Treatise on Logic‘. Part One of ‚Danesh-Name Alai‘ (A Concise Philosophical Encyclopedia) and Autobiography, edited and translated by Farang Zabeeh, The Hague (Netherlands): Martinus Nijhoff, 1971. Diese Übersetzung basiert auf dem Buch ‚Treatise of Logic‘, veröffentlicht von der Gesellschaft für Nationale Monumente, Serie12, Teheran, 1952, herausgegeben von M.Moien. Diese Ausgabe wiederum geht zurück auf eine frühere Ausgabe, herausgegeben von Khurasani.
  • Digital Averroes Research Environment
  • Stanford Encyclopedia of Philosophy, Aristotle’s Logic
  • Whitehead, Alfred North, and Bertrand Russell, Principia Mathematica, 3 vols, Cambridge University Press, 1910, 1912, and 1913; Second edition, 1925 (Vol. 1), 1927 (Vols 2, 3). Abridged as Principia Mathematica to *56, Cambridge University Press, 1962.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume One. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-182-3.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume Two. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-183-0.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume Three. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-184-7

Eine Übersicht über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 4

VORGESCHICHTE

1. In einem ersten Beitrag AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 1 hatte ich geschildert, wie ich zur Lektüre des Textes von Avicenna gekommen bin und wie der Text grob einzuordnen ist.
2. In einem zweiten Beitrag AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 2 ging es um die Frage, warum überhaupt Logik? Avicenna führt erste Unterscheidungen zu verschiedenen Wissensformen ein, lässt aber alle Detailfragen noch weitgehend im Dunkeln.
3. Im Teil AVICENNAS ABHANDLUNG ZUR LOGIK – Teil 3 ging es um einfache und zusammengesetzte Begriffe, und bei den einfachen Begriffen um ‚individuelle‘ und ‚universelle‘. Schon hier zeigt sich der fundamentale Unterschied zwischen der antiken und der modernen-formalen Logik. In der antiken Logik wird die Ausdrucksebene E – und einer sich daran manifestierenden Folgerungslogik – immer in Verbindung mit einer zugehörigen Bedeutungsstruktur gesehen, die sich an einer Objektstruktur O festmacht. Die moderne formale Logik kennt zwar auch ‚Semantiken‘ und ‚Ontologien‘, diese sind aber ’sekundär‘, d.h. es werden nur solche ‚formalen Semantiken‘ betrachtet, die zum vorausgesetzten syntaktischen Folgerungsbegriff ‚passen‘. Dies sollte dann später an konkreten Beispielen diskutiert werden. Hier liegt der Fokus auf der antiken Logik im Sinne Avicennas.

WESENTLICHE UND NICHT-WESENTLICH (AKZIDENTIELL, KONTINGENT…)

4. Im nächsten Abschnitt knüpft Avicenna an den zuvor eingeführten Begriff des ‚universellen‘ Begriffs an, das sind jene, die zwar eine Bedeutung haben, diese Bedeutung kann aber verschiedene konkreten ‚Instanzen‘, ‚Realisierungen‘, ‚Beispiele‘ umfassen (also: der Ausdruck ‚Tasse‘ kann sich auf viele verschiedene konkrete Tassenobjekte beziehen).
5. Er betrachtet jetzt solche als ‚universell‘ bezeichneten Ausdrücke in einem Ausdruckskontext von aufeinanderfolgenden Ausdrücken mit den folgende Kombinationen von Ausdrücken (hier in deutscher Übersetzung): (i) ‚Der Mensch ist ein Lebewesen‘, (ii) ‚Vier ist eine Zahl‘, (iii) ‚Der Mensch existiert‘, (iv) ‚Zahlen existieren‘, (v) ‚Der Mensch ist weiß‘, (vi) ‚Der Mensch ist nicht weiß‘, (vii) ‚Der Mensch lacht‘, (viii) ‚Zid sitzt‘, (ix) ‚Zid schläft‘, (x) ‚Zid ist alt‘, (xi) ‚Zid ist jung‘.
6. Alle diese Ausdrücke könnte man im Sinne der antiken Logik auch als ‚Urteile‘ bezeichnen, durch die einem bestimmten Ausdruck durch andere Ausdrücke bestimmte Bedeutungen (Eigenschaften) zu- oder abgesprochen werden (z.B. wird in (v) dem Objekt (der Mensch) die Eigenschaft (weiß) zugesprochen).
7. Er nimmt folgende interessante Unterscheidung vor: (i) er betrachtet sowohl ‚universelle‘ Ausdrücke wie ‚Mensch‘, ‚Zahl‘, ‚Lebewesen‘, Vier‘ und einen ‚individuellen‘ Ausdruck wie ‚Zid‘ als Bezeichnung eines konkreten Objektes, das als Instanz eines ‚Menschen‘ genommen wird, und (ii) sagt dann, dass die Bedeutung (‚meaning‘) dieser Ausdrücke sich aus dem ‚Wesen‘ des Objektes ergibt. D.h. dasjenige, was wir aufgrund unserer sinnlichen Wahrnehmung in Verbindung mit unseren Denkprinzipien als Objekt ‚Mensch‘ oder ‚Vier‘ oder ‚Zahl‘ oder ‚Zid‘ abstrahierend erkennen können, das ergibt sich nicht einfach so, nicht zufällig, nicht kontingent, nicht akzidentiell, sondern dies ergibt sich aus dem ‚Wesen‘ des Objektes, und zwar notwendig, zwingend, eben ‚essentiell‘, ‚wesenhaft‘.
8. In der Ausdrucksfolge (Der Mensch) (ist) (weiß) wird eine Beziehung zwischen der Bedeutung des Ausdrucks (der Mensch) und (weiß) durch Verwendung des Ausdrucks (ist) hergestellt. In der ’normalen Verwendung‘ bedeutet dies, dass die Bedeutung von (weiß) der Bedeutung von (der Mensch) zugesprochen wird.
9. Doch aus der Kenntnis der Bedeutung des Ausdrucks (der Mensch) folgt nach Avicenna nicht notwendigerweise die Kenntnis der Bedeutung des Ausdrucks (weiß) als Teil von (der Mensch). Die Begründung von Avicenna: zum ‚Wesen‘ des Menschen gehört es nicht, dass er ‚weiß‘ ist; er kann ‚weiß‘ sein, aber er muss nicht.
10. Das ist die entscheidende Argumentationsfigur: charakteristisch für ‚wesentliche‘ Ausdrücke ist es, dass deren Bedeutung sich auf Objekte bezieht, denen aufgrund ihres ‚Wesens‘ bestimmte Eigenschaften notwendig zukommen, andere aber nicht.
11. Doch lassen die Sätze von Avicenna noch eine weitere Deutung zu. Im Fall von ‚universellen‘ Ausdrücken unterscheidet er ja die universelle (eine) Bedeutung von den möglichen ‚Instanzen‘ (in der englischen Übersetzung wird ‚Instanz‘ als ein ‚particular‘ bezeichnet). Die Frage ist, ob und inwieweit sich die Eigenschaften der universellen Bedeutung auf die Instanzen überträgt.
12. Hier benutzt Avicenna zwei Gedanken: (i) Er sagt, dass die ‚Existenz‘ der universellen Bedeutung die Voraussetzung (‚prerequisite‘) für die ‚Existenz‘ der besonderen Bedeutung ist und (ii) dass die besondere Bedeutung aus der universellen Bedeutung folgt.
13. Also, wenn der Ausdruck (der Mensch) (ist) (ein Lebewesen) Sinn machen soll, dann muss die allgemeine Bedeutung von ‚Lebewesen‘ gegeben sein und es muss klar sein, dass ‚Mensch‘ eine Instanz (in der englischen Übersetzung ein ‚particular‘) von der allgemeinen (wesentlichen) Bedeutung ‚Lebewesen‘ ist; entsprechend setzt der Name ‚Zid‘ die Existenz der allgemeinen Bedeutung von ‚Mensch‘ voraus.
14. Interessant ist noch das Detail, dass Avicenna die ‚Seele‘ als wesentlich zur Bedeutung von ‚Mensch‘ gehörig ansieht. Bedenkt man, wie schwierig (bis unmöglich?) es ist, die Bedeutung von ‚Seele‘ zu klären, kann es zumindest verwundern, wie apodiktisch er behaupten kann, dass die ‚Seele‘ eine wesentliche Eigenschaft der Bedeutung (und damit des Objektes) ‚Mensch‘ sei.

