Archiv der Kategorie: KI – Künstliche Intelligenz

SCHÄTZING: TYRANNEI DES SCHMETTERLINGS. KOMMENTAR: DEN ZEITGEIST DURCHBUCHSTABIERT – Über den Stil kann man streiten.

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062
16.Mai 2018
URL: cognitiveagent.org
Email: info@cognitiveagent.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

Den folgenden Text hatte ich als Buchbesprechung zu Schätzings neuem Buch auf der Verkaufsseite des Buches bei amazon veröffentlicht. Es geht tatsächlich um eine Sachlage, um die Sachlage von uns Menschen. Hier der Link auf meine Besprechungsseite bei amazon.

KRITISCHE REZENSIONEN

Wer vor der Lektüre von Schätzings neuem Roman „Die Tyrannei des Schmetterlings. Roman. Kiepenheuer & Witsch, 736 Seiten“ versucht hat, Rezensionen zu diesem Buch zu lesen, der wird wenig ermutigt sein, sich diesem Buch zu widmen. In angesehenen Zeitungen finden sich Verrisse wie die von Jan Wiele (FAZ), 25.4.2018, Elmar Krekeler (Die Welt, 27.4.2018), Gerhard Matzig (SZ, 28.4.), und Alard von Kittlitz (Die Zeit, 5.5.2018). Ähnlich kritisch (wenngleich auch mit unterschiedlichen Argumenten) die Mehrheit der Reaktionen bei den Lesermeinungen zum Buch auf amazon. Bei amazon finden sich dann zwar auch positive Stimmen, aber aus ihnen kann man nicht so recht entnehmen, warum das Buch positiv ist. Von all diesen verrissartigen Besprechungen hebt sich wohltuend die ausführliche Besprechung von Peter Körting ab (FAZ, 24.4.2018). Sehr sachlich, sehr differenziert und sehr ausführlich gibt er einen Überblick über die Struktur des Romans, benennt Schwächen, lässt die Stärken nicht aus, und überlässt es dem Leser, zu einem endgültigen Urteil zu kommen.

STANDPUNKT DES REZENSENTEN

Ich hatte im Vorfeld den Verriss von Jan Wiele zum Buch gesehen, zwei Talkshows mit Schätzing, in denen die üblichen Klischees zu Künstlicher Intelligenz ausgetauscht wurden, und hatte nach dem begeisternden ‚Schwarm‘ zwei nachfolgende Romane von ihm nur mit Unlust zu Ende gebracht. Sein tendenziell schwulstiger Stil mit vielen Längen, dazu relativ flache Personenprofile, ist nicht unbedingt mein Stil. Dazu kommt, dass ich ein Experte in Sachen Künstlicher Intelligenz und angrenzender Themenfelder bin, seit mehr als 30 Jahren, und die Signale, die das Buch im Vorfeld aussendete, waren eher dazu angetan, es nicht auf die Leseliste zu setzen. Aber, zum Glück, ist das Leben trotz aller Pläne und Steuerungen doch immer noch von Zufällen geprägt: meine Frau bekam das Buch als Hörbuch zum Geburtstag geschenkt und aktuell anstehende lange Autofahrten brachten mich in eine Art Schicksalsgemeinschaft mit diesem Buch.

REINKOMMEN

Die ersten Minuten des Hörbuchs waren bei meiner Voreinstellung eine harte Prüfung: ein erhebliches Wortgetöse für eine Situation, die man mehr erahnen als verstehen konnte, mit einem abrupten harten Schnitt, der den Hörer von einem afrikanischen Land direkt nach Nord-Kalifornien, ins Land des Silicon Valley, führte. Die geringen Ausweichmöglichkeiten einer langen Fahrgemeinschaft hielten mich dann – glücklicherweise – fest, und ich konnte in der Folge minutenweise, stündlich erleben, wie sich aus einer scheinbaren Idylle langsam ein Thriller entwickelte, der bis zum Schluss (verteilt über mehrere Fahrten) häppchenweise an Dramatik zulegte. Nach ca. drei-viertel des Hörbuchs bin ich dann auf die Ebook-Version umgestiegen, da das dann einfach schneller ging.

ÄSTHETISCHE VERPACKUNG VON IDEEN

Die große Masse der Rezensionen arbeitet sich stark an der ästhetischen Verpackung ab, kritisiert die vielen Wortungetüme oder scheinbare ‚Slangs‘, die dem deutschen Bildungsbürger abartig erscheinen, leidet an empfundenen Längen, findet die Personen nicht so dargestellt, wie man selbst sie gerne sehen würde …. aber das ist weitgehend wirklich Geschmackssache und sagt nicht wirklich etwas über die ‚Botschaft‘, die in diesem Buch mutig und – man muss es schon mal hier sagen – ‚genial‘ verpackt wurde.

DER ZEITGEIST UND KÜNSTLICHE INTELLIGENZ

Während Experten im Bereich künstliche Intelligenz sich mit den Themen mindestens seit der Mitte des vorausgehenden Jahrhunderts intensiv beschäftigen, wurde die deutsche Öffentlichkeit so richtig erst seit der Cebit 2016 mit diesen Themen überrollt. Mit einem Mal besetzte das Thema ‚künstliche Intelligenz‘ nach und nach alle Medienkanäle, fortan täglich, stündlich. Es waren nicht unbedingt die Forscher selbst, die sich hier artikulierten, sondern vorwiegend die Marketingabteilungen der großen Konzerne, die verkaufen wollten, und die vielen Journalisten, die kaum etwas verstanden, aber nichts desto trotz als ‚Verstärker‘ der Marketingabteilungen viele Schlagworte in die Welt setzten, ohne sie wirklich zu erklären.

Während sich die Öffentlichkeit mit möglichen Schreckgespensten wie einer neuen kommenden Arbeitslosigkeit beschäftigte, das – in der Tat ungute – globale Ausspähen zum Thema machte, die Politik Digitalisierung und Industrie 4.0 propagierte, bunte lustige Filmchen von Robotern herumgereicht wurden, die merkwürdig aussahen und merkwürdige Dinge taten, blieb die ‚wahre Natur‘ von künstlicher Intelligenz, die rasant voranschreitende Forschungen zu immer komplexeren Steuerungen, Vernetzungen, und vor allem zur Kombination von künstlicher Intelligenz und Mikrobiologie, vor allem Genetik, weitgehend unsichtbar. Neueste Erkenntnisse zur Evolution des Lebens, zur Astrophysik, die weitgehende Auflösung aller alten Menschenbilder samt einer damit verbundenen Auflösung aller bekannten Ethiken wurde nie und wird immer noch nicht offiziell in der Öffentlichkeit diskutiert. Das weltweit zu beobachtende Phänomen von neuen, starken Strömungen in Richtung Populismus, Fanatismus, Nationalismus, verbunden mit stark diktatorischen Zügen ist – in diesem Kontext – kein Zufall.

In einer solchen Situation ist es wichtig, dass man anfängt, die vielen scheinbar isolierten Einzelphänomene aus ganz unterschiedlichen Bereichen in ihrem Zusammenhang sichtbar zu machen, in ihrer tatsächlichen Dynamik, in ihrer möglichen synergistischen Logik, ansatzweise verstehbar ohne die vielen komplexen Details, die ja selbst die Fachwissenchaftler kaum verstehen. Ich gebe offen zu, dass ich selbst – als Fachexperte – schon mehrfach erwogen hatte, etwas Populäres zu schreiben, um die komplexen Sachverhalte irgendwie verständlicher zu machen. Ich bin aber über erste Plots nicht hinaus gekommen. Ich fand einfach keinen Weg, wie man diese Komplexität erzählbar machen kann.

JENSEITS DER EINZELFAKTEN

Sieht man von den ästhetischen Besonderheiten des Textes bei Schätzing ab (die einen finden seinen Stil gut, andere leiden), dann kann man im Verlaufe seiner Schilderungen nicht nur eine erstaunliche große Bandbreite an technischen Details kennenlernen, die den aktuellen und denkbar kommenden Forschungsstand sichtbar machen, sondern er vermag es, diese vielen Details in funktionale Zusammenhänge einzubetten, die nicht so ohne weiteres auf der Hand liegen und die sich so auch in kaum einer anderen Publikation finden, nicht in dieser Explizitheit. In seinem Text offenbart er eine innovative, kreative Kraft des Weiter-Denkens und des Zusammen-Denkens, die beeindruckend ist, die sehr wohl zu weiterführenden und intensiven Diskussionen geeignet sein könnte.

