Archiv für den Tag: 10. Juli 2014

ANGST IST KEIN GUTER LEHRER – ENGELHARDT ‚UNITED STATES OF FEAR‘, ISLAMISTEN, usw.

KONTEXT

1. In einem vorausgehenden Beitrag hatte ich das Buch Engelhardt, T.; ‚The United States of Fear‘, Chicago: Haymarket Books, 2011 schon mal erwähnt und ausgehend von den Kindheits- und Jugenderinnerungen von Tom Engelhardt hatte ich ein paar Gedanken zum aktiven Philosophieren im Alltag entwickelt. Grundsätzlich sind alle ‚Bilder von der Welt in unserem Kopf‘ nicht die Welt, wie sie ‚unabhängig von unserem Denken existiert‘ (hier verstanden als die ‚reale‘, ‚empirische‘ Welt), sondern eben nur so, wie unser Denken sie ‚konstruiert‘ hat. Je komplexer diese Bilder im Kopf sind, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass sie von der realen Welt abweicht. Aber auch ganz einfache Bilder können sehr falsch sein! Dass die Bilder im Kopf der Menschen von der realen Welt abweichen, kann man im Alltag bei jedem einzelnen Menschen in vielfacher Weise nachweisen. Niemand ist hier ausgenommen (ich natürlich auch nicht).

ENGELHARDT, KAPITEL 2, DIE NEUE USA

2. Im ersten Kapitel seines Buches (dessen Material von der Webseite http://www.tomdispatch.com/ stammt) entwickelt Tom Engelhardt nochmals den ‚Ausbruch‘ und den ‚Aufstieg‘ der neuen, allumfassenden Sicherheitsdoktrin der US-Regierung seit 9/11 2001, eingebettet in eine globale Militärstrategie, begleitet von einer ‚Legalisierung von Unrecht‘ und einer Institutionalisierung von umfassender Kontrolle. Vieles davon wurde auch schon in vorausgehenden Einträgen dieses Blogs anlässlich tatsächlicher Ereignisse erwähnt. Hier nur die Kernthesen zusammengefasst; für die Details sei der Leser auf das Buch oder den tomdispatch-Blog verwiesen.

3. Wie bekannt, hatte die Bush-Administration schon vor 9/11 2001 die Absicht entwickelt, mehr Handlungsspielraum für Operationen im Nahen Osten zu bekommen. 9/11 2001 bot eine wunderbare Gelegenheit, dieses Ereignis zum Anlass zu nehmen, um in einer Art Rundumschlag jetzt alle demokratischen Erlaubnisse und legalen Positionen so auszuweiten, um ein noch unumschränkteres Handeln von Sicherheitsapparat und Militär möglich zu machen.

4. Auf den SS.36ff fasst Engelhardt zusammen, was innerhalb von weniger als zwei Wochen geschah: der Krieg gegen die ‚Terroristen‘ von 9/11 wurde ausgeweitet auf ‚Terror schlechthin‘. Der ‚Global War On Terror [GWOT]‘ wurde zum ‚Vierten Weltkrieg‘ erklärt. Das einzige Kriterium war nur noch ‚Terror‘ mit der Deutungshoheit bei der US-Regierung. Alle Länder der Erde waren entweder ‚Verbündete‘ in diesem Krieg oder ‚Feinde‘. Alle internationalen Rechte und internationale Institutionen, die Souveränität von Nationalstaaten zerfielen in Staub und Asche. Ab jetzt zählte nur noch der Wille und die Stimmung der US-Regierung. Die nationale ‚Sicherheit‘ wurde zur absoluten 100% Sicherheit. Obwohl jeder weiß, dass 100% Sicherheit generell unmöglich ist, wurde die 100-Sicherheit zur obersten Doktrin erhoben, der alles andere Handeln folgen muss.