DISKUSSION

15. Mit diesem Abschnitt über ‚wesentliche‘ und ’nicht wesentliche‘ gleich ‚akzidentiellen‘ / ‚kontingenten‘ / ‚arbiträren‘ Eigenschaften eines Bedeutungsobjektes O sind wir schon in den tiefsten Abgründen einer Ontologie bzw. einer Metaphysik gelandet.
16. Dazu muss man sich nochmals bewusst machen, dass die Ausdrücke E (die selbst sinnliche Muster der Wahrnehmung sind und die auch Abstraktionsprozessen unterliegen; man denke nur an die ‚type’/ ‚token‘ Unterscheidung der Linguisten) in Beziehung gesetzt werden zu Bedeutungselementen, die gegeben sind als aus der sinnlichen Wahrnehmung $latex K_{s}$ abstrahierte Objekte O, die in verschiedenen Abstraktionsstufen organisiert sind. Alle (!) diese Objekte setzen Wahrnehmungsprozesse voraus, die mit einer elementaren Form von Lernen verknüpft sind.
17. Wenn also ein Mensch A zu einem bestimmten Zeitpunkt t durch seine individuellen Lernprozesse in einer bestimmten Sprachgemeinschaft mit Sprache L ‚gelernt‘ hat, dass ein Ausdruck e sich mit bestimmten – aus der Wahrnehmung gewonnenen – Objekten O verbindet – als m(o,e) –, dann kann man folgende Unterscheidung treffen: (i) sofern sich diese Wahrnehmungsobjekte O auf Eigenschaften der umgebenden Welt W beziehen, die im Zeitraum des Lernens von Mensch A mehr oder weniger ‚konstant‘ / ‚unveränderlich‘ waren, dann ‚existiert‘ die ‚erlernte Bedeutung‘ O für den Menschen A und die gelernten Bestandteile von O sind für diesen Menschen A ‚wesentlich‘; ebenso für alle anderen Menschen, die mit diesem Aspekt der umgebenden Welt W in Berührung gekommen sind. Wenn (ii) die gelernten Eigenschaften O der umgebenden Welt aber ‚variabel‘ sind, mal so und mal so, also akzidentiell/ kontingent/ arbiträr, dann ‚kennt‘ der lernende Mensch A zwar diese möglichen Bedeutungen O‘, sie aber mit einem anderen Objekt O in Verbindung zu bringen, ist nicht notwendig, ist nicht zwingend, sondern muss sich aus der aktuellen kontingenten Situation ‚ergeben‘. Wenn üblicherweise ein Mensch nicht weiß ist (weil alle anderen in der Umgebung schwarz sind), dann wäre das Ereignis, dass ein Mensch auftritt, der weiß ist, ein ‚interessantes‘ Ereignis, das zu berichten lohnen würde.
18. Ein Mensch B mit einer anderen Sprache L‘ wird die Ausdrücke der Sprache L von Mensch A zunächst nicht verstehen (z.B. sei L= Arabisch und L’=Hebräisch). Wenn aber der Mensch A sich auf einen Aspekt X der umgebenden Welt W bezieht, den auch der Mensch B wahrnehmen kann, dann haben A und B die leise Chance, aufgrund der gemeinsamen Kenntnisnahme von X die hinreichend ‚gleichen Wahrnehmungen O(X)‘ zu haben, und dann kann B eventuell ‚begreifen‘, dass der arabische Ausdruck von A sich auf dieses gemeinsam wahrnehmbare O(X) bezieht, und er dann aufgrund seiner Kenntnis des L’=Hebräischen weiß, wie er den L= arabischen Ausdruck für O(X) im Hebräischen wiedergeben würde.
19. Wichtig ist hier, dass die ‚Existenz‘ einer Bedeutung O(X) generell von ‚existierenden Eigenschaften X in der umgebenden Welt W‘ abhängt UND (!!!) von den daran anknüpfenden Wahrnehmungsprozessen, die – stimuliert von X – zu den entsprechenden Bedeutungsobjekten O(X) führen. Existieren in diesem Sinne Bedeutungen O(X), dann kann man von ihren Eigenschaften sagen, dass sie ‚wesentlich‘ sind, wenn sie ’normalerweise immer‘ so vorkommen.
20. Solange man sich der sinnlichen Herkunft aller Bedeutungen bewusst ist, solange hat man auch keine Probleme damit, dass ‚Menschen‘ aufgrund ihrer genetischen Basis im Laufe der Zeiten zu ganz unterschiedlichen Erscheinungsweisen kommen können: verschiedene Hautfarben, verschiedene Körperformen, verschiedene Deformationen (keine Arme, verkrüppelte Beine, anders geformte Köpfe, …), unterschiedliche Intelligenzen, usw. Heute zusätzlich erweitert durch medizinische Operationen, Schönheitsoperationen, allerlei Prothesen und Implantate. Dass der Begriff ‚Mensch‘ vor diesem Hintergrund unterschiedliche Bedeutungen O aufgrund unterschiedlicher Gegebenheiten X in der Welt annehmen kann, sollte dann kein Problem sein.
21. Schwieriger wird es, wenn man – was in der Vergangenheit ständig geschah – glaubte, aus den empirisch gewonnenen Bedeutungen O(X) auf ‚allgemeine Strukturen‘ schließen zu können, die ‚hinter‘ den empirischen Eigenschaften in dem Sinne liegen, dass sie den empirischen Ereignissen ‚zeitlich und logisch vorausgehen‘. In diesen Zusammenhang gehört der populäre Geist-Materie-Dualismus, nach dem die materiellen Erscheinungen ‚Ausfluss‘ geistiger Strukturen sind, die als solche die ‚wesentlichen‘ Eigenschaften repräsentieren.
22. Psychologisch sind solche Denkfiguren verständlich, da sich die Antike auch die Frage gestellt hat, wie die vielfältigen empirischen Formen der umgebenden Welt trotz allem nicht ganz arbiträr sind, sondern offensichtlich gewissen ‚Regeln‘ / ‚Gesetzen‘ folgen. In Unkenntnis der modernen Physik und Biologie konnte man nur sehr allgemeine Annahmen machen, meist sehr statische. Heute beginnen wir zu verstehen, dass die Vielfalt der Formen auf spezifische Erzeugungsprozesse zurückgehen, die wiederum allgemeinen Gesetzen folgen. Diese Gesetze erlauben in der Umsetzung viel Variabilität, so dass Vielfalt und Regelhaftigkeit keinen Widerspruch darstellen.
23. Die Kernaussagen von Avicenna zu der Begriffslogik bis zu dieser Stelle kann man aber wohl aufrecht erhalten. Erst wenn man aufgrund von Erfahrungen anlässlich X Bedeutungen O(X) ausbilden konnte kann man mit diesen Bedeutungen Urteile der Art bilden ‚Etwas X existiert‘ oder ‚Ein Etwas X ist ein Etwas Y‘.
24. Wichtig ist hier aber, zu sehen, dass das ‚Denknotwendige‘ der Alltagslogik sich nicht aus den Ausdrücken E als solchen ergibt, sondern aus den Eigenschaften der mit den Ausdrücken verknüpften Bedeutungen O(X).
25. Bislang wurde hier nur angenommen, dass die Bedeutungsobjekte O ‚Hierarchien‘ bilden können. Dies erklärt, wieso eine Bedeutung ‚universell‘ sein kann im Sinne von Allgemeinbegriff – Instanzen. Im Fall von (Zid) (ist) (ein Mensch) wäre ‚Zid‘ eine Instanz von Mensch; oder im Fall von (Der Mensch) (ist) (ein Lebewesen) wäre (der Mensch) eine Instanz von (Lebewesen). Entsprechend wäre (Zid) (schläft) ein Urteil, in dem von Zid (als Instanz von Mensch) gesagt würde, er habe die Eigenschaft zu schlafen. Sofern man ’schlafen‘ als ‚typisch‘ für Menschen ansehen würde, wäre dies eine ‚wesentliche‘ Aussage, da es normalerweise so ist. Würde man sagen, der Mensch schläft nur gelegentlich, dann wäre es eine akzidentelle/ kontingente Eigenschaft, eben nicht wesentlich.
26. Diese Beispiele mit (ist)(weiß), (schläft), (sitzt) legen den Schluss nahe, dass die Bedeutung O(X) nicht nur ein gleichförmiges Etwas ist, sondern aus einer Menge von ‚unterscheidbaren Eigenschaften‘ [PROP] bestehen kann.
27. Daraus würde folgen, das z.B. die Instanz ‚Zid‘ und die Instanz ‚Hans‘ von der Bedeutung ‚Mensch‘ jeweils bestimmte Eigenschaften PROP_Hans und PROP_Zid aufweisen, die so sind, dass der Oberbegriff ‚Mensch‘ solche Eigenschaften PRP_Mensch aufweist, die sowohl Zid und Hans gemeinsamen haben; Zid und Hans können aber auch Eigenschaften aufweisen, die sie voneinander unterscheiden und die nicht in im universellen Begriff ‚Mensch‘ vorkommen.
28. Also $latex PROP_{Mensch} = PROP_{Zid} \cap PROP_{Hans}$ würde sowohl die Menge der gemeinsamen Eigenschaften der beiden Instanzen ‚Zid‘ und ‚Hans‘ bezeichnen als auch die Verbindung zwischen dem universellem Begriff und seinen Instanzen herstellen.
29. Stellt sich noch die Frage, was denn dann die ‚Eigenschaften‘ sind? Setzen wir den bisherigen Zusammenhang voraus, dann haben wir die Annahme einer umgebenden Welt W mit ‚Welteigenschaften‘ X und einen Menschen als ein System, das mittels seiner Sinnesorgane eine Wahrnehmung (‚perception‘) als Abbildung von bestimmten dieser Welteigenschaften X auf innere sensorische Muster $latex K_{s}$ realisieren kann ($latex perc: X \longrightarrow K_{s}$). Aus diesen Mustern $latex K_{s}$ lassen sich dann mittels Abstraktion unterschiedlichste Objekte O generieren ($latex \alpha: K_{s} \cup K_{p} \longrightarrow O$) (unterstellt, dass dabei implizite Denkprinzipien $latex K_{p}$ nach Avicenna mitwirken können (was nahezu alle Philosophen ähnlich angenommen haben)). Aus diesen Annahmen ergibt sich, dass jedwede Eigenschaft auch solch ein abstrahiertes Objekt aufgrund von Sinneseindrücken sein muss.
30. Fragt sich dann, ob sich Objekte und Eigenschaften von Objekten unterscheiden, und wie?
31. Intuitiv würde man sagen: Ja. Aber wie genau?
32. Hier könnte man Avicennas Begriffe ‚universell‘ und ‚wesentlich‘ bemühen: ein ‚echtes‘ Objekt umfasst andere Objekte (als Eigenschaften), die ihm ‚wesentlich‘ zukommen, d.h. ’normalerweise‘, ‚regelhaft‘; ein ‚unechtes‘ Objekt ist ein solches, das zwar als ‚Teil von einem echten Objekt‘ auftreten kann, normalerweise aber nicht alleine vorkommt. So wäre eine ‚Rose‘ tendenziell ein ‚echtes Objekt‘, da es mit bestimmten Eigenschaften ’normalerweise‘ auftritt, ‚Rot‘ wäre aber ein ‚unechtes‘ Objekt, da ‚Rot‘ normalerweise nicht isoliert auftritt sondern nur in Verbindung mit anderen Objekten; z.B. kann das Objekt ‚Rose‘ das Objekt ‚Rot‘ als Eigenschaft – also als unechtes Objekt – enthalten.
33. Die Unterscheidung von (echtem) Objekt und (unechtem) Objekt (als Eigenschaft) hängt damit von der ‚gelernten‘ Bedeutung ab: was tritt wann wie oft und welcher Konstellation auf.
34. ‚Wesentlich‘ wird hier interpretiert als ‚regelmäßige Erscheinung‘ (normal), und ’nicht wesentlich‘ bzw. kontingent bzw. akzidentell wird hier interpretiert als ’nicht regelmäßig‘, ’nicht normal‘, ‚gelegentlich‘, ‚zufällig‘ auftretend.