PARALLEL-UNIVERSEN

Verglichen mit dem mittlerweile schon abgedroschen wirkendem Stilmittel der Zeitreisen eröffnet seine Verwendung der Idee von Parallel-Universen viele neue, interessante Szenarien, die erzählerisch zu ungewohnten, und darin potentiell aufschlussreichen, Konstellationen führen können. Wissenschaftlich ist dieses Thema hochspekulativ und in der Art der Umsetzung wie bei Schätzing eher extrem unwahrscheinlich. Erzählerisch eröffnet es aber anregende Perspektiven, die viele philosophisch relevante Themen aufpoppen lassen, einfach so, spielerisch. Ob es Schätzing gelungen ist, dieses Stilmittel optimal zu nutzen, darüber kann man streiten. In seinem Text eröffnet dieses Stilmittel allerdings eine Diskussion über alternative Entwicklungsmöglichkeiten, die ohne das Stilmittel Parallel-Universen, wenn überhaupt, nur sehr umständlich hätten diskutiert werden können.

CYBORGS

Was Schätzing hier mit vielen Beispielen zum Thema ‚Design von neuen biologischen Strukturen‘ schreibt, ist in so manchem Entwicklungslabors Alltag. Die Fassade einer Ethik, die es inhaltlich gar nicht mehr gibt, verhindert in manchen Ländern die offizielle Forschung mit neuen molekularbiologischen Strukturen, aber sie passiert trotzdem. Unterstützt durch Computer mit immer leistungsfähiger Software werden immer schneller immer neuere biologische Strukturen geschaffen, die mit anderen Technologien (z.B. Nanotechnologie) verknüpft werden. Und der Einbau von künstlicher Intelligenz in biologische Strukturen (die als solche ja schon unterschiedliche Formen von Intelligenz haben) ist in vollem Gange. Aktuell sind diese Spezialentwicklungen. Es ist das Verdienst von Schätzing, beispielhaft Zusammenhänge zu denken, in denen sich diese Spezialentwicklungen im größeren Kontext zeigen und was sie bewirken können, wenn Geld und Macht gezielt genutzt werden, um sie bewusst zu nutzen. Diese Art von Science Fiction ist unserer Gegenwart erschreckend nahe.

SUPERINTELLIGENZ

Während heute selbst seriöse Forscher immer öfter über die Möglichkeit von technischen Superintelligenzen nachdenken, ist das Verständnis einer solchen Technologie bislang noch nicht wirklich da. Es gibt bis jetzt ja noch nicht einmal eine allgemein akzeptierte Definition von ‚künstlicher Intelligenz‘. Das Ausweichen auf den harmloser klingenden Ausdruck ‚maschinelles Lernen‘ löst das Problem nicht. Die Wissenschaft hat bislang keine klare Meinung, was sie wirklich unter einer ‚künstlichen Intelligenz‘ verstehen soll, geschweige denn, was eine ‚Superintelligenz‘ sein soll, eine solche, die die ‚menschliche Intelligenz‘ deutlich übertrifft. Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang, dass auch die sogenannte ‚menschliche Intelligenz‘ nach ungefähr 150 Jahren Intelligenzforschung noch nicht vollständig geklärt ist. Gemeinsam ist allen Positionen, dass man den Menschen in seiner aktuellen biologischen Verfassung bezüglich Datenmenge und Geschwindigkeit der Verarbeitung von Daten einer potentiellen Maschine gegenüber als hoffnungslos unterlegen ansieht. Aus diesen sehr äußerlichen Kriterien leitet man ab, dass eine solche Maschine dann ‚irgendwie‘ den Menschen auch in Sachen ‚Intelligenz‘ haushoch überlegen sein wird.

Schätzing kann das Fehlen wissenschaftlicher Erklärungen zu künstlicher Intelligenz nicht ersetzen, aber als innovativ-kreativer Geist kann er literarisch ein Szenario erschaffen, in dem ansatzweise sichtbar wird, was passieren könnte, wenn es eine solche maschinelle Superintelligenz gäbe, die über Netze und steuerbare Körper mit der Welt verbunden ist. Es ist auch bemerkenswert, dass Schätzing sich dabei nicht von technischen Details ablenken lässt sondern den Kern des Super-Intelligenz-Problems im Problem der ‚Werte‘, der ‚Präferenzen‘ verortet. Das, was heute weltweit als ‚künstliche Intelligenz‘ propagiert wird, ist in der Regel noch weitab von einer ‚vollen künstlichen Intelligenz‘, da diese ‚gezähmten Intelligenzen‘ nur innerhalb eng vorgegebener Zielgrößen lernen und dann agieren dürfen. Andernfalls könnten die Firmen die Zuverlässigkeit des Betriebs nicht garantieren. Jene wenigen Forschungsgruppen, die sich mit echten ‚ungezähmten‘ künstlichen Intelligenzen beschäftigen (z.B. im Bereich ‚developmental robotics‘), stehen vor dem riesigen Problem, welche Werte diese offen lernenden Systeme haben sollten, damit sie tatsächlich ‚autonom‘ ‚alles‘ lernen können. Aktuell hat niemand eine befriedigende Lösung. Und diese Forschungen zeigen, dass wir Menschen über die Art und Weise, wie wir selbst Werte finden, entwickeln, benutzen bislang kein wirklich klares Bild haben. Das bisherige Reden über Ethik hat eher den Charakter einer ‚Verhinderung von Klärung‘ statt einer offenen Klärung.

Schätzing wagt es sogar, über das mögliche Bewusstsein einer solchen maschinellen Superintelligenz zu spekulieren. Dies ist nicht abwegig, es ist sogar notwendig. Aber auch hier zeigt sich, dass wir Menschen unsere eigenen Hausaufgaben noch lange nicht gemacht haben. Auch das Thema ‚Bewusstsein‘ ist weder von der Philosophie noch von den unterstützenden empirischen Wissenschaften bislang gelöst. Es gibt viele hundert Artikel und Bücher zum Thema, aber keine allgemein akzeptierte Lösung.

Ich finde es daher gut und mutig, dass Schätzing in diesem Zusammenhang es wagt, das Thema anzusprechen. Künstliche Intelligenzforschung kann ein wunderbarer Gesprächspartner für Psychologen, Neuropsychologen und Philosophen sein. Leider wissen die jeweiligen Gesprächspartner aber oft zu wenig voneinander.

DEN ZEITGEIST DURCHBUCHSTABIERT

Nimmt man alle Einzelheiten zusammen, würdigt die vielen kreativ-innovativen Zusammenhänge, die Schätzing sichtbar macht, schaut sich an, wie er es schafft, das schwierige Thema ‚maschinelle Superintelligenz‘ in einem größeren komplexen Kontext in Szene zu setzen, dann bin ich bereit, zu konzedieren, dass dies eine tatsächlich geniale Leistung ist. Er kondensiert die vielen losen Fäden zu einem Gesamtbild, das unserer tatsächlichen und der sehr bald möglichen Zukunft sehr nahe ist, und macht deutlich, dass hier ein erheblicher Diskussionsbedarf besteht, und zwar über alle Positionen und Fachgrenzen hinweg. Ich kenne kein Buch, das in der aktuellen Situation auch nur ansatzweise literarisch das leistet, was Schätzing hier vorgestellt hat. Ich kann nur hoffen, dass diesem Aufschlag von Schätzing noch viele Reaktionen folgen (allerdings bitte nicht als billiger Verriss).

KONTEXT BLOG

Einen Überblick über alle Blogeinträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.

Einen Überblick über alle Themenbereiche des Blogs findet sich HIER.