5. In der nachfolgenden Zeit wurden, um ein möglichst unbeschränktes Handeln der US-Regierung zu ermöglichen, vielfach Gesetze verändert bis dahin, dass das, was lange Zeit als Folter galt, durch trickreiche Formulierungen nun zu ‚erweiterten Verhörmethoden‘ (‚enhanced interrogation techniques‘) umgewortet wurde. Zusätzlich wurde die alte Praktik, kritisches Handeln der Regierung und der Behörden durch Klassifizierung als ‚geheim‘ abzuschotten, massiv ausgeweitet. Mehr und mehr wurde fast alles geheim bei gleichzeitig Begrenzung der demokratischen Kontrollen. Im Juni 2011 (vgl. Engelhardt:S.26) wurden u.a. 99 Fälle von Folter als vom obersten Staatsanwalt als nicht verfolgungswürdig erklärt. Dieser Fall – zusammen mit anderen – ergibt das Bild, dass unter dem Schutz von ‚Sicherheit‘ und Geheimhaltung‘ mittlerweile von den US-Behörden jedes Verbrechen begangen werden kann, ohne dass es jemals verfolgt werden wird. Engelhardt nennt den allgemeinen Zustand der USA (zusammen mit anderen) ‚post legal‘, also ‚gesetzlos‘!

6. Dieser gesetzlose Zustand hat mittlerweile u.a. dazu geführt, dass zwar die staatlichen Stellen normale US-Bürger entgegen geltendem Gesetzt abhören können, ohne verfolgt zu werden, wenn aber sogenannten ‚Whistleblower‘, die in der Verfassung vorgesehen sind, auf ein ungesetzliches Handeln der US-Regierung hinweisen, werden diese sofort verfolgt, und nicht nur diese, sondern auch die Reporter einer Zeitung, die darüber berichten (vgl. Engelhardt:S.27f).

7. Irgendwie ist es ermüdend, all diese Ungeheuerlichkeiten immer wieder aufzuschreiben, aber leider gehören sie zu unserer Realität, leider charakterisieren sie ein Land, die USA, das für viele das Vorbild einer modernen Demokratie war, ein Land der Hoffnung und der Visionen, und das weiterhin eine enorme Rolle in dieser Welt spielt. Es kann daher nicht egal sein, was in diesem Land passiert, wenngleich es andere Länder gibt, die auch groß und mächtig sind und in denen es viel weniger Demokratie (bislang) zu geben scheint.

8. Die 100%-Sicherheitsdoktrin bei gleichzeitiger Aushebelung aller bis dahin bekannten demokratischen Werte hat mindestens zwei Gesichter: ‚Macht‘ und ‚Angst‘. Diejenigen, die all das mit hoher Energie vorantreiben, sind vor allem ‚Nutznießer‘ der Macht: die immer größeren Geldströme, die sich das Sicherheitssystem einverleibt, die nahezu vollständige Abschirmung von äußerer Kontrolle bei gleichzeitig nahezu unbeschränkter (auch militärischer) Machtausübung ist eine eminente Versuchung für jeden Menschen. Auf der anderen Seite wird unter dem Label der ‚100%-Sicherheit‘ ein Argument bereitgestellt, dass selbst schon kleinste Vorfälle zum Anlass genommen werden können, noch mehr Maßnahmen einleiten zu können und deswegen noch mehr Geld zu kassieren. Hier wird eine bis zu einem gewissen Grade ’natürliche Angst‘ der Menschen, der Bevölkerung ‚instrumentalisiert‘, um Dinge zu tun, die nicht nur nicht hilfreich sind, sondern – so scheint es – vielmehr sogar kontraproduktiv. Engelhardt nennt mindestens drei Punkte:

FALSCHE MASSSTÄBE

9. Betrachtet man nüchtern die Zahlen Opfer der tatsächlichen terroristischen Anschläge, mit den Opfern anderer Vorgänge in der Gesellschaft (vgl. Engelhardt:S.32f), dann gibt es mit ca. 25 Terrortoten nach 9/11 zwar etwas mehr als Opfer durch Haiattacken, aber unvergleichlich viel weniger als jene 3000, die jährlich durch Nahrungsmittel sterben, 33.000 – 43.000, die jährlich durch Verkehrsunfälle sterben (ohne jetzt all die Todesarten aufzuzählen, die es auch noch gibt und die weit größer sind). Und doch sieht die Regierung keinen Handlungsbedarf, hier auch einen vergleichbares Behördenmonster aufzubauen, wie im Falle möglicher Terrorattacken (dazu kommt, dass einige Terroranschläge stattgefunden haben, die die Monstermaßnahmen nicht verhindern konnten), im Gegenteil, Gelder für mehr vorsorgende Untersuchungen in Sachen Lebensmittel wurden eher verweigert.