Fortsetzung folgt …

QUELLEN

  • Avicenna, ‚Avicennas Treatise on Logic‘. Part One of ‚Danesh-Name Alai‘ (A Concise Philosophical Encyclopedia) and Autobiography, edited and translated by Farang Zabeeh, The Hague (Netherlands): Martinus Nijhoff, 1971. Diese Übersetzung basiert auf dem Buch ‚Treatise of Logic‘, veröffentlicht von der Gesellschaft für Nationale Monumente, Serie12, Teheran, 1952, herausgegeben von M.Moien. Diese Ausgabe wiederum geht zurück auf eine frühere Ausgabe, herausgegeben von Khurasani.
  • Digital Averroes Research Environment
  • Stanford Encyclopedia of Philosophy, Aristotle’s Logic
  • Whitehead, Alfred North, and Bertrand Russell, Principia Mathematica, 3 vols, Cambridge University Press, 1910, 1912, and 1913; Second edition, 1925 (Vol. 1), 1927 (Vols 2, 3). Abridged as Principia Mathematica to *56, Cambridge University Press, 1962.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume One. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-182-3.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume Two. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-183-0.
  • Alfred North Whitehead; Bertrand Russell (February 2009). Principia Mathematica. Volume Three. Merchant Books. ISBN 978-1-60386-184-7

Eine Übersicht über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

WIEDER TRITT FINDEN – Nach einer längeren Pause – WAHRHEIT DEMOKRATIE RELIGIONen

SCHREIBSTILLSTAND

1. Bedingt durch Urlaub und einer vorausgehenden absoluten Stresszeit kam mein Schreiben zum Erliegen – auch gewollt. Ab und zu braucht man Pausen, reale Pausen. Dies bedeutet nicht, dass das Denken aufhört, aber doch zumindest so viel, dass man sich nicht bei jedem Gedanken die Frage stellen muss, ob und wie man dies in einen beschreibbaren Zusammenhang einordnen kann/ sollte.
2. Natürlich rührt dies auch an Grundsätzliches – wie immer – ‚Warum überhaupt schreiben’… das Thema vom allerersten Blogeintrag.

VERSTEHEN WOLLEN

3. Wie auch schon damals entspringt die Antwort nicht aus rein objektiven Gegebenheiten sondern aus der subjektiven Situation, des Verstehen Wollens; die Welt verstehen, sich selbst, die anderen, überhaupt einfach verstehen, und dann vielleicht sogar ein Handeln, das sich davon inspirieren lässt.
4. Und in diesem Prozess des Verstehen Wollens gibt es keinen absoluten Punkt der allerletzten Klarheit, wann etwas vollständig oder wann etwas nur partiell verstanden ist. ‚Verstehen Wollen‘ hat keinen klaren Anfang und kein klares Ende. Es ist ein realer, konkreter Prozess von Lesen, Nachdenken, Reden, Schreiben, Hören, Träumen, Nichtstun, … währenddessen ‚Bilder‘ entstehen, die ‚Zusammenhänge‘ sichtbar machen, von denen man zuvor nichts gewusst hat, die man oft nicht einmal geahnt hat. In gewisser Weise erzeugt erst die ‚gedankliche Bewegung‘ die gedanklichen Zustände des ‚Erkennens‘. Und dies ist das ‚Gefährliche‘ in zweierlei Sinne: ‚gefährlich‘, weil man ‚vor‘ der Bewegung nicht weiß und nicht wissen kann, ob und was man erkennen wird, und gefährlich, weil man sich vorab irgendwelchen Vermutungen, Hoffnungen oder Ängsten hingeben kann, die einen entweder daran hindern, überhaupt das Nachdenken zu beginnen oder einen von vornherein auf eine bestimmte Einschätzung fixieren, die einem im Folgenden mindestens das Nachdenken schwer macht, wenn nicht ganz blockiert.

ERSCHEINT UNÜBERWINDLICH

5. In den letzten Wochen habe ich so viele sehr spannende und provozierenden und anregende Inhalte/ Themen kennen gelernt – ohne dies schreibend zu verarbeiten –, dass dies alles jetzt wie ein riesiger, unüberwindlicher Berg erscheint, der einem jeden Mut nimmt, ihn zu besteigen, sprich: überhaupt wieder zu schreiben; denn, egal wo man anfängt, es hängt da dieses Gefühl im Raum, es ist doch von vornherein vergeblich, sinnlos, unmöglich, diesem Wirrwarr an komplexen Ideen irgendeine Struktur abzugewinnen.

DAS ZUNÄCHST UNWIRKLICH IST DAS EINZIG WIRKLICHE

6. Dies führt zu einem sehr grundsätzlichen Problem, dass mich seit spätestens Frühjahr 2013 immer mehr beschäftigt, und auf das ich noch keine abschließenden Antworten habe: (i) Das, was wir primär als Daten/ Fakten ‚wahrnehmen‘, der Stoff, aus dem unsere ‚Realität‘ gemacht ist, enthält als solches eigentlich nahezu keine Wahrheiten oder Erkenntnisse. Diese (ii) ‚werden erst sichtbar‘, wenn man das sich Ereignende auf der ‚Zeitlinie‘ (mit Hilfe des Gedächtnisses) im zeitlichen (und räumlichen) Kontext sieht, wenn man Häufigkeiten, Wiederholungen, Zusammenhänge ‚bemerken‘ kann, wenn man ‚Einzeldinge‘ als ‚Beispiele‘ (Instanzen) von allgemeinen Mustern (Objekten) erkennen kann, wenn sich aus solchen Zusammenhängen und Mustern weitere allgemeine ‚Strukturen‘ ‚erkennen lassen‘, … kurzum: die einzig ‚wirklichen‘ und ‚wahrheitsfähigen‘ Erkenntnisse finden sich nicht schon in den primären Ereignissen des Alltags, sondern erst und einzig in dem ‚verarbeitenden Denken‘, in den Aktivitäten der individuellen Gehirne, soweit diese in der Lage sind, solche allgemeinen Muster zu erzeugen und damit weiter zu arbeiten.

KLASSISCHE PHILOSOPHIE

7. In der klassischen Philosophie waren dies z.B. Themen der Erkenntnistheorie, der Logik, der Naturbetrachtungen, der Metaphysik/ Ontologie. Hier hat man versucht, das eigene Denken zu ‚belauschen‘ und aus diesen Betrachtungen das ‚Wesentliche‘ vom ‚Unwesentlichen‘ zu unterscheiden. Wirklich ‚große‘ Philosophen wie ein Aristoteles oder ein Avicenna (Ibn Sina) waren sich während ihres Untersuchens der realen Welt immer auch bewusst, dass es in allem Erkennen neben dem sinnlichen Anteil immer auch einen gedanklichen Anteil gibt, und dass es letztlich genau dieser ist, mit dem Erkennen überhaupt beginnt. Unter anderem Kant und Hegel hatten diese Thematik verschärft, aber, anstatt dass wir alle daraus soviel Klarheit ziehen konnten, dass das Denken und das ‚Denken über das Denken‘ immer ‚einfacher‘ würde, ist etwas ganz anderes passiert.

MODERNE LOGIK

8. Mit der Entwicklung der modernen formalen Logik (seit dem Ende des 19.Jahrhunderts) wurde die Logik aus dem allgemeinen Denken herausgelöst und zu einem abstrakten Formalismus weiterentwickelt, dessen Bezug zum konkreten, realen alltäglichen Denken nicht mehr gegeben ist. Zwar führte diese Herauslösung der modernen formalen Logik einerseits zu mehr Freiheiten (z.B. es gibt nicht mehr nur einen Folgerungsbegriff, sondern beliebig viele; es gibt nicht mehr nur ‚wahr’/’falsch‘, sondern unendliche viele Abstufungen von ‚wahr’/’falsch), aber diese Freiheit wurde damit erkauft, dass eine mögliche Beziehung zwischen einem bestimmten Logikkalkül und dem realen Denken in jedem einzelnen Fall erst mühsam hergestellt werden muss und es niemals ganz klar ist, ob und wie dies der Fall ist.

WITTGENSTEIN

9. Leicht zeitversetzt zur Entwicklung der modernen formalen führte Ludwig Wittgenstein im Anschluss an seinen ‚tractatus logico philosophicus‘ mit seinen philosophischen Untersuchungen das gesamte moderne Denken in eine noch größere Freiheit, indem er die scheinbare Unauflöslichkeit von Denken und Sprache als eine quasi kognitive Täuschung entlarvte und mittels zahlloser genialer Beispiele aufzeigte, dass die ‚Bedeutungsinhalte‘, die wir mit unserer Sprache zu transportieren ‚meinen‘, zunächst mal nur die ’subjektiv intendierten‘ Bedeutungsinhalte sind; ob das Gegenüber die ‚gleichen‘ Bedeutungsinhalte aktiviert, wenn wir sprechen, oder ganz andere, das lässt sich immer nur sehr bedingt – wenn überhaupt – feststellen. Auch hier wird die ‚Freiheit‘ damit erkauft, dass der Vollzug eines verstehenden Sprechens an Selbstverständlichkeit – und damit an Leichtigkeit – verliert (was die Feuilletons dieser Welt bislang kaum daran hindert, Wortgewitter über ihre Leser loszulassen, die weniger dem Leser dienen als vielmehr dem Wortruhm des jeweiligen Schreibers).