Das aktuelle Publikationsinteresse des Blogs findet sich HIER

PSYCHOANALYSE DURCH ROBOTER? MEMO ZUR PHILOSOPHIEWERKSTATT vom 28.Januar 2018

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 29.Januar 2018
URL: cognitiveagent.org
info@cognitiveagent.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch
Email: gerd@doeben-henisch.de

PDF (mit Bildern)

INHALT

I Vorbemerkung 1
II Dialog 2
III PSYCHOANALYSE 3
IV ROBOTER 5
V Fortsetzung 7
VI Anhang: Gedankenskizze vom 28.Januar 2018 9
Quellen

ÜBERBLICK

Ausgehend von den Themenvorschlägen der letzten Philosophiewerkstatt vom 28.November 2017 und den beginnenden Gesprächen zwischen Jürgen Hardt (Psychoanalytiker) und Gerd Doeben-Henisch (Wissenschaftsphilosoph, KI-Forscher) zum Thema ”Kann der Psychoanalytiker durch einen intelligenten Roboter ersetzt werden?” wurde für das Treffen am So, 28.Januar 2018 als Thema (leicht salopp formuliert) ”Psychoanalyse durch Roboter?” gewählt. Nach einer Einführung von Seiten Wissenschaftsphilosophie und der allgemeinen Sicht der Ingenieurswissenschaften wurde die Position der Psychoanalyse am Beispiel des Therapieprozesses weiter kommentiert.

I. VORBEMERKUNG

Zwar glauben alle einschlägigen Experten im Feld der Psychoanalyse bislang, dass ein
Zukunftsszenarium, in dem Roboter die Psychoanalytiker ersetzen, für lange Zeit nicht möglich sein wird, vielleicht ist es sogar grundsätzlich nicht möglich, aber philosophisches und wissenschaftliches Denken hört nicht bei herrschenden Meinungen auf, sondern fängt genau da an.

Der Dialog zwischen Wissenschaftsphilosophie und Künstliche-Intelligenzforschung einerseits (hier vertreten durch Doeben-Henisch) und Psychoanalyse andererseits (hier vertreten durch Jürgen Hardt (und im Rahmen der Philosophiewerkstatt ergänzt durch zwei weitere sehr erfahrene Psychoanalytikerinnen)) wird in erster Linie angetrieben von einem Erkenntnisinteresse. Diese kann man vielleicht mit folgenden
Fragen umreißen:

1) Wie beschreibt die Psychoanalyse als Disziplin das, was sie tut?
2) Wie rekonstruiert die allgemeine Ingenieurswissenschaft (hier genommen als ’Systems Engineering’) die Beschreibung der Psychoanalyse?
3) Wie kommentiert die Wissenschaftsphilosophie diese beiden Beschreibungen?
4) Wieweit kann man aus den rekonstruierenden Beschreibungen der Ingenieurswissenschaften die Konstruktion einer konkreten Maschine ableiten, die sich in der realen Welt wie ein realer Psychoanalytiker verhält?
5) Welches Bild vom Menschen wird in diesen unterschiedlichen Beschreibungen sichtbar?
6) Gibt es irgend etwas, was den Menschen auszeichnet, was sich entweder in den rekonstruierenden Beschreibungen der Ingenieurswissenschaften oder in der realen Psychoanalytiker-Maschine nicht abbilden lässt?
7) Falls es solch einen ’prinzipiell nicht-abbildbaren Anteil’ im realen Menschen gibt, was sagt dieser über den Menschen in der Welt aus?

II. DIALOG

Der Versuch des wechselseitigen Verstehens einmal der Psychoanalyse durch die Ingenieurwissenschaften und Wissenschaftsphilosophie sowie andererseits des Verstehens der  ingenieurwissenschaftlichen Rekonstruktionen der Psychoanalyse wiederum durch die Psychoanalyse wird in Form eines Dialogs stattfinden. Daher wurden Überlegungen zu den Rahmenbedingungen eines ’interdisziplinären’ Dialogs vorangestellt (Siehe dazu das Bild 1).

Kennzeichnend für einen interdisziplinären Dialog sind die unterschiedlichen Voraussetzungen der Teilnehmer. Diese Unterschiede können sich auf eine Vielzahl von Aspekten beziehen. Von zentraler Wichtigkeit ist natürlich das wirksame Wissen in jedem und seine aktive Sprache. Dabei zerfällt die Sprache in den Ausdrucksteil (Wortschatz, Grammatik, Wortmuster,…) sowie die Bedeutung. Letztere ergibt sich aus den Beziehungen zwischen Ausdruckselementen und irgendwelche Wissens-
oder sonstigen Erfahrungsanteilen. Diese Beziehungen liegen nicht als wahrnehmbare Objekte der Außenwelt vor sondern als spezifische, individuelle Kodierungen in jedem Einzelnen. Diese zu erkennen ist in jeder Äußerungssituation eine grundlegende Aufgabe für alle Beteiligten. Bei einfachen Sachverhalten mit Außenweltbezug ist eine solche Bedeutungsklärung einigermaßen praktizierbar, je mehr Bedeutungsanteile benutzt werden, die keinen direkten Außenweltbezug aufweisen, um so schwieriger wird eine Bedeutungsklärung.

Im heutigen Alltag explodieren die Unterschiede an Erfahrungen, an Wissen fortlaufend. Allein die ca. 9000 unterschiedlichen Masterstudiengänge in Deutschland im Jahr 2017  produzieren unterschiedliche Wissens- und Erfahrungsräume, und dies ist nur die berühmte ’Spitze des Eisbergs’. Für den angestrebten Dialog zwischen Psychoanalyse und Wissenschaftsphilosophie und Künstlicher Intelligenz scheinen folgende Dialogtypen von Interesse zu sein:

1) PSA1-A: Psychoanalytiker PSA1 in Therapiesituation mit Analysand A.
2) PSA2-(PSA1-A): Kontroll-Analytiker PSA2 in Supervision mit Psychoanalytiker PSA1, der einen Analysand A therapiert.
3) WP-(PSA2-(PSA1-A))(PSA1-A): Wissenschaftsphilosoph in Rekonstruktion eines Therapieprozesses von Psychoanalytiker PSA1 mit Analysand A mittels der Beschreibung eines Kontrollanalytikers PSA2.

III. PSYCHOANALYSE

In einer ersten Übertragung des Dialog-Modells auf die Therapiesituation im Format von Typ 3 WP-(PSA2-(PSA1-A))(PSA1-A) wird im Bild 2 angezeigt.

Grundlegend gelten alle Anforderungen des allgemeinen Dialogparadigmas. Als besondere Aspekte sind allerdings hervor zu heben, dass von Seiten des Analysanden nicht nur die sprachlichen Äußerungen von Belang sind, sondern gleichwertig auch alle nicht-sprachlichen Äußerungen. Da nicht-sprachliche Äußerungen von sich aus nicht darauf hinweisen, ob sie eine Bedeutungszuordnung besitzen, erfordert dies vom Psychoanalytiker sehr viel Erfahrung. Auch muss der Psychoanalytiker über sein allgemeines psychoanalytisches Wissen hinaus in der Lage sein, situationsgerecht und bezogen auf die Individualität des Analysanden kontinuierlich neue Deutungshypothesen zu entwickeln.

Bild 6 aus dem Anhang repräsentiert viele zusätzliche Aspekte zu der Therapiesituation zwischen Psychoanalytiker und Analysand. Ganz allgemein präsentiert sich die Psychoanalyse nicht als ein einheitlicher, monolithischer Theorieblock, in vielen Schulen aufgespalten, nicht formalisiert.

Einer eigentlichen Therapie geht  eine Probebehandlung voraus (die bis zu 6 Monate dauern kann), in der sowohl geklärt wird,
(i) welche Art von Störung zur Therapie ansteht, (ii) ob diese überhaupt für eine psychoanalytische Behandlung geeignet ist, und, falls sich eine psychoanalytische Behandlung nahe legt, (iii) es findet ein Gespräch statt zum äußeren Rahmen solch einer Therapie, Pflichte und Rechten der Teilnehmer, verschiedene Spielregeln. Als minimale Zeit für eine Therapie werden 2-3 Jahre angenommen.

In einer psychoanalytischen Therapie liegt der Analysand auf einer Couch, der Therapeut befindet sich nicht im Sichtfeld, und der Austausch findet sowohl mit sprachlichen wie auch mit nicht-sprachlichen Äußerungen statt. Der äußerliche Rahmen einer psychoanalytischen Therapie soll es dem Analysanden ermöglichen, seinen inneren Dialog erfahrbar zu machen. Dies geht natürlich nur bei absoluter Diskretion.
Der therapeutische Dialog weist eine Asymmetrie dahingehend auf, dass der Analysand sich in jeder Richtung ganz persönlich mitteilen kann, der Psychotherapeut hingegen sollte sich mit Persönlichem zurück halten und auf keinen Fall bewerten.