SCHWÄCHUNG DER EIGENEN WIRTSCHAFT

10. Während immer größere Summen in das Militär weltweit und in die Sicherheitsorgane gepumpt wird, verrottet die eigene Infrastruktur, das Bildungssystem leidet, große Anteile der eigenen Bevölkerung leben an oder unter der Armutsschwelle (ist das für die Regisseure und Nutznießer des aktuellen Systems nicht sogar von Vorteil: man hat viele billige Arbeitskräfte, unkritische Bürger, die man leicht manipulieren kann?).

ERZEUGUNG VON MEHR FEINDEN

11. Das absolutistische und rücksichtslose Vorgehen der US-Regierung weltweit soll eigentlich den ‚Terror‘ verhindern. Tatsächlich aber – so scheint es – ruft es immer mehr Widerstände hervor, tatsächlich bildet genau dieses Verhalten den Nährboden für Aggression und Hass auf der Seite der Angegriffenen. Aus den wenigen ‚Terroristen von Alquaida‘ entwickelte sich ein immer größerer Strom von zahllosen – sich Islamisten nennenden – Gruppierungen, kleine Armeen, die mehr und mehr Staaten Afrikas und Asiens mit Terror und offenen Krieg überziehen. Und trotz all dieser offensichtlichen Entwicklungen hält die US-Regierung an ihren undemokratischem und menschenverachtendem Verhalten fest.

12. Als 9/11 passierte, konnte man eine sofortige spontane weltweite ernstgemeinte Solidarisierung ganz vieler Staaten mit den USA beobachten. Aber schon in kürzester Zeit schaffte es die US-Regierung durch ihre absolutistisches und menschenverachtendes Auftreten selbst beste Freunde zu verprellen. Von außerhalb der USA hat man den Eindruck, dass die USA einen tiefgreifenden ‚Persönlichkeitsveränderung‘ seit dem ende des zweiten Weltkriegs durchläuft, wenn man mal das Wort ‚Persönlichkeitsveränderung hier verwenden würde. Obgleich Länder wie China und Russland, nach demokratischen Maßstäben sicher (noch) nicht ‚Demokratien‘ genannt werden können, haben sie in diesem Kontext dennoch mehr Bedeutung bekommen, als ihnen zukommen würde, wenn die USA nicht solch Persönlichkeitsänderung durchlaufen hätte. Die USA, der ehemals ‚weiße Ritter‘, hat immer mehr Ähnlichkeiten eines ’schwarzen Ritters‘, der keine wirklichen Freunde mehr kennt, der Freunden keine wirkliche Souveränität zugesteht, der mit Freunden nach Bedarf ‚umspringt‘, usw. Auch wenn man Länder wie China und Russland wegen ihrer Demokratiedefizite in vielen Punkten kritisieren muss, mag man sich nicht vorstellen, was passieren würde, wenn eine sich selbst als allmächtig fühlende und (rechtlos) handelnde USA diese Machtgegenpole nicht hätte?

MILITÄRISCHE MACHT UND POLITIK

13. In dem sehr anregenden Buchvon J.Schnell mit dem Titel ‘The Unconquerable World. Power, Nonviolence, and the Will of the People’, New York: Henry Holt and Company, LLC (2003) wird das berühmte Buch von Carl von Clausewitz (780 – 1831) mit dem Titel Vom Kriege, Hinterlassenes Werk des Generals Carl von Clausewitz, Bd. 1–3, bei Ferdinand Dümmler, Berlin 1832–1834 (hrsg. von Marie von Clausewitz) zum Ausgangspunkt für eine Analyse genommen, was militärische Macht heute kann und sollte. Clausewitz selbst sah eine deutliche Unterordnung der militärischen Aktion unter die Politik. Denn, was immer eine militärische Aktion bewirkt, der neue Zustand ist ein Zustand von Menschen, die gemeinsam möglichst friedlich und komfortabel leben wollen. Wie das gehen soll und kann, kann keine militärische Aktion beantworten. Dazu braucht es die Menschen selbst, die möglichst einvernehmlich unter Ausnutzung ihres Könnens und der Ressourcen einen möglichst nachhaltigen Zustand erzeugen, an dem möglichst viele partizipieren können. Dies alles geht nicht ohne Vertrauen, nicht ohne wechselseitigem Respekt, nicht ohne Kommunikation, nicht ohne minimale Rechte.