VEREINSAMTES ALLTAGSDENKEN

10. Diese Neubesinnung auf Logik und die Sprache haben der modernen Wissenschaft zwar entscheidende Voraussetzungen geliefert, um transparent und nachvollziehbar komplexe empirische Theorien zu entwickeln, aber das alltägliche Denken wurde damit quasi sich selbst überlassen. Das Alltagsdenken interessierte plötzlich niemanden mehr …. und wurde damit zum Spielball einer Vielzahl von Interessen, die alle eines gemeinsam haben: Wahrheit spielt nicht nur keine Rolle mehr, sie ist in keiner Weise erwünscht: je weniger klare Regeln umso mehr Freiheit für Manipulation und Verführung.

AUFKLÄRUNG RELIGIONSÜBERGREIFEND

11. In einem sehr bemerkenswerten Leserbrief in der FAZ vom 5.Aug.2014 S.6 macht Heinz Eimer darauf aufmerksam, dass die ‚Aufklärung‘, die zu moderner Wissenschaft und zu demokratischen Staatsbildungen geführt hat, ihre Heimat weder im Christentum noch in irgendeiner anderen Religion hat. Sie ist religionsübergreifend. Angesichts erstarkender fundamentalistischer Tendenzen in den Religionen muss sich ein Staat auf diese seine demokratischen Werte besinnen um sich gegenüber den verschiedenen ‚Vereinnahmungen von Wahrheit‘ konkret und aktiv in Position bringen.
12. Hans Michael Heinig, Professor für öffentliches Recht, Kirchenrecht und Staatskirchenrecht schlägt sich in der FAZ vom 4.Aug.2014 S.6 bei der Frage des Verhältnisses von Aufklärung und Religion zwar nicht auf eine bestimmte Seite, stellt aber fest, dass ‚religiöse Traditionen keinen demokratischen Eigenwert besitzen‘. Nun ja, daraus folgt mindestens, dass die aus der Aufklärung hervorgegangen Demokratien zu ihrer Wesensbestimmung keines Rückgriffs auf eine Religion bedürfen.
13. Und bei Betrachtung der historischen Umstände dürfte die Faktenlage hinreichend stark sein, um zu behaupten, dass Aufklärung und moderne Demokratien nur in schwierigsten Auseinandersetzungen gegen (!) die herrschenden Religionen (organisiert als Kirchen) entstanden sind und sich behaupten konnten. Erst durch sehr klare und massive Abgrenzungen von Religionen gegenüber der allgemeinen Gesellschaft ist Frieden eingekehrt, konnte Wissenschaft sich entfalten, gibt es minimale Menschenrechte.
14. Prof. Heinig diskutiert das Verhältnis von Staat und Religion – im Lichte seiner Profession verständlich – nur aus rechtlicher Sicht und sieht in rechtlicher Sicht in Deutschland die ‚Multikonfessionalität‘ grundsätzlich angelegt. Dass der Islam noch nicht die Gleichbehandlung erfährt wie die traditionellen christlichen Konfessionen führt er im Wesentlichen darauf zurück, dass die islamischen Konfessionen bislang noch nicht so einheitlich organisiert sind wie die christlichen Kirchen. Dies mag stimmen.

JURISTISCHES DENKEN IST ZU WENIG

15. Allerdings zeigt diese rechtliche Betrachtung auch die Grenzen genau solcher rechtlicher Betrachtungen. Juristisch geht es immer nur sehr bedingt um Wahrheit; primär zählt die politisch gesetzte Norm, deren Wirkungskraft zu klären und zu garantieren ist. Ob die politisch gesetzten Normen (Gesetze) ‚wahr‘ sind in einem übergreifenden Sinne, diese Frage kann und will sich das juristische Denken nicht stellen.

RELIGIONEN UND GEWALT

16. Will man aber das ‚Wesen‘ von Religionen und das ‚Wesen‘ moderner demokratischer Gesellschaften verstehen, dann reichen formal-juristische Überlegungen nicht aus; dann muss man sich schon an die ‚Wahrheitsfrage‘ heranwagen. Auf eine sehr spezielle Weise tut dies in einem bemerkenswerten Artikel in der FAZ vom 7.Aug.2014 (S.9) Friedrich Wilhelm Graf unter der Überschrift ‚Mord als Gottesdienst‘. Als emeritierter Professor für Systematische Theologie und Ethik arbeitet er heraus, dass Gewaltbereitschaft und Enthemmung ihren Ursprung genau im Zentrum dessen haben, was die verschiedenen Religionen als ‚Kern ihres Glaubens‘ ansehen.
17. Das Phänomen, dass aus religiösen Gemeinschaften heraus Enthemmungen entstehen können, die zu brutalsten Handlungen führen, ist nach Graf seit den Anfängen der Religionsgeschichte zu beobachten und betrifft alle Religionen ohne Ausnahme: Hinduisten, Buddhisten, Juden, Christen, Muslime, um nur die größten zu nennen.
18. Dort, wo Religionen sich zu Gewalttätigkeiten hinreißen lassen, findet man nach Graf die Aufteilung der Welt in die ’schlechte‘ Gegenwart und die ‚ideale‘ gottgewollte Welt. Aus dieser diagnostizierten Differenz ergibt sich ein religiös motivierter Handlungsdruck, der umso größer ist, als eine solche Differenz von den Gläubigen so behauptet wird. Besteht zusätzlich eine Identifizierung der religiös Handelnden mit der Absolutheit Gottes zustande, wie sie unterschiedlichen Ausmaß immer in Anspruch genommen wurde (bis hin zur Gleichsetzung von menschlichem Akteur und Weisheit und Willen Gottes), dann gewinnt die religiös motivierte Sicht der Welt und das darin gründende Handeln eine Absolutheit, die keinerlei korrigierende Kritik mehr zulässt.
19. Dass religiöse Deutungsmuster, die in Deutschland lange als überwunden galten, in der Gegenwart zu neuer Stärke wiederfinden können (z.B. die vielen sogenannte Glaubenskriege heute) hat – so Graf – auch damit zu tun, dass politische Akteure aller Couleur sich die alten religiösen Symbole, Vorstellungen und Handlungsmuster zu Nutze machen und sie vor ihren eigenen Karren spannen. Direkt zu sagen, dass man persönlich die Macht über Menschen und Regionen in Anspruch nehmen möchte ist weniger erfolgreich, als die Menschen glauben machen, dass es Gottes Wille sei, die anderen zu vertreiben oder zu töten um sich selbst dann in die Position der Macht zu begeben (so diente Religion in der Vergangenheit allerdings immer schon den verschiedenen Herrschern als probates Mittel, um die Loyalität gegenüber der Macht zu fördern).
20. Was allen diesen unterschiedlichen Spielarten religiös motivierter Gewalt gemeinsam ist, das ist nach Graf das völlige Fehlen einer ernsthaften Nachdenklichkeit, von Selbstreflexion, von kritischer Selbstbegrenzung. Stattdessen eine Ganzhingabe unter Inkaufnahme von Tot auf allen Seiten.
21. Abschließend stellt Graf fest, dass wir eigentlich nicht wissen, wie sich solcherart brutalisierte Frömmigkeit zivilisieren lässt.

DIE WAHRHEITSFRAGE BLEIBT NIEMANDEM ERSPART

22. Im Kontext der vorausgehenden Überlegungen legt sich die Frage nahe, inwieweit das neue gesellschaftliche Erstarken von religiösen Bewegungen neben großen sozialen und politischen Spannungen von vielen Regionen unserer Erde nicht auch damit zu tun hat, dass man im Kontext von Religionen (wie Graf auch deutlich feststellt) die ‚Wahrheitsfrage‘ anscheinend ‚tabuisiert‘. Wenn jemand kritische Fragen an eine konkrete Religiosität stellt, wird dies von den religiösen Vertretern überwiegend als Kritik an ‚Gott selbst‘ gedeutet anstatt als Kritik an der Art und Weise, wie bestimmte Menschen mit der Gottesfrage umgehen. Während Aufklärung, moderne Wissenschaft und moderne Demokratien die Möglichkeit eröffnet haben, die Frage nach Gott in ungeahnt neuer Weise, tiefer weitreichender, allgemeiner als je zuvor zu stellen, fürchten die traditionellen Formen von Religion offensichtlich um ihren Einfluss, um ihre Macht und wiegeln jegliche Form von kritischer Reflexion auf die Voraussetzungen von Glauben und Religion einfach ab. Obgleich ‚wahres Denken‘ eine der lautersten Weisen der Annäherung an ‚Gott‘ sein kann, wird ‚wahres Denken‘ im Umfeld von Religionen (ohne Ausnahme!) verbannt, unterbunden, verteufelt. Die europäischen Nationen müssen sich angesichts von islamischen Terrorgruppen zwar an die eigene Nase fassen mit Blick auf die kolonialistischen Greueltaten und konfessionellen Kriegen der Vergangenheit, aber heute, nachdem man mühsam gelernt hat, dass Wahrheit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Gesellschaft, Gottesglauben auch ganz anders aussehen kann und mit Blick auf eine nachhaltige Zukunft auch ganz anders aussehen muss, heute müssen die aufgeklärten Gesellschaften ihre einseitig zu Materialismus verkümmerte Aufklärung wieder neu beleben, ansonsten werden sie an ihrer eigenen Lüge zugrunde gehen. Jeder Augenblick ist eine Herausforderung für eine mögliche Zukunft; so oder so. Leben ist genau dieses: das ‚Gleichgewicht‘ immer wieder neu herstellen und auf immer höheren ‚Wahrheitsniveaus‘ neu finden; es kann keine dauerhafte Einfachheit geben. Genau das ist die schlimmste Form des Unglaubens.