Bei allem Bemühen um Neutralität geht ein Psychoanalytiker nicht ohne spezifische Voreinstellungen in eine Therapie hinein, eben jene Voreinstellungen, die ihn als Psychoanalytiker auszeichnen. Hier sind einige genannt:

1) Existenz Vor-/Un-Bewusstes: Im Analysanden A und im Therapeuten PSA wird ein Vor-/Un-Bewusstes angenommen.
2) Kommunikation Vor-/Un-Bewusstes: Das Vor-/Un-Bewusste kann sich in den unterschiedlichen Äußerungen mitteilen.

3) Keine Normierung: Die Art und Weise, wie sich das Vor-/Un-Bewusste in den verschiedenen Äußerungen mitteilt, ist nicht normiert.
4) Einbeziehung Vor-/Un-Bewusstes von PSA: Der Therapeut PSA muss sein eigens Vor-/Un-Bewusstes im Verstehen und Kommunizieren bis zu einem gewissen Grade einbeziehen, da ansonsten weder das Verstehen ganz funktionieren kann noch das Mitteilen.
5) Neue Befähigung des Analysanden: Erstes Ziel des Therapieprozesses ist es, den Analysanden dazu zu befähigen, sich selbst soweit anders Wahrnehmen und Verstehen zu können, dass sich die Störungen hinreichend und nachhaltig abschwächen.
Für einen Therapeuten ist es also sehr wichtig, dass er in der Lage ist, einen solchen spezifischen Erwartungshorizont aufbauen zu können, der ihn in die Lage versetzt, die unterschiedlichen Äußerungen als potentielle Mitteilungen des Vor-/Un-Bewussten des Analysanden erkennen zu können. Aufgrund der unklaren Äußerungssituation ist die Deutung eines Äußerungsereignisses als potentielle Mitteilung immer eine Hypothese, die falsch sein kann, aufgrund deren aber der Therapeut immer wieder auch eigene
Äußerungen generiert. Diese Äußerungen des Therapeuten PSA können zu ganz unterschiedlichen Reaktionen seitens des Analysanden führen.

Bei aller Professionalität wird jeder Psychoanalytiker neben dem allgemeinen psychoanalytischen Wissen unausweichlich viele individuelle Erfahrungs-/Wissens-/.. Anteile haben, die sich in der Therapie auswirken. Von daher ist auch der Therapieprozess nicht ganz ablösbar von dieser individuellen Note. Es
ist von daher zu vermuten – aber nicht beweisbar –, dass ein Therapieprozess bei einem Psychoanalytiker A hinreichen verschieden von einem Therapieprozess bei einem Psychoanalytiker B verlaufen würde.

IV. ROBOTER

Für die grundsätzliche Frage, ob sich ein menschlicher Psychoanalytiker durch einen maschinellen Psychoanalytiker – also durch einen ’Roboter-Psychoanalytiker’ – ersetzen lässt oder nicht, muss man  die offizielle Beschreibung zum Ausgangspunkt nehmen, die die Psychoanalyse von sich selbst gibt. Hier kann möglicherweise die Situation des Kontroll-Analytikers einen Bezugspunkt bilden. Wie beschreibt ein
Kontroll-Analytiker PSA2 das Verhalten eines Psychoanalytikers PSA1, der in einer Therapiebeziehung zu einem Analysanden A steht? Hier besteht methodisch aktuell noch eine gewisse Unklarheit.

Klar ist nur (siehe hierzu Bild 3), dass ein Roboter-Psychoanalytiker – hier abgekürzt als PSA_robot – über alle Eigenschaften verfügen muss, über die auch ein menschlicher Psychoanalytiker – hier abgekürzt als PSA_hs – verfügt. Die Verbindung vom menschlichen Psychoanalytiker PSA_hs zum maschinellen Psychoanalytiker PSA_robot läuft von der offiziellen psychoanalytischen Beschreibung eines menschlichen Psychoanalytiker – hier abgekürzt als D_psa.hs – zu einer offiziellen Engineering Beschreibung eines maschinellen Psychoanalytikers  – hier abgekürzt als D_psa.robot –. Diese offizielle Beschreibung D_psa.robot wird dann übersetzt in eine entsprechende Software SW_psa.robot , die wiederum dann mit einer geeigneten Hardware HW_psa.robot ’unterlegt’ würde. Diese verschiedenen Übersetzungen kann man auch als Abbildungsprozesse auffassen:

(1) θ_psa : PSA_hs  −→ D_psa.hs
(2) θ_engineer : D_psa.hs  −→ D_psa.robot
(3) θ_design : D_psa.robot  −→ SW_psa.robot
(4) θ_impl : SW_psa.robot  −→ HW_psa.robot

Der Abbildungsprozess θ_psa repräsentiert letztlich eine Theoriebildung innerhalb der Psychoanalyse, innerhalb deren ein Psychoanalytiker beschrieben in einem Dokument beschrieben wird, das wir hier als Theorie annehmen.

Der Abbildungsprozess θ_engineer schildert die Arbeit, wie Ingenieure die Beschreibung eines menschlichen Psychoanalytikers in die Beschreibung für einen maschinellen Psychoanalytiker übersetzen würden.

Die folgenden Abbildungsprozesse θ_design und θ_impl beschreiben dann die fortschreitende Übersetzung der Theorie in Software bzw. in Hardware.

Während die Übersetzung von einer ingenieurmäßigen Beschreibung eines Systems – z.B. eines maschinellen Psychoanalytikers – in Software und Hardware völlig transparent und standardisiert ist (Anmerkung: Eine standardisierte Beschreibung des Systems Engineering (SE) existiert. Bild 4 deutet minimalistisch den Prozesspfeil
an, der im Systems Engineering die verschiedenen genormten Verarbeitungsphasen repräsentiert. Für mehr Details siehe z.B. [EDH11b], [EDH11a]) ist aktuell noch weitgehend unklar, wie denn eine theoretisch adäquate Beschreibung eines menschlichen Analytikers aussehen würde. Aktuell scheint es also so zu sein, dass das ganze Projekt daran hängt, ob überhaupt eine brauchbare theoretische Beschreibung eines menschlichen Psychoanalytikers existiert.

Aus Sicht des Engineerings wäre es allerdings nicht genug, die theoretische Beschreibung eines menschlichen Psychoanalytikers zu haben. Vielmehr müsste man auch den gesamten Verhaltenskontext dazu haben. Dies entspricht in etwa dem gesamten Therapieprozess, innerhalb dessen der Psychoanalytiker nur ein Element ist. Wesentlich dazu gehört der Analysand sowie der konkrete Raum, in dem beide, der Psychoanalytiker und der Analysand, agieren. Im Bild 5 wird dies angedeutet. Bevor der
Ingenieur das Modell eines maschinellen Psychoanalytikers entwerfen würde, würde er eine hinreichend ausführliche Beschreibung des gesamten Therapieprozesses generieren als textbasierte Geschichte, als mathematischer Graph, als Bildergeschichte (Comic) sowie darauf aufbauend als komplette Simulation des Prozesses, allerdings ohne die inneren Details der beteiligten Akteure Psychoanalytiker und Analysand. Diese Modelle mit inneren Zuständen und Verhaltensfunktionen würden erst unter Angabe des Prozesses generiert.

V. FORTSETZUNG

Es bleibt also spannend, wie diese Geschichte sich weiter entwickelt. Die Werkstattgruppe will auf jeden Fall noch eine Sitzung der Philosophiewerkstatt diesem Thema spendieren.

Im Moment sieht es so aus, als ob das Problem, einen maschinellen Psychoanalytiker zu bauen, zunächst daran hängt, überhaupt eine brauchbare theoretische Beschreibung von dem zu bekommen,  was denn die Psychoanalyse unter einem Psychoanalytiker versteht. Mit einer geeigneten theoretischen Beschreibung in der Hand wäre es für die Ingenieure reine Routine, daraus eine funktionierende Maschine
zu bauen, und zwar eine, die genau das tut, was man erwartet. So könnte es aktuell erscheinen …. aber hier gibt es einige sehr vertrackte Fallstricke .. es wird umso spannender, je weiter man in das Thema vordringt …

VI. ANHANG : GEDANKENSKIZZE VOM 28.J ANUAR 2018

Bild 6 repräsentiert viele spezielle Aspekte des Dialoges zwischen Psychoanalytiker und Analysand in einer Therapie.