14. Wenn wir uns die heutige Weltkarte anschauen, dann gibt es vornehmlich u.a. folgende Ursachen für Spannungen und Konflikte: soziale Ungerechtigkeiten, mangelndes Wissen, Ressourcenkonflikte, spezielle religiös-ethische Auffassungen, die den jeweils anderen ein Recht auf Leben absprechen. In all diesen Fällen militärische Macht einzusetzen, und dann noch gegen den Willen der Betroffenen, löst keinen dieser Konflikte nachhaltig. Bestenfalls wird der Konflikt ‚konserviert‘, indem eine Partei für eine begrenzte Zeitspanne den Interessenkonflikt einseitig für sich entscheidet.

15. Während man den Eindruck haben kann, dass Europa nach Jahrhunderten angefüllt mit Kriegen, davon zwei ‚Weltkriege‘ mit Abermillionen von Toten, ansatzweise gelernt hat, Konflikte nicht einseitig zu konservieren, sondern unter Beteiligung von allen Konfliktparteien nachhaltig zu lösen, erwecken viele andere Länder (China, Russland, die USA(!!!), Israel-Palästina, …) den Eindruck, als ob sie aus der Geschichte nichts dazu gelernt zu haben scheinen. Im Denken der US-Regierung (zu unterscheiden von der US-Bevölkerung!) kann man nicht erkennen, als ob die Welt ‚jenseits der nationalen Grenzen‘ in diesem partnerschaftlich-nachhaltigem Sinne irgendwie eine Rolle spielt.
16. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass die Regierung von Kuweit (siehe FAZ,9.Juli 2014, S.8) nicht nur erkannt zu haben scheint, dass die verheerenden Auswüchse des sogenannten islamischen Extremismus von ‚innen‘ her, vom Wissen und Verstehen her, aktiv angegangen werden müssen, sondern dass sie tatsächlich und konkret aktiv angefangen haben, über ihren eigenen Staat hinaus intensiv über Bildungsprozesse Menschen in die Lage zu versetzen, ‚alternative Bilder im Kopf‘ zu ermöglichen. Das meiste, was sich unter der Flagge des islamischen Extremismus als ‚islamisch‘ präsentiert, ist möglicherweise überhaupt kein Islam und von Gott so fern, so fern ein Menschenmörder von Gott fern sein kann. So wie es auch in der jüdisch-christlichen Tradition immer wieder Kräfte gab, die sich die die Religion dazu missbrauchten, um ihre eigenen Machtinteressen dadurch zu fördern, so gab und gibt es auch in der islamischen Tradition Kräfte, die dies taten bzw. tun.

GOTT DER KRIEGE?

17. In der tat tut es regelrecht weh, zuschauen zu müssen, wie in unserer aktuellen Welt so viele Gruppen gegeneinander grausame Kriege führen, und sich dabei immer auf ‚Gott‘ (‚Jhw‘, ‚Allah‘, …) berufen. Schiiten gegen Sunniten, Juden gegen Palästinenser, Hinduisten gegen Muslime,…. Natürlich liegt es nahe, anzunehmen, dass hier nicht Gott ‚gegen sich selbst‘ Krieg führt, sondern dass Menschen mit unterschiedlichen selbst konstruierten Gottesbildern gegeneinander antreten, anstatt in Studium, Meditation, Werken der Nächstenliebe, nachhaltiger Weltgestaltung ihr ‚Bild von Gott‘ gemeinsam zu finden. Wer den Namen Gottes in den Mund nimmt und Menschen tötet ist in meinen Augen nicht glaubwürdig, egal ob er sich Jude, Christ, Moslem, Hindu oder wie auch immer nennt.

Ein Überblick über alle Bolgeinträge nach Titeln findet sich HIER.