Einen Überblick über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

DENKEINSTELLUNGEN: BEWUSST, EMPIRISCH, KÖRPER, GERHIRN, VERHALTEN …

Vom 'Bewusstsein' zu 'Modellen', die helfen, die Einzelphänomene zu deuten
Vom ‚Bewusstsein‘ zu ‚Modellen‘, die helfen, die Einzelphänomene zu deuten

1. Die Überlegungen zu den Begriffen ‚Bewusstsein/ Nichtbewusstsein‘ setzen indirekt voraus, dass wir in unserer ‚Bewusstheit‘, und darin in unserem ‚Denken‘, verschiedene ‚Einstellungen‘ unterscheiden können.

2. Ein klares Reden über diese verschiedenen Einstellungen ist schwierig, da es sich um Sachverhalte handelt, die sowohl ‚in‘ einer Person verortet sind als auch ‚immateriell‘ in dem Sinne sind, dass sie sich nicht direkt in der ‚Hardware‘ des Körper – sprich: nicht direkt in den Zellstrukturen – ausdrücken. Es handelt sich vielmehr um ‚Funktionen‘ dieser Hardware, um ‚funktionelle Eigenschaften‘, die im ‚Verhalten‘ von großen Zellverbänden ’sichtbar‘ werden, aber auch nicht unbedingt in einem ‚äußerlich beobachtbaren‘ Verhalten, sondern in der ‚Innenperspektive‘ des Gehirns, in jener Form, die wir ’subjektive Erfahrung‘ nennen, wir sprechen von ‚Bewusstsein‘ als der Gesamtheit dieser subjektiven (introspektiven) Erfahrungen. Diese subjektive Erfahrung repräsentiert das ‚funktionelle Verhalten‘ großer Zellverbände, ohne dass dieses Verhalten an den materiellen Eigenschaften der beteiligten Zellen direkt abgelesen werden könnte.

3. Alle die unterscheidbaren Ereignisse, die wir als ‚bewusste Ereignisse‘ unterscheiden können, nennen wir hier ‚Phänomene‘ [PH]. Man könnte daher auch sagen, dass das ‚Bewusstsein‘ [CONSC] gleichbedeutend ist mit der Menge dieser Phänomene, also CONSC = PH.

4. Man kann herausfinden (lernen), dass es eine bestimmte Teilmenge [PHe] der Phänomene [PH] gibt, die zwar subjektive Erlebnisse sind, aber mit etwas ‚korrelieren‘, was ‚außerhalb‘ des Bewusstseins zu existieren scheint, etwas, was auch andere ‚Bewusstseine‘ ‚ähnlich‘ wahrnehmen können, das, was wir ‚intersubjektiv‘ – oder im engeren Sinne ‚empirische‘ – nennen.Das Empirische lässt sich nicht direkt durch das eigene ‚Wollen‘ beeinflussen.

5. Eine Sonderstellung nehmen jene Phänomene ein, die mit dem korrelieren, was wir unseren ‚Körper‘ nennen. Diese sind sowohl empirisch wie auch subjektiv [PHb]. Im Gegensatz zu den ‚reinen empirischen‘ Phänomenen PHe lassen sich die Körperphänomene PHb begrenzt direkt durch das eigene ‚Wollen‘ beeinflussen.

6. Wendet man auf Körperobjekte in der unterstellten Außenwelt die Methoden der Anatomie und Physiologie an, dann kan man ein ‚Modell der Körperstrukturen‘ [BODY] erstellen.

7. Wendet man auf einen Teilaspekt der Außenweltkörper die Methoden der Gehirnwissenschaft an, dann kann man ‚Modelle des Gehirns‘ [NN, BRAIN] erstellen.

8. Wendet man auf das ‚Verhalten‘ der biologischen Außenweltkörper die Methoden der empirischen Psychologie (verhaltensbasierten Psychologie) an, dann kann man Modelle möglicher interner Verarbeitungsstrukturen‘ erstellen, z.B. bzgl. der verschiedenen Gedächtnisfunktionen.

9. Die Beziehung zwischen verhaltensbasierten funktionalen Modellen der Psychologie und den zellbasierten Modellen der Gehirnforschung ist zunächst unbestimmt. Eine wechselseitige Korrelation ist erstrebenswert (dies wären dann Modelle der ‚Neuropsychologie‘).

10. Liegen solche Modelle vor – egal, ob wirklich ‚zutreffend‘ oder ’nicht zutreffend‘ –, dann stehen diese dem bewussten Denken als ‚Orientierungsbilder‘ zur Verfügung, um die verschiedenen aktuellen Phänomene in solche ‚begrifflichen Zusammenhänge‘ einzuordnen und sie dadurch zu ‚deuten‘, zu ‚interpretieren‘.

11. Hier liegt natürlich eine gewisse ‚Selbstreferenz‘ vor: Um die Phänomene unseres Bewusstseins zu deuten, benutzen wir konzeptuelle Modelle (z.B. die funktionalen Modelle der Psychologie). Andererseits haben wir selbst diese konzeptuellen Modelle erstellt. M.a.W. wir selbst konstruieren Zusammenhänge, machen sie explizit, verleihen ihnen einen gewissen ‚deutenden‘, d.h. ’normativen‘, Status, und dann benutzen wir diese Modelle so, als ob sie die Wirklichkeit der unterstellten Außenwelt ‚angemessen repräsentieren‘.

12. Die Modelle selbst sind ’normalerweise‘ nicht vollständig bewusst; sie können aber aufgrund von Ereignissen anhand von ‚verbindenden Ähnlichkeiten‘ ‚aktiviert‘ werden, und zwar so, dass sie deutend wirksam sind. Mit Bezug auf das pschologische Modell würden wir sagen, dass diese Modelle im Langzeitgedächtnis (‚Long Term Memory‘, LTM) ‚gespeichert‘ sind und über sensorische Ereignisse wie auch durch Ereignisse im Kurzzeitgedächtnis ‚aktiviert‘ werden können. Die Neuropsychologie ist leider noch nicht weit genug, um uns hier entscheidend helfen zu können.

13. In der Nutzung von ‚Modellen‘ unterscheidet sich das ‚Alltgsdenken‘ vom ‚wissenschaftlichen‘ Denken nur graduell: im wissenschaftlichen Denken unterliegt der Gebrauch von Modellen und deren Bezug zur unterstellten Außenwelt Regeln der Transparenz, Wiederholbarkeit und Überprüfbarkeit.

14. Allerdings gibt es hier eine ‚historische Altlast‘, deren Aufarbeitung noch aussteht. Die moderne formale Logik (mit Frege, Russel-Whitehead als Bezugspunkt des fortschreitenden Beginns) hat durch die Trennung von ‚Form und Inhalt‘, die sich in der Logik seit Ariostoteles bis ins 19.Jahrhundert gefunden hatte, eine radikale Umwälzung vollzogen, sie hat es aber versäumt, dieses neue Konzept mit dem Alltagsdenken konstruktiv zu versöhnen. Die verschiedenen formalen Semantiken und Ontologien, die für verschiedenste Anlässe entwickelt wurden, bilden in keiner Weise einen ‚Ersatz‘ für den klassischen Bedeutungsinhalt, wie er im Kontext eines sprachlichen Denkens vorliegt. So sehr die aristotelische Logik durch ide unkritische Verknüpfung von Form und Inhalt Schwächen zeigte, so sehr hat die moderne formale Logik hier ein Defizit, das ihren Einsatz im Bereich sprachbasierten Denkens bislang eher einschränkt.

MUSIK

Es gab schon ein Instrumentalstück, aber es hatte so eine eigentümliche ‚Stimmung‘ … das regte mich an, es fortzusetzen mit dem Titel ‚Wenn aus dem Nichtbewusstsein Worte aufsteigen wie Sterne …‘. Ja, es passt zunm Thema. Wenn wir die Sache mit dem Nichtbewusstsein ernst nehmen, dann ist es eine Art von unfaßbarer ‚Dunkelheit‘, die zugleich ein Maximum an Licht bereit hält … es sind die Worte die aus diesem Dunkel-Nichts aufsteigen können wie Sterne… und sie können Licht bringen, nicht nur Hass oder Lüge. Es ist letztlich schwer zu begreifen, warum die einen mehr so, die anderen mehr so fühlen, denken, sprechen, handeln… Es ist sicher nicht so einfach, wie wir uns das oft so gerne zurecht rücken. Es gibt keine absoluten Mauern, keine absolute Dunkelheit, keine totales Ende … was tatsächlich da ist ist etwas ganz anderes, scheint mir …

Einen Überblick über alle bisherigen Blogeinträge nach Titeln findet sich HIER.

DONALD A.NORMAN, THINGS THAT MAKE US SMART – Teil 7, Epilog

Diesem Beitrag ging voraus Teil 6.