Gedankenskizze aus dem Werkstattgespräch vom 28.Januar 2018
Gedankenskizze aus dem Werkstattgespräch vom 28.Januar 2018

QUELLEN

[EDH11a] Louwrence Erasmus and Gerd Doeben-Henisch. A theory of the system engineering management processes. In 9th IEEE AFRICON Conference. IEEE, 2011.
[EDH11b] Louwrence Erasmus and Gerd Doeben-Henisch. A theory of the system engineering process. In ISEM 2011 International Conference. IEEE, 2011.

Eine Fortsetzung findet sich HIER.

KONTEXTE

Einen Überblick über alle Einträge zur Philosophiewerkstatt nach Titeln findet sich HIER.

Einen Überblick über alle Themenbereiche des Blogs finden sich HIER.

EINLADUNG zur PHILOSOPHIEWERKSTATT: PSYCHOANALYSE DURCH ROBOTER? So, 28.Jan.2018, 15:00h, im INM (Frankfurt)

THEMA

Ausgehend von den Themenvorschlägen von der letzten Philosophiewerkstatt am 28.November 2017 und den beginnenden Gesprächen zwischen Jürgen Hardt (Psychoanalytiker) und Gerd Doeben-Henisch (Wissenschaftsphilosoph, KI-Forscher) zum Thema ‚Kann der Psychoanalytiker durch einen intelligenten Roboter ersetzt werden?‘ wird für das Treffen am So, 28.Januar 2018 als Thema (leicht salopp formuliert) „Psychoanalyse durch Roboter?“ gewählt.

Zwar glauben alle einschlägigen Experten im Feld der Psychoanalyse bislang, dass solch ein Zukunftsszenarium für lange Zeit nicht möglich sein wird, vielleicht ist es sogar grundsätzlich nicht möglich, aber philosophisches und wissenschaftliches Denken hört nicht bei herrschenden Meinungen auf, sondern fängt genau da an.

Da die Analyse des Verhältnisses zwischen einem Psychoanalytiker als Akteur und einem einem Patienten als Akteur   kaum umhin können wird, auch die Frage nach dem zugrunde liegenden Menschenbild anzusprechen,  darf man davon ausgehen, dass sich die Themenwünsche von der letzten Philosophiewerkstatt  in diesem Diskurskontext alle wiederfinden werden.

WO

INM – Institut für Neue Medien, Schmickstrasse 18, 60314 Frankfurt am Main (siehe Anfahrtsskizze). Parken: Vor und hinter dem Haus sowie im Umfeld gut möglich.

WER

Moderation: Prof.Dr.phil Dipl.theol Gerd Doeben-Henisch (Frankfurt University of Applied Sciences, Mitglied im Vorstand des Instituts für Neue Medien)

ZEIT

Beginn 15:00h, Ende 18:00h. Bitte unbedingt pünktlich, da nach 15:00h kein Einlass.

ESSEN & TRINKEN

Es gibt im INM keine eigene Bewirtung. Bitte Getränke und Essbares nach Bedarf selbst mitbringen (a la Brown-Bag Seminaren)

EREIGNISSTRUKTUR

Bis 15:00h: ANKOMMEN

15:00 – 15:40h GEDANKEN ZUM EINSTIEG (Erste Deutungsversuche von Gerd Doeben-Henisch aus Sicht der Wissenschaftsphilosophie, dann Gegenrede, Kommentierungen von Jürgen Hardt aus Sicht der Psychoanalyse)

15:40 – 16:30h: GEMEINSAMER DISKURS ALLER (Fragen, Kommentare…, mit Gedankenbild/ Mindmap)

16:30 – 16:40h PAUSE

16:40– 17:00h: Zeit zum INDIVIDUELLEN FÜHLEN (manche nennen es Meditation, individuell, freiwillig)

17:00 – 17:10h: ASSOZIATIONEN INDIVIDUELL (privat)

17:10 – 17:50h: Zweite GESPRÄCHSRUNDE (Mit Gedankenbild/ Mindmap)

17:50– 18:00h: AUSBLICK, wie weiter

Ab 18:00h: VERABSCHIEDUNG VOM ORT

Irgendwann: BERICHT(e) ZUM TREFFEN, EINZELN, IM BLOG (wäre schön, wenn)

Irgendwann: KOMMENTARE ZU(M) BERICHT(en), EINZELN, IM BLOG (wäre schön, wenn)

KONTEXTE

Einen Überblick über alle Einträge zur Philosophiewerkstatt nach Titeln findet sich HIER.

Einen Überblick über alle Themenbereiche des Blogs finden sich HIER.

Mit freundlichen Grüßen,

Gerd Doeben-Henisch

DAS PHILOSOPHIE JETZT PHILOTOP

Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild
ISSN 2365-5062, 30.Nov. 2017
URL: cognitiveagent.org
info@cognitiveagent.org

Autor: cagent
Email: cagent@cognitiveagent.org

Worum geht’s — Meine Antwort auf die von vielen gestellte
Frage, wie denn die  verschiedenen Seiten untereinander zusammen hängen, war zu schnell (siehe den Blogeintrag vom 14.November ). Hier eine Korrektur.

I. EIN PHILOTOP

Wie man unschwer erkennen kann, ist das Wort
’Philotop’ eine Übertragung von dem Wort ’Biotop’.
Für Biologen ist klar, dass man einzelne Lebensformen
eigentlich nur angemessen verstehen kann, wenn
man ihren gesamten Lebensraum mit betrachtet:
Nahrungsquellen, Feinde, ’Kollaborateure’, Klima, und
vieles mehr.

Ganz ähnlich ist es eigentlich auch mit dem Blog
’Philosophie Jetzt: Auf der Suche …’. Auch diese Ideen
haben sehr viele Kontexte, Herkünfte, wechselseitige
Interaktionen mit vielen anderen Bereichen. Ohne diese
Kontexte könnte der Blog vielleicht gar nicht ’atmen’.

Im Blogeintrag vom 14.November 2017 wurde
verwiesen auf die monatliche Philosophiewerkstatt, in
der in einer offenen Gesprächsrunde Fragestellungen
gemeinsam gedacht werden. Seltener gibt es
die Veranstaltung Philosophy-in-Concert, in der philosophische Ideen, eingebettet in experimentelle Musik, Bildern und Texten ihren Empfänger suchen und
sich auch auf ein Gespräch einlassen.

Schaubild vom Philotop ( die 'Kernbereiche') :-)
Schaubild vom Philotop ( die ‚Kernbereiche‘) 🙂

Die Wechselwirkung mit den nächsten beiden
Blogs liegt für manche vielleicht nicht so auf der
Hand. Aber bedingt durch die langjährige Lehr-
und Forschungstätigkeit von cagent im Bereich des
Engineerings stellte sich heraus, dass gerade das
Engineering der Welt riesige Potentiale für eine
moderne Philosophie bietet, und dies nicht nur einfach
als begriffs-ästhetische Spielerei, sondern mit einem
sehr konkreten Impakt auf die Weise, wie Ingenieure die
Welt sehen und gestalten. Daraus entstand ein Projekt,
das bislang keinen wirklich eigenen Namen hat.

Umschrieben wird es mit ’Integrated Engineering of
the Future’, also ein typisches Engineering, aber eben
’integriert’, was in diesem Kontext besagt, dass die
vielen methodisch offenen Enden des Engineerings hier
aus wissenschaftsphilosophischer Sicht aufgegriffen und
in Beziehung gesetzt werden zu umfassenderen Sichten
und Methoden. Auf diese Weise verliert das Engineering
seinen erratischen, geistig undurchdringlichen Status
und beginnt zu ’atmen’: Engineering ist kein geist-
und seelenloses Unterfangen (wie es von den Nicht-
Ingenieuren oft plakatiert wird), sondern es ist eine
intensive Inkarnation menschlicher Kreativität, von
Wagemut und zugleich von einer rationalen Produktivität,
ohne die es die heutige Menschheit nicht geben würde.