BISHER
(ohne kritische Anmerkungen)

In den vorausgehenden Teilen wurden bislang zwei Aspekte sichtbar: einmal die ‚Menschenvergessenheit‘ in der Entwicklung und Nutzung von Technologie sowie die Einbeziehung von ‚wissensunterstützenden Dingen‘ sowohl außerhalb des Körpers (physisch) wie auch im Denken selber (kognitiv). Ferner hatte Norman die Vielfalt des Denkens auf zwei ‚Arbeitsweisen‘ reduziert: die ‚erfahrungsorientierte‘ Vorgehensweise, ohne explizite Reflexion (die aber über ‚Training‘ implizit in die Erfahrung eingegangen sein kann), und die ‚reflektierende‘ Vorgehensweise. Er unterschied ferner grob zwischen dem Sammeln (‚accretion‘) von Fakten, einer ‚Abstimmung‘ (‚tuning‘) der verschiedenen Parameter für ein reibungsloses Laufen, Schreiben, Sprechen, usw., und einer Restrukturierung (‚restructuring‘) vorhandener begrifflicher Konzepte. Ferner sieht er in der ‚Motivation‘ einen wichtigen Faktor. Diese Faktoren können ergänzt werden um Artefakte, die Denkprozesse unterstützen. In diesem Zusammenhang führt Norman die Begriffe ‚Repräsentation‘ und ‚Abstraktion‘ ein, ergänzt um ‚Symbol‘ (nicht sauber unterschieden von ‚Zeichen‘) und ‚Interpreter‘. Mit Hilfe von Abstraktionen und Symbolen können Repräsentationen von Objekten realisiert werden, die eine deutliche Verstärkung der kognitiven Fähigkeiten darstellen. Allerdings, und dies ist ein oft übersehener Umstand, durch die Benutzung eines Artefaktes werden nicht die kognitiven Eigenschaften des Benutzers als solchen geändert, sondern – bestenfalls – sein Zugang zum Problem. Wenn in einem solchen Fall zwischen den wahrnehmbaren Eigenschaften eines Artefakts und den korrelierenden ‚Zuständen‘ des Problems ein Zusammenhang nur schwer bis gar nicht erkennbar werden kann, dann führt dies zu Unklarheiten, Belastungen und Fehlern. Norman wiederholt dann die Feststellung, dass die Art wie das menschliche Gehirn ‚denkt‘ und wie Computer oder die mathematische Logik Probleme behandeln, grundlegend verschieden ist. Im Prinzip sind es drei Bereiche, in denen sich das Besondere des Menschen zeigt: (i) der hochkomplexe Körper, (ii) das hochkomplexe Gehirn im Körper, (iii) die Interaktions- und Kooperationsmöglichkeiten, die soziale Strukturen, Kultur und Technologie ermöglichen. Die Komplexität des Gehirns ist so groß, dass im gesamten bekannten Universum nichts Vergleichbares existiert. Mit Bezugnahme auf Mervin Donald (1991) macht Norman darauf aufmerksam dass die auffälligen Eigenschaften des Menschen auch einen entsprechenden evolutionären Entwicklungsprozess voraussetzen, innerhalb dessen sich die heutigen Eigenschaften schrittweise herausgebildet haben. Nach kurzen Bemerkungen zur Leistungsfähigkeit des Menschen, der schon mit wenig partiellen Informationen aufgrund seines Gedächtnisses übergreifende Zusammenhänge erkennen kann (was zugleich ein großes Fehlerrisiko birgt), legt Norman dann den Fokus auf die erstaunliche Fähigkeit des Menschen, mit großer Leichtigkeit komplexe Geschichten (’stories‘) erzeugen, erinnern, und verstehen zu können. Er erwähnt auch typische Fehler, die Menschen aufgrund ihrer kognitiven Struktur machen: Flüchtigkeitsfehler (’slips‘) und richtige Fehler (‚mistakes‘). Fehler erhöhen sich, wenn man nicht berücksichtigt, dass Menschen sich eher keine Details merken, sondern ‚wesentliche Sachverhalte‘ (’substance and meaning‘); wir können uns in der Regel nur auf eine einzige Sache konzentrieren, und hier nicht so sehr ‚kontinuierlich‘ sondern punktuell mit Blick auf stattfindende ‚Änderungen‘. Dementsprechend merken wir uns eher ‚Neuheiten‘ und weniger Wiederholungen von Bekanntem. Ein anderes typisches Fehlerverhalten ist die Fixierung auf eine bestimmte Hypothese. Am Beispiel von Flugzeugcockpits (Boeing vs. Airbus) und Leitständen großer technischer Anlagen illustriert Norman, wie eine durch die gemeinsam geteilte Situation gestützte Kommunikation alle Mitglieder eines Teams auf indirekte Verweise miteinander verbindet, sie kommunizieren und verstehen lässt. In einer simulierten Situation müsste man die impliziten Gesetze der realen Welt explizit programmieren. Das ist nicht nur sehr aufwendig, sondern entsprechend fehleranfällig. Ein anderes großes Thema ist das Problem, wie man Wissen so anordnen sollte, dass man dann, wenn man etwas Bestimmtes braucht, dieses auch findet. Es ist ein Wechselspiel zwischen den Anforderungen einer Aufgabe, der Struktur des menschlichen Gedächtnisses sowie der Struktur der Ablage von Wissen. Nach Norman ist es generell schwer bis unmöglich, die Zukunft vorauszusagen; zu viele Optionen stehen zur Verfügung. Andererseits brauchen wir Abschätzungen wahrscheinlicher Szenarien. Dazu präsentiert er zahlreiche Beispiele aus der Vergangenheit (Privater Hubschrauber, Atomenergie, Computer, Telephon), anhand deren das Versagen von Prognose illustriert wird. Der größte Schwachpunkt in allen Voraussagen ist immer der Bereich der sozialen Konsequenzen. Auffällig in den neuen Entwicklungen ist der Trend, den Menschen im Handeln durch künstliche Charaktere zu ersetzen. Weitere Themen sind ‚Neurointerface‘, kollaborativesArbeiten, Viel ‚Hype‘ um Visionen, wenig Erfolg in der tatsächlichen Realisierung.

WEICHE UND HARTE TECHNOLOGIE

1) Auf den Seiten 221-242 wiederholt Norman Themen, die er auch schon vorher angesprochen hat. Es geht um die Grundeinsicht, dass der Mensch typische Stärken und Schwächen hat, die zu den heute bekannten Fähigkeiten der Maschinen weitgehend komplementär sind (zusammengefasst in einer Tabelle auf S.224).(vgl. SS.221-224) Statt maschinenorientiert zu denken, indem man den Menschen an Maschinen anzupassen versucht und dadurch den Menschen in für Menschen ungünstige Situationen zu pressen (mit entsprechend großem Fehlerpotential), sollte wir eher versuchen, die Maschinen an die Menschen anzupassen. Im Grunde sind beide komplementär und Maschinen könnten den Menschen hervorragend ergänzen.(vgl. SS.224-227)
2) Er stellt dann nochmals gegenüber die Logik, die in den Maschinen zum Tragen kommt, und die Logik des menschlichen Gehirns, die sich vorwiegend in der Art und Weise äußert, wie wir sprechen, wie wir unsere Sprache benutzen.(vgl. SS.227-232). Er illustriert die Gegenüberstellung von ‚maschinenorientierter (harter)‘ zu ‚menschenorientierter (weicher)‘ Technologie an den Beispielen ‚Telephon‘, ‚Briefmarkenautomat‘ sowie einer wissensunterstützenden Software genannt ‚Rabbit‘. (vgl. SS.232-242)

TECHNIK IST NICHT NEUTRAL

3) Auch auf den Schlussseiten SS.243-253 wiederholt Norman nur Thesen, die er zuvor schon mehrfach besprochen hat. Zentral sind ihm die Themen, dass das Medium für ihn im Gegensatz zu Marshall McLuhan nicht die Botschaft ist, wenngleich das Medium durch seine Eigenschaften einen spezifischen Effekt haben kann.(vgl.S.243f)
4) Er verdeutlicht dies (wiederholt) an der Gegenüberstellung von ‚Text lesen‘ und ‚Fernsehen schauen‘. Letzteres ist passiv und lässt in der Regel keine Zeit zur Verarbeitung. Die enorme Fähigkeit des menschlichen Gehirns, Dinge auf unterschiedliche Weise zu verarbeiten und zu gewichten wird durch das Fernsehen neutralisiert und führt nach jahrelanger mehrstündiger Praxis täglich zu deutlich negativen Effekten.(vgl. SS.244-246)
5) Eine Behebung dieses Problems sieht er (wiederholt) in der Einbeziehung des menschlichen Denkens durch eine Einbettung von Fernsehen in einer interaktive Version, bei der die Darbietung jederzeit unterbrochen werden kann.(vgl. S.248f)
6) Seine Schlusszeile lautet: „Menschen schlagen vor, Wissenschaft untersucht, Technologie macht verfügbar (‚conforms‘)“.(S.253)

EPILOG

ZERFLEDDERT

7) Hat man sich durch das ganze Buch durchgekämpft, dann kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, dass die Gesamtheit der Themen nicht sehr streng systematisch organisiert worden sind. Viele Themen kommen immer wieder vor, mal mehr, mal weniger durchanalysiert. Dazu kommt, dass die Reflexion über Beispiele nicht konsequent durchgeführt erscheint. Reflexionsansätze werden immer wieder durchbrochen durch eine Vielzahl von Beispielen, die in sich zwar interessant und lehrreich sind, aber letztlich nicht wirklich in einer kohärenten Theorie aufgefangen werden.

GRUNDLEGENDE EINSICHTEN

8) Dieser negative Eindruck wird aber durch zwei positive Aspekte ausgeglichen: (i) die vielen ausführlichen Beispiele (die ich hier nicht im einzelnen beschrieben habe) illustrieren sehr schön den Reichtum seiner praktischen Erfahrungen; (ii) seine Grundthesen erscheinen mir tatsächlich fundamental, grundlegend, auch nach nunmehr 20 Jahren seit dem ersten Erscheinen des Buches.
9) Zwar nimmt in der Wirtschaft das Bewusstsein für bessere Bedienbarkeit von Geräten deutlich zu, aber eher weniger durch theoretische Einsicht sondern vielmehr durch die Realität des Marktes: schlechte Bedienbarkeit führt zu realen wirtschaftlichen Verlusten oder kann bei Zulassungsverfahren zum Ausschlusskriterium werden.
10) Das grundsätzliche Verhältnis von Menschen vs. Maschinen hat sich im Bewusstsein der Mehrheit deswegen nicht unbedingt zugunsten des Menschen verschoben. Die Unterhaltungsindustrie lebt jedenfalls extensiv von der immer wieder neuen Variierung des Themas ‚Intelligente Maschinen bedrohen die Existenz der Menschen‘.
11) Ich finde, dass Norman zurecht die Stärken und Schwächen des Menschen thematisiert und dass er im großen und ganzen die Möglichkeiten einer technischen Intelligenz demgegenüber als potentiell komplementär skizziert. Aus eigener Erfahrung im Hochschulbetrieb weiß ich, dass im Bereich der Informatik und Ingenieurwissenschaften das explizite Bewusstsein vom ‚Faktor Mensch‘ höchstens bei jenen wenigen Professoren gegeben ist, die das Thema ‚Mensch-Maschine-Interaktion‘ explizit betreuen; aber selbst in dieser verschwindend kleinen Gruppe gibt es noch genügend, die das Fach ‚maschinenorientiert‘ verstehen: wie kann ich den Menschen am besten an die Gegebenheiten eines bestimmten technischen Systems anpassen?‘.
12) Seine letztlich tiefgreifenden Einsichten in den Fundamentalzusammenhang zwischen Menschen und Technologie berühren allerdings ein Thema, das weit über die Disziplin Mensch-Maschine Interaktion hinausgeht. Es berührt den grundsätzlichen Wertekanon einer informationstechnologisch geprägten Gesellschaft, berührt die grundsätzlichen Fragen nach dem ‚Selbstbild des Menschen‘, die Frage, wie wir als Menschen uns selbst sehen, begreifen, verstehen angesichts einer immer mehr beschleunigten Komplexität.
13) Und in diesem Bereich der übergreifenden ‚Weltbilder‘ erleben wir neben einer großen Ungleichzeitigkeit zwischen unterschiedlichen Regionen und Kulturen auf der Erde im Bereich der stark wissenschaftlich geprägten Gesellschaften ein gefährliches denkerisches Vakuum: Bis zum Beginn der Entwicklung neuzeitlicher experimenteller und formal-mathematischer Wissenschaften verbanden die Menschen das ‚Lebendige‘, speziell den ‚Menschen‘ – also sich selbst – mit der Kategorie, etwas ‚Besonderes‘ zu sein, und die unterschiedlichen Manifestationen dieser Besonderheiten im Verhalten nannte man – im weitesten Sinne – z.B. ‚intelligent‘, ‚vernunftbegabt‘, ‚geistig‘, bis dahin, dass man einem Menschen einen ‚Geist‘ unterstellte (was immer dies auch im einzelnen war), der einen Menschen genau zu diesem wunderbaren Verhalten befähigt. Dieser unterstellte ‚Geist‘ war eine beliebte Projektionsfläche für sehr vieles, u.a. auch für religiöse Vorstellungen. Mit dem Fortschreiten der experimentellen und formalen Wissenschaften begann aber eine zunehmende ‚Durchleuchtung‘ der empirischen Welt, auch des menschlichen Körpers einschließlich Gehirn, auch des Universums, und überall fand man immer nur noch Kleineres, Zellen, Moleküle, Atome, Quanten, aber eben keinen ‚Geist‘. Diese zunehmende Zerkleinerung mit Verlust der Sicht auf potentielle Zusammenhänge oder Hervorbringungen haben die Aura des ‚Besonderen‘ denkerisch ausgetrocknet. Die ‚Rückbesinnungen‘ auf das typisch, ursprünglich Menschliche, auf immer buntere Formen von Religiosität, wirken in diesem Zusammenhang wie Verzweiflungsaktionen, eher emotional, wenig rational, kaum erhellend, auf keinen Fall kraftvoll genug, um die Stellung des Menschen (und überhaupt des Lebens) im Kosmos nennenswert zu stärken. In einer solchen denkerisch ausgehöhlten, ausgelutschten Situation gibt es keine wirklichen Argumente für den Menschen. Philosophie und Religion sind sprachlos, die Wissenschaft gefangen in ihre einzelwissenschaftlichen Zerkleinerungen eines großen Ganzen, das dem Blick entschwunden ist. Die Lücke füllen Fantasien aller Arten.
14) Das schon mehrfach erwähnte ‚Emerging Mind Project‘ stellt in diesem Zusammenhang einen Versuch dar, den Zusammenhang wieder zurück zu gewinnen und das Phänomen des ‚Lebens‘ (einschließlich des Menschen) in seiner spezifischen Rolle neu sichtbar zu machen. Technologie wird hier dann zu einem genuinen Teil des Lebens, nicht als Gegensatz, sondern als ‚genuiner Teil‘!

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DONALD A.NORMAN, THINGS THAT MAKE US SMART – Teil 5

Diesem Beitrag ging voraus Teil 4.

BISHER

In den vorausgehenden Teilen wurden bislang zwei Aspekte sichtbar: einmal die ‚Menschenvergessenheit‘ in der Entwicklung und Nutzung von Technologie sowie die Einbeziehung von ‚wissensunterstützenden Dingen‘ sowohl außerhalb des Körpers (physisch) wie auch im Denken selber (kognitiv). Ferner hatte Norman die Vielfalt des Denkens auf zwei ‚Arbeitsweisen‘ reduziert: die ‚erfahrungsorientierte‘ Vorgehensweise, ohne explizite Reflexion (die aber über ‚Training‘ implizit in die Erfahrung eingegangen sein kann), und die ‚reflektierende‘ Vorgehensweise. Er unterschied ferner grob zwischen dem Sammeln (‚accretion‘) von Fakten, einer ‚Abstimmung‘ (‚tuning‘) der verschiedenen Parameter für ein reibungsloses Laufen, Schreiben, Sprechen, usw., und einer Restrukturierung (‚restructuring‘) vorhandener begrifflicher Konzepte. Ferner sieht er in der ‚Motivation‘ einen wichtigen Faktor. Diese Faktoren können ergänzt werden um Artefakte, die Denkprozesse unterstützen. In diesem Zusammenhang führt Norman die Begriffe ‚Repräsentation‘ und ‚Abstraktion‘ ein, ergänzt um ‚Symbol‘ (nicht sauber unterschieden von ‚Zeichen‘) und ‚Interpreter‘. Mit Hilfe von Abstraktionen und Symbolen können Repräsentationen von Objekten realisiert werden, die eine deutliche Verstärkung der kognitiven Fähigkeiten darstellen.

PROBLEMZUGANG DURCH INTERFACE VERBESSERN

1) Auf den S.77-113 widmet sich Norman dem Thema, wie Artefakte die Behandlung einer Aufgabe ändern können. Er geht dabei aus von der fundamentalen Einsicht, dass die Benutzung eines Artefaktes nicht die kognitiven Eigenschaften des Benutzers als solchen ändert, sondern – bestenfalls – den Zugang zum Problem. (vgl. S.77f).
2) [Anmerkung: Wir haben also zwei Situationen Sit1= und Sit2= mit ‚P‘ für ‚Problem=Aufgabe‘, ‚Int‘ für ‚Interface = Artefakt‘ und ‚U‘ für ‚User = Benutzer‘. Während in Situation 1 der Benutzer mit seinen ‚angeborenen kognitiven Strukturen‘ das Problem verarbeiten muss, kann er in Situation 2 auf ein Interface Int zurückgreifen, das idealerweise alle jene Aspekte des Problems, die für ihn wichtig sind, in einer Weise ‚aufbereitet‘, die es ihm ‚leichter‘ macht, mit seinen ‚angeborenen‘ kognitiven Fähigkeiten damit umzugehen. Nehmen wir zusätzlich an, dass der Benutzer U ein lernfähiges System ist mit der minimalen Struktur U= und fu: I x IS —> IS x O, dann würde man annehmen, dass das Interface eine Art Abbildung leistet der Art Int: P —> I und Int: O —> P. Wie ‚gut‘ oder ’schlecht‘ ein Interface ist, könnte man dann einfach daran überprüfen, wieweit der Benutzer U dadurch seine Aufgaben ’schneller‘, ‚leichter‘, ‚mit weniger Fehlern‘, mit ‚mehr Zufriedenheit‘ usw. leisten könnte.]
3) Norman macht dann auf den Umstand aufmerksam, dass zwischen den wahrnehmbaren Eigenschaften eines Artefakts und den korrelierenden ‚Zuständen‘ bei der heutigen stark integrierten Technologie oft kein Zusammenhang mehr erkennbar ist. Dies führt zu Unklarheiten, Belastungen und Fehlern. Er spricht sogar von dem ‚Oberflächen‘- (’surface‘) und dem ‚Internen‘- (‚internal‘) Artefakt. (vgl. S.70-81).
4) [Anmerkung: Die Unterscheidung von ‚Oberfläche‘ und ‚Intern‘ halte ich für problematisch, da natürlich jedes Artefakt, das als Interface einen Benutzerbezug hat letztlich nur über sein äußerlich beobachtbares Verhalten definierbar und kontrollierbar ist. Die jeweiligen internen Strukturen sind eher beliebig. Allerdings macht die Unterscheidung von ‚Oberflächeneigenschaften‘ und ‚Funktionszustand‘ Sinn. Wenn also ein Drehknopf die Lautstärke reguliert, dann wäre der Drehknopf mit seiner ‚Stellung‘ die Oberflächeneigenschaft und die jeweilige Lautstärke wäre ein davon abhängiger ‚Funktionszustand‘ oder einfach ‚Zustand‘. Der Zustand wäre Teil der Aufgabenstellung P. Das, was ein Benutzer U kontrollieren möchte, sind die verschiedenen Zustände {…,p_i.1, …, pi.n,…} von P. Nimm man also an, dass das Interface Int auch eine Menge von Oberflächeneigenschaften {ui_i.1, …, ui_i.m} umfasst, dann würde ein Interface eine Abbildung darstellen der Art Int: {…,ui_i.j, …} —> {…,p_r.s,…}. Nehmen wir an, die Menge P enthält genau die Zustände des Problems P, die ‚wichtig‘ sind, dann wäre es für einen Benutzer U natürlich um so ‚einfacher‘, P zu ‚kontrollieren‘, (i) um so direkter die Menge dom(Int) = {ui_i.1, …, ui_i.m} bestimmten Problemzuständen entsprechen würde und (ii) um so mehr die Menge dom(Int) den kognitiven Fähigkeiten des Benutzers entsprechen würde. ]
5) Auf den SS.82-90 illustriert Norman diesen grundlegenden Sachverhalt mit einer Reihe von Beispielen (Türme von Hanoi, Kaffeetassen).