Das Engineering als ein Prozess des Kommunizierens
und darin und dadurch des Erschaffens von neuen
komplexen Strukturen ist himmelhoch hinaus über
nahezu allem, was bildende Kunst im Kunstgeschäft
so darbietet. Es verwandelt die Gegenart täglich und
nachhaltig, es nimmt Zukünfte vorweg, und doch fristet
es ein Schattendasein. In den Kulturarenen dieser Welt,
wird es belächelt, und normalerweise nicht verstanden.
Dies steht  im krassen Missverhältnis zu seiner Bedeutung.
Ein Leonardo da Vinci ist ein Beispiel dafür, was es
heißt, ein philosophierender Ingenieur gewesen zu sein,
der auch noch künstlerisch aktiv war.
Innerhalb des Engineerings spielt der Mensch in
vielen Rollen: als Manager des gesamten Prozesses, als mitwirkender Experte, aber auch in vielen Anwendungssituationen als der intendierte Anwender.

Ein Wissen darum, wie ein Mensch wahrnimmt, denkt,
fühlt, lernt usw. ist daher von grundlegender Bedeutung. Dies wird in der Teildisziplin Actor-Actor-Interaction (AAI) (früher, Deutsch, Mensch-Maschine Interaktion oder,
Englisch, Human-Machine Interaction), untersucht und methodisch umgesetzt.

Die heute so bekannt gewordene Künstliche Intelligenz
(KI) (Englisch: Artificial Intelligence (AI)) ist ebenfalls ein
Bereich des Engineerings und lässt sich methodisch
wunderbar im Rahmen des Actor-Actor Interaction
Paradigmas integriert behandeln. Im Blog wird es unter
dem Label Intelligente Maschinen abgehandelt.
Sehr viele, fast alle?, alle? Themen aus der
Philosophie lassen sich im Rahmen des Engineerings,
speziell im Bereich der intelligenten Maschinen als Teil
des Actor-Actor-Interaction Paradigmas neu behandeln.

Engineering ist aber nie nur Begriffsspielerei.
Engineering ist immer auch und zuvorderst Realisierung
von Ideen, das Schaffen von neuen konkreten Systemen,
die real in der realen Welt arbeiten können. Von daher
gehört zu einer philosophisch orientierten künstlichen
Intelligenzforschung auch der Algorithmus, das lauffähige
Programm, der mittels Computer in die Welt eingreifen
und mit ihr interagieren kann. Nahezu alle Themen der
klassischen Philosophie bekommen im Gewandte von
intelligenten Maschinen eine neue Strahlkraft. Diesem
Aspekt des Philosophierens wird in dem Emerging-Mind
Lab Projekt Rechnung getragen.

Mit dem Emerging-Mind Lab und dessen Software
schließt sich wieder der Kreis zum menschlichen
Alltag: im Kommunizieren und Lernen ereignet sich
philosophisch reale und mögliche Welt. Insoweit intelligenten Maschinen aktiv daran teilhaben können, kann dies die Möglichkeiten des Menschen spürbar erweitern. Ob zum Guten oder Schlechten, das entscheidet
der Mensch selbst. Die beeindruckende Fähigkeit von
Menschen, Gutes in Böses zu verwandeln, sind eindringlich belegt. Bevor wir Maschinen verteufeln, die wir
selbst geschaffen haben, sollten wir vielleicht erst einmal
anfangen, uns selbst zu reformieren, und dies beginnt
im Innern des Menschen. Für eine solche Reform des
biologischen Lebens von innen gibt es bislang wenig bis
gar keine erprobten Vorbilder.

KONTEXT BLOG

Einen Überblick über alle Blogeinträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.

Einen Überblick über alle Themenbereiche des Blogs findet sich HIER.

Das aktuelle Publikationsinteresse des Blogs findet sich HIER

KÜNSTLICHE INTELLIGENZ – Newell und Simon 1976

PDF

IDEE

Im Jahr 2017 nimmt die Erwähnung von sogenannter Künstlicher Intelligenz außerhalb der Wissenschaften, im öffentlichen Bereich, fast inflatorisch zu. Zugleich muss man feststellen, dass Erklärungen des Begriffs ‚Künstliche Intelligenz‘ wie auch anderer Begriffe in seinem Umfeld Mangelware sind. Es wird daher ab jetzt mehr Blogeinträge geben, die auf diese Thematik gezielter eingehen werden. Hier ein erster Beitrag mit Erinnerung an einen wichtigen Artikel von Newell and Simon 1976.

I. INFORMATIK ALS EMPIRISCHE WISSENSCHAFT

Informatik als empirische Disziplin (nach Newell und Simon, 1976)
Informatik als empirische Disziplin (nach Newell und Simon, 1976)

Im Jahr 1975 empfingen Allen Newell und Herbert A.Simon den angesehenen ACM Turing Preis von der ACM aufgrund ihrer vielen wichtigen Beiträge zur Künstlichen Intelligenzforschung in den vorausgehenden Jahren. Die Preisrede beider Autoren wurde in den Communications of the ACM 1976 abgedruckt (siehe: NewellSimon:1976).

In dieser Rede wagen die Autoren eine generelle Sicht auf die Informatik (‚computer science‘), die Akzente erkennen lässt, die von heutigen Auffassungen von Informatik — zumindest wie sie in Deutschland üblich sind — doch deutlich abweicht.

Für die beiden Autoren ist die Informatik eine empirische Wissenschaft, deren Interesse darin besteht, das Verhalten von Menschen, dort, wo es Intelligenz erkennen lässt, in ein theoretisches Modell zu übersetzen, das sich dann als eine konkrete Maschine (ein Computer, ein Roboter) physikalisch realisieren lässt. Man kann dann diese konkrete Maschine dazu benutzen, Tests durchzuführen, durch die man überprüfen kann, ob sich die gebaute Maschine hinreichend ähnlich wie ein Mensch verhält oder aber davon deutlich abweicht. Liegen Abweichungen vor, dann muss man den Sachverhalt weiter ergründen und versuchen, ob man das theoretische Modell verbessern kann.

Für sie erscheint der Mensch als eine Art Standardmodell für Intelligenz, allerdings nicht so, dass man den Begriff ‚Intelligenz‘ mit einer einzigen Verhaltensweise oder mit einem einzigen Prinzip identifizieren könnte. Das vielfältige menschliche Verhalten verweist nach den Autoren vielmehr auf eine Vielzahl von Komponenten, deren Zusammenwirken zu einem als ‚intelligent‘ wirkenden Verhalten führt. Für das Erkennen einer möglichen ‚Intelligenz‘ ist es ferner wichtig, dass man den ganzen Kontext berücksichtigt, in dem spezifische Aufgaben vorliegen, die gelöst werden sollten.

Durch ihre Forschungsarbeiten zu symbolischen Systemen und zur heuristischen Suche haben Newell und Simon herausgefunden, dass die Klärung eines Problemraumes nur dann besser als zufällig sein kann, wenn der Problemraum minimale Regelhaftigkeiten, eine minimale Ordnung aufweist, die — sofern sie erkannt wurde — dann in Form spezieller Informationen angesammelt werden kann und dann, nach Bedarf, bei der Klärung des Problemraumes genutzt werden kann. Und es ist genau diese spezifische angesammelte Information die die Autoren mit Intelligenz gleichsetzen! Ein Mensch kann nur dann gezielter, schneller eine Aufgabe lösen, wenn er über spezielle Informationen (Wissen) verfügt, die ihn in die Lage versetzen, genau jene Verhaltensweisen zu zeigen, die schnell und effizient zum Ziel führen.

Überträgt man dies auf die theoretischen Modelle der Informatik, dann muss man Wege finden, spezifisches Bereichswissen (engl.: ‚domain knowledge‘) für ein intelligentes Verhalten in geeignete Datenstrukturen und Prozesse zu übersetzen. Auf die vielen Beispiele und Details zu diesen Überlegungen wird hier verzichtet [diese kann jeder in dem Artikel nachlesen ….].

II. DISKURS

Hier einige Überlegungen im Anschluss an den Artikel von Newell und Simon.

A. Intelligenz

Zunächst ist interessant, dass die Verwendung des Begriffs ‚Intelligenz‘ gebunden wird an das Verhalten von Menschen, wodurch der Mensch als undiskutierter Maßstab für mögliche Intelligenz gesetzt wird.

Daraus folgt nicht notwendigerweise, dass es jenseits des Menschen keine andere Formen von Intelligenz gibt, sondern nur, dass man den Typ von Intelligenz, der beim Menschen vorliegt und sichtbar wird, vorläufig als Standard benutzen möchte. Also eine Intelligenz mit Index: Intelligenz_human.

Das macht auch verständlich, dass man als wichtige empirische Wissenschaft in Begleitung der Informatik die kognitive Psychologie sieht, die sich u.a. auch mit der sogenannten ‚Informationsverarbeitung im Menschen‘ beschäftigt.

Es wundert dann allerdings, dass die Autoren den im Rahmen der Psychologie eingeführten Begriff des Intelligenz-Quotienten (IQ) samt den dazugehörigen erprobten Messverfahren nicht benutzen, nicht einmal erwähnen. Dies würde die Möglichkeit eröffnen, die Verhaltensleistung von technischen Systemen entsprechend zu messen und direkt mit Menschen zu vergleichen. Der oft zitierte Turing-Test (nicht von den beiden Autoren) ist verglichen mit den Testbatterien des IQ-Quotienten mehr als dürftig und nahezu unbrauchbar.

Durch den Verzicht auf die sehr detailliert ausgearbeiteten Testbatterien der Psychologie bleibt die Charakterisierung des Begriffs ‚Intelligenz‘ in der Informatik weitgehend vage, fast beliebig.

An dieser Stelle könnte man einwenden, dass in der Informatik andere Aufgabenstellungen untersucht werden als in der Psychologie üblich bzw. andere Aufgabenstellung, die Menschen in dieser Weise nicht angehen, dadurch wir die Verwendung des Begriffs ‚Intelligenz‘ aber noch undurchsichtiger, geradezu ominös.

Obgleich Newell und Simon betonen, dass sie die Informatik als eine empirische Theorie sehen, bleibt der ganze Komplex des tatsächlichen objektiven Messens etwas vage. Zum objektiven Messen gehören zuvor vereinbarte Standards, die beim Messen als Referenzen benutzt werden, um ein Zielobjekt zu ‚vermessen‘. Wenn das zu messende Zielobjekt ein Verhalten sein soll (nämlich das Verhalten von Maschinen), dann muss zuvor sehr klar definiert sein, was denn das Referenz-Verhalten von Menschen ist, das in einem (welchen?) Sinn als ‚intelligent‘ angesehen wird und das dazu benutzt wird, um das Maschinenverhalten damit zu vergleichen. Es ist weder bei Newell und Simon klar zu sehen, wie sie ihr Referenzverhalten von Menschen zuvor klar definiert haben, noch sind die Messprozeduren klar.

Der grundsätzliche Ansatz von Newell und Simon mit der Informatik als empirischer Disziplin (zumindest für den Bereich ‚Intelligenz) erscheint auch heute noch interessant. Allerdings ist das begriffliche Chaos im Kontext der Verwendung des Begriffs ‚Intelligenz‘ heute zu einem notorischen Dauerzustand geworden, der es in der Regel unmöglich macht, den Begriff von ‚künstlicher Intelligenz‘ in einem wissenschaftlichen Sinne zu benutzen. Jeder benutzt ihn heute gerade mal, wie es ihm passt, ohne dass man sich noch die Mühe macht, diese Verwendung irgendwie transparent zu machen.

B. Lernen

Während Newell und Simon im Fall des Begriffs ‚Intelligenz‘ zumindest ansatzweise versuchen, zu erklären, was sie damit meinen, steht es um den Begriff ‚Lernen‘ ganz schlecht.

Explizit kommt der Begriff ‚Lernen‘ bei den Autoren nicht vor, nur indirekt. Dort wo heuristische Suchprozesse beschrieben werden, die mit Hilfe von symbolischen Systemen geleistet werden, stellen sie fest, dass man aufgrund ihrer empirischen Experimente wohl (in dem theoretischen Modell) annehmen muss, dass man Informationen speichern und verändern können muss, um zu jenem Wissen kommen zu können, das dann ein optimiertes = intelligentes Verhalten ermöglicht.

Aus psychologischen Lerntheorien wissen wir, dass ‚Intelligenz‘ und ‚Lernen‘ zwei unterschiedliche Eigenschaften eines Systems sind. Ein System kann wenig intelligent sein und doch lernfähig, und es kann sehr intelligent sein und doch nicht lernfähig.

Nimmt man die Charakterisierung von Newell und Simon für ‚Intelligenz‘ dann handelt es sich um ein ’spezielles Wissen‘ zum Aufgabenraum, der das System in die Lage versetzt, durch ein ‚gezieltes Verhalten‘ schneller ans Ziel zu kommen als durch rein zufälliges Verhalten. Eine solche Intelligenz kann einem System zur Verfügung stehen, auch ohne Lernen, z.B. (i) bei biologischen Systemen als eine genetisch vererbte Verhaltensstruktur; (ii) bei technischen Systemen durch eine volle Konfiguration durch Ingenieure. Bei biologischen Systeme tritt allerdings ‚Intelligenz‘ nie isoliert auf sondern immer in Nachbarschaft zu einer Lernfähigkeit, weil die dynamische Umwelt biologischer Systeme beständig neue Anpassungen verlangt, die nicht alle vorher gesehen werden können. Im Fall technischer Systeme mit begrenzter Lebensdauer und definiertem Einsatz war dies (und ist dies) weitgehend möglich.

Wenn man von ‚Künstlicher Intelligenz‘ spricht sollte man daher die beiden Strukturen ‚Intelligenz‘ und ‚Lernen‘ sehr klar auseinander halten. Die Fähigkeit, etwas zu lernen, erfordert völlig andere Eigenschaften als die Struktur eines Wissens, durch das ein System sich ‚intelligent‘ statt ‚zufällig‘ verhalten kann.

C. Theorie

Die Forderung von Newell und Simon, die Informatik als eine ‚empirische Wissenschaft‘ zu betrachten, die richtige theoretische Modelle (= Theorien) konstruiert und diese über realisierte Modelle dann empirisch überprüft, hat im Rahmen des allgemeinen Systems Engineerings auch heute noch einen möglichen Prozess-Rahmen, der alle diese Forderungen einlösen kann. Allerdings hat es sich in der Informatik eingebürgert, dass die Informatik einen Sonderweg kreiert hat, der unter der Überschrift Softwareengineering zwar Teilaspekte des generellen Systemsengineerings abbildet, aber eben nur Teilaspekte; außerdem ist durch die Beschränkung auf die Software ohne die Hardware ein wesentlicher Aspekt des Gesamtkonzepts Computer ausgeklammert. Ferner ist der harte Aspekt einer vollen empirischen Theorie durch die Phasenbildungen ‚logisches Design‘ nur unvollständig abgebildet. Designmodelle sind kein Ersatz für eine richtige Theorie. Für das sogenannte ‚modellgetriebene Entwickeln‘ gilt das Gleiche.

D. Mensch als Maßstab

War es noch für Newell und Simon offensichtlich klar, dass man für den Begriff ‚Intelligenz‘ den Menschen als Referenzmodell benutzt, so ist dies in der heutigen Informatik weitgehend abhanden gekommen. Dies hat einmal damit zu tun, dass der Wissenschaftsbegriff der Informatik samt der meisten Methoden bislang nicht in den allgemeinen, üblichen Wissenschaftsbegriff integriert ist, zum anderen dadurch, dass die Aufgaben, die die intelligenten Maschinen lösen sollen, aus allen möglichen ad-hoc Situationen ausgewählt werden, diese keinen systematischen Zusammenhang bilden, und man in den meisten Fällen gar nicht weiß, wie man den Bezug zum Menschen herstellen könnte. Dadurch entsteht der vage Eindruck, dass die ‚Intelligenz‘ der künstlichen Intelligenzforschung irgendwie etwas anderes ist als die menschliche Intelligenz, von der menschlichen Intelligenz möglicherweise sogar ganz unabhängig ist. Man macht sich allerdings nicht die Mühe, systematisch und zusammenhängend die Verwendung des Begriffs der ‚Intelligenz‘ in der Informatik zu klären. Aktuell hat man den Eindruck, dass jeder gerade mal das behauptet, was ihm gerade gefällt. Auch eine Art von Fake News. Die Marketingabteilungen der großen Konzerne freut es, weil sie nach Belieben alles Versprechen können, was sie wollen, ohne dass irgendjemand sinnvoll nachprüfen kann, was das genau ist, ob das überhaupt geht.