COMPUTER KEIN MENSCH
FORMALE LOGIK vs. ALLTAGS-LOGIK

6) Norman wiederholt dann die Feststellung, dass die Art wie das menschliche Gehirn ‚denkt‘ und wie Computer oder die mathematische Logik Probleme behandeln, grundlegend verschieden ist. Er unterstreicht auch nochmals, dass die Qualität von psychologischen Zuständen (z.B. im Wahrnehmen, Denken) oft keine direkten Rückschlüsse auf die realen Gegebenheiten zulassen. (vgl. S.90-93)
7) [Anmerkung1: Die Tatsache, dass die ‚formale Logik‘ Logik der Neuzeit nicht der ‚Logik des Gehirns‘ entspricht, wird meines Erachtens bislang zu wenig untersucht. Alle Beweise in der Mathematik und jenen Disziplinen, die es schaffen, mathematische Modelle = Theorien zu ihren empirischen Fakten zu generieren, benutzen als offizielle Methode der Beweisführung die formale Logik. Diese formale Logik arbeitet aber anders als die ‚Logik des Alltags‘, in der wir mit unserem Gehirn Abstrahieren und Schlüsse ziehen. In meiner Ausbildung habe ich erlebt, wie man vom ‚alltäglichen‘ Denken in ein ‚formales‘ Denken quasi umschalten kann; man muss bestimmte Regeln einhalten, dann läuft es quasi ‚wie von selbst‘, aber das Umschalten selbst, die Unterschiede beider Denkweisen, sind meines Wissens bislang noch nie richtig erforscht worden. Hier täte ein geeignetes Artefakt = Interface wirklich Not. Während man im Bereich der formalen Logik genau sagen kann,was ein Beweis ist bzw. ob eine bestimmte Aussage ‚bewiesen‘ worden ist, kann man das im alltäglichen denken nur sehr schwer bis gar nicht. Dennoch können wir mit unserem alltäglichen Denken Denkleistungen erbringen, die sich mit einem formalen Apparat nur schwer bis (zur Zeit) gar nicht erbringen lassen. (Auf den SS.128f ergänzt Norman seine Bemerkungen zum Unterschied von formaler Logik und dem menschlichen Denken.)]
8) [Anmerkung2: Daraus folgt u.a., dass nicht nur die Ausgestaltung von konkreten Artefakten/ Schnittstellen sehr ausführlich getestet werden müssen, sondern auch der Benutzer selbst muss in all diesen Tests in allen wichtigen Bereichen vollständig einbezogen werden.]
9) Auf den SS.93-102 diskutiert Norman diesen allgemeinen Sachverhalt am Beispiel von graphischen Darstellungen, Für und Wider, beliebte Fehlerquellen, gefolgt von einigen weiteren allgemeinen Überlegungen. vgl. S.102-113)
10) Auf den Seiten 115-121 trägt Norman viele Eigenschaften zusammen, die für Menschen (den homo sapiens sapiens) charakteristisch sind und die ihn nicht nur von anderen Lebewesen (einschließlich Affen) unterscheiden, sondern vor allem auch von allen Arten von Maschinen, insbesondere Computer, einschließlich sogenannter ‚intelligenter‘ Maschinen (Roboter). Im Prinzip sind es drei Bereiche, in denen sich das Besondere zeigt: (i) der hochkomplexe Körper, (ii) das hochkomplexe Gehirn im Körper, (iii) die Interaktions- und Kooperationsmöglichkeiten, die soziale Strukturen, Kultur und Technologie ermöglichen. Die Komplexität des Gehirns ist so groß, dass im gesamten bekannten Universum nichts Vergleichbares existiert. Die Aufzählung von charakteristischen Eigenschaften auf S.119 ist beeindruckend und lässt sich sicher noch erweitern.
11) [Anmerkung: Im Bereich Mench-Maschine Interaktion (MMI)/ Human-Machine Interaction (HMI) – und ähnlich lautenden Bezeichnungen – geht es – wie der Name schon sagt – primär um die Beziehungen zwischen möglichen technischen Systemen und den spezifischen Eigenschaften des Menschen. In der Regel wird aber der Mensch ‚als Mensch‘, die besondere Stellung des Menschen nicht so thematisiert, wie es hier Norman tut. Die MMI/ HMI Literatur hat immer den Hauch einer ‚Effizienz-Disziplin‘: nicht die Bedürfnisse des Menschen als Menschen stehen im Mittelpunkt, sondern (unterstelle ich jetzt) ein übergeordneter Produktionsprozess, für dessen Funktionieren und dessen Kosten es wichtig ist, dass die Mensch-Maschine Schnittstellen möglichst wenig Fehler produzieren und dass sie mit möglichst geringem Trainingsaufwand beherrschbar sind. In gewissem Sinne ist diese Effizienzorientierung legitim, da der Mensch ‚als Mensch‘ in sich eine Art ‚unendliches Thema‘ ist, das kaum geeignet ist für konkrete Produktionsprozesse. Wenn ich aber einen konkreten Produktionsprozess verantworten muss, dann bin ich (unter Voraussetzung dieses Prozesses) gezwungen, mich auf das zu beschränken, was notwendig ist, um genau diesen Prozess zum Laufen zu bringen. Allgemeine Fragen nach dem Menschen und seiner ‚Bestimmung‘ können hier nur stören bzw. sind kaum behandelbar. Andererseits, wo ist der Ort, um über die Besonderheiten des Menschen nachzudenken wenn nicht dort, wo Menschen real vorkommen und arbeiten müssen? Philosophie im ‚Reservat des gesellschaftlichen Nirgendwo‘ oder dort, wo das Leben stattfindet?]

EVOLUTIONÄRE HERLEITUNG DES JETZT

12) Mit Bezugnahme auf Mervin Donald (1991) macht Norman darauf aufmerksam dass die auffälligen Eigenschaften des Menschen auch einen entsprechenden evolutionären Entwicklungsprozess voraussetzen, innerhalb dessen sich die heutigen Eigenschaften schrittweise herausgebildet haben. Das Besondere am evolutionären Prozess liegt darin, dass er immer nur ‚weiterbauen‘ kann an dem, was schon erreicht wurde. Während moderne Ingenieure immer wieder auch mal einen kompletten ‚Neuentwurf‘ angehen können (der natürlich niemals radikal ganz neu ist), kann die biologische Evolution immer nur etwas, was gerade da ist, geringfügig modifizieren, also ein System S‘ zum Zeitpunkt t+1 geht hervor aus einem System S zum Zeitpunkt t und irgendwelchen Umgebungseigenschaften (E = environmental properties): S'(t+1) = Evol(S(t),E). Die Details dieses Prozesses, so wie Donald sie herausarbeitet, sind sicher diskutierbar, aber das Grundmodell sicher nicht.(vgl. SS.121-127)
13) [Anmerkung: Obwohl die Wissenschaft heute die Idee einer evolutionären Entwicklung als quasi Standard akzeptiert hat ist doch auffällig, wie wenig diese Erkenntnisse in einer theoretischen Biologie, theoretischen Psychologie und auch nicht in einer Künstlichen Intelligenzforschung wirklich angewendet werden. Eine ‚Anwendung‘ dieser Einsichten würde bedeuten, dass man relativ zu bestimmten phäomenalen Verhaltenseigenschaften nicht nur ein Strukturmodell S'(t) angibt, das diese Leistungen punktuell ‚erklären‘ kann, sondern darüber hinaus auch ein evolutionäres (prozessurales) Modell, aus dem sichtbar wird, wie die aktuelle Struktur S'(t) aus einer Vorgängerstruktur S(t-1) hervorgehen konnte. In der künstlichen Intelligenzforschung gibt es zwar einen Bereich ‚evolutionäre Programmierung‘, aber der hat wenig mit der bewussten theoretischen Rekonstruktion von Strukturentstehungen zu tun. Näher dran ist vielleicht das Paradigma ‚Artificial Life‘. aber da habe ich aktuell noch zu wenig Breitenwissen.]

GESCHICHTEN

14) Nach kurzen Bemerkungen zur Leistungsfähigkeit des Menschen schon mit wenig partiellen Informationen aufgrund seines Gedächtnisses Zusammenhänge erkennen zu können, was zugleich ein großes Fehlerrisiko birgt (vgl. S.127f), verlagert er dann den Fokus auf die erstaunliche Fähigkeit des Menschen, mit großer Leichtigkeit sowohl komplexe Geschichten (’stories‘) erzeugen, erinnern, und verstehen zu können. Er verweist dabei vor allem auf die Forschungen von Roger Schanck.(vgl. 129f)

TYPISCHE MENSCHLICHE FEHLER

15) Norman erwähnt typische Fehler, die Menschen aufgrund ihrer kognitiven Struktur machen: Flüchtigkeitsfehler (’slips‘) und richtige Fehler (‚mistakes‘). Fehler erhöhen sich, wenn man nicht berücksichtigt, dass Menschen sich eher keine Details merken, sondern ‚wesentliche Sachverhalte‘ (’substance and meaning‘); wir können uns in der Regel nur auf eine einzige Sache konzentrieren, und hier nicht so sehr ‚kontinuierlich‘ sondern punktuell mit Blick auf stattfindende ‚Änderungen‘. Dementsprechend merken wir uns eher ‚Neuheiten‘ und weniger Wiederholungen von Bekanntem.(vgl. S.131) Ein anderes typisches Fehlerverhalten ist die Fixierung auf eine bestimmte Hypothese. Es ist eine gewisse Stärke, einen bestimmten Erklärungsansatz durch viele unterschiedliche Situation ‚durchzutragen‘, ihn unter wechselnden Randbedingungen zu ‚bestätigen‘; zugleich ist es aber auch eine der größten Fehlerquellen, nicht genügend Alternativen zu sehen und aktiv zu überprüfen. Man nennt dies den ‚Tunnelblick‘ (‚tunnel vision‘). (vgl. SS.31-138)

Fortsetzung folgt mit Teil 6

LITERATURVERWEISE

Merlin Donald, „Origins of the Modern Mind: Three Stages in the Evolution of Culture and Cognition“, Cambridge (MA): Harvard University Press,1991

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