Doch sollte man sich durch diese terminologische Unklarheiten, die auf eine fehlende wissenschaftliche Methodik der Informatik zurück zu führen sind, nicht davon ablenken lassen, zu konstatieren, dass trotz chaotischer Begrifflichkeit im Konkreten und Im Detail seit Newell und Simon 1976 extreme Fortschritte gemacht wurden in speziellen Algorithmen und spezieller Hardware, mit der man heute viel mehr realisieren kann, als sich Newell und Simon damals hätten träumen lassen. Die Vorteile, die man sich durch diese Fortschritte im Konkreten erarbeitet hat, werden aber weitgehend verspielt durch große Theoriedefizite, die zu gerade kuriosen Anschauungen und kuriosen Forschungsprojekten führen. In der KI ist dies aber nichts Neues: es gab sehr unterschiedliche Phasen; alle Fehler führten irgendwann dann doch zu verbesserten Einsichten.

QUELLE

Allen Newell and Herbert A. Simon. Computer science as empirical inquiry: Symbols and search. Communications of the ACM, 19(3):113–126, 1976.

Einen Überblick über alle Blogeinträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.

Einen Überblick über alle Themenbereiche des Blogs findet sich HIER.

Das aktuelle Publikationsinteresse des Blogs findet sich HIER.

„Technische Superintelligenzen werden die Menschheit bedrohen“ – Wie kann man eine so absurde Behauptung aufstellen?

Science-Fiction-Visionen von intelligenten oder gar superintelligenten Maschinen haben eine lange Historie. Besonders in der Hype-Phase der so genannten „Künstlichen Intelligenz (KI)“ in den 1960-1980er Jahren waren Behauptungen en vogue, dass Computeranwendungen die Menschheit in Bezug auf ihre Intelligenz bald einholen oder gar überholen werden – mit unabsehbaren Folgen und Bedrohungen für die Menschheit. “Once the computers got control, we might never get it back. We would survive at their sufferance. If we’re lucky, they might decide to keep us as pets”, meinte z.B. Marvin Minsky im Jahr 1970.

Als Zeithorizont für solche technische Superintelligenzen werden gerne ca. 10-30 Jahre angegeben – egal wann so etwas behauptet wurde. Dieser Zeitrahmen ist anscheinend nah genug, um genug Aufmerksamkeit zu erregen und weit genug weg, um für die Gültigkeit der Behauptungen nicht mehr gerade stehen zu müssen.

Ich habe den Eindruck, dass Behauptungen über technische Superintelligenzen aktuell wieder eine Hochzeit erleben. Dabei werden sie nicht nur von Hollywood, sondern auch von Wissenschaftsjournalisten dankbar aufgegriffen und verwertet. Dass sich frühere Prognosen dieser Art als falsch herausgestellt haben, spielt dabei keine Rolle. Gerne wird auf „Experten“ verwiesen, die sich diesbezüglich (alle) längst einig seien und nur im exakten Zeitpunkt noch nicht ganz sicher seien.

Durch die Frage wann es so weit sei, wird die Diskussion um das „ob“ meiner Meinung nach völlig vernachlässigt. Ich bin Informatiker. Ich beschäftige mich seit über 30 Jahren mit KI, entwickle seit mehreren Jahren KI-Anwendungen für den Unternehmenseinsatz und veröffentliche darüber Artikel und Bücher. Demnach halte ich mich für einen KI-Experten. Und nach meiner Meinung sind Behauptungen von technischen Superintelligenzen absurd.

Derzeit arbeite ich in einem KI-Projekt, in dem wir Software für Ärzte entwickeln, die Krebspatienten behandeln. Ein schöner Nebeneffekt der Arbeit an diesem Projekt ist, dass ich mein Schulwissen in Biologie und insbesondere Genetik auffrischen durfte. Während das früher für mich trockener Schulstoff war, kann ich jetzt nachvollziehen, warum die Ursprünge des Lebens Menschen faszinieren. Ich hatte einige Aha-Effekte, was sie Vielschichtigkeit, Vernetzung und Dynamik von Prozessen des natürlichen Lebens betrifft. Ich möchte diese laienhaft kurz mitteilen, um sie anschließend KI-Anwendungen gegenüberzustellen.

Es gibt chemische und physikalische Grundsätze, nach denen sich Atome zu Molekülen bzw. Molekülketten zusammensetzen – quasi mechanisch nach festen, einfachen Regeln. Und diese einfachen Molekülketten verhalten sich wie kleine Maschinen, die spezielle Aufgaben verrichten. Da gibt es Maschinen, die schneiden die DNA in der Mitte auf; dann gibt es welche, die kopieren die DNA-Information auf RNA; es gibt welche, die prüfen, ob es Kopierfehler gegeben hat und korrigieren diese (aber nicht alle Fehler – es soll ja noch Raum für Mutation bleiben); dann gibt es Maschinen, die lesen RNA, interpretieren sie nach dem genetischen Code und bauen daraus neue Molekülketten: Proteine, aus denen Zellen zusammengesetzt werden.

Wenn ich diese physikalisch-biologischen Vorgänge betrachte frage mich: findet hier gerade der Übergang von toter Materie zum Leben statt? Wo genau?

Und nun geht es weiter: Die Proteine bilden Zellen – kleine Maschinen, die ganz unterschiedliche Aufgaben erfüllen. Manche transportieren Sauerstoff; Manche andere stürzen sich auf Schädlinge und bekämpfen diese; Wiederum andere bauen feste Knochen. Und weiter geht es: Zellen zusammen bilden Organe mit klaren Aufgaben. Eines verdaut unser Essen, eines pumpt Blut und ein Organ vollführt erstaunliche Denkleistungen. Und alle Organe zusammen formen einen Menschen. Dieser wird gezeugt, geboren (jeder der eigene Kinder hat, weiß von der Faszination der Geburt), wächst, lernt, handelt intelligent und stirbt wieder. Viele Menschen zusammen bilden Kulturen, die entstehen, Wissen und Fähigkeiten entwickeln, und wieder vergehen. Diese Kulturen werden von einer intelligenten Spezies, genannt Homo sapiens, geformt. Diese einzelne Spezies entstand durch Evolutionsprozesse, denen sie kontinuierlich unterworfen ist. Wie die meisten Spezies wird sie irgendwann vergehen. Alle Spezies zusammen bilden das Leben auf dieser Erde. Und die Erde ist nur ein einziger Planet eines Sonnensystems einer Galaxie des Universums, über dessen mögliche andere intelligente Lebensformen wir nichts wissen.

Alle diese Ebenen, die ich laienhaft angedeutet habe, sind in sich hoch komplexe Systeme, die alle miteinander verwoben sind. Und vermutlich gibt es genauso viele Ebenen im submolekularen Bereich. Niemand kann ernsthaft behaupten, das komplexe Zusammenspiel über all diese miteinander vernetzten Ebenen auch nur annähernd, geschweige denn vollständig zu begreifen. Was wir heute zu wissen glauben, wird morgen als überholt erkannt und wirft viele neue Fragen für übermorgen auf. Im Ernst zu glauben, dass die unfassbare Komplexität des Lebens, sowie der Intelligenz als einer Ausdrucksform des Lebens, durch Computeranwendungen abgebildet oder gar weit übertroffen werden könnte, scheint mir eine extreme Unterschätzung der Natur oder eine groteske Überschätzung von Wissenschaft und Technik zu sein.

Schauen wir uns doch einmal KI-Anwendungen im Detail an. KI-Anwendungen werden stets zu einem speziellen Zweck entwickelt. So kann z.B. IBMs Deep Blue Schach spielen und Googles AlphaGo kann Go spielen. Beide Systeme übertreffen dabei die menschlichen Welt- und Großmeister. IBM Watson kann Fragen des allgemeinen Lebens beantworten – selbst wenn sie knifflig und mit Wortwitz gestellt sind – und schlägt alle menschlichen Champions der Quizshow Jeopardy! Selbstfahrende Autos erreichen ihre Ziele unter korrekter Berücksichtigung der Verkehrsregeln – vermutlich bereits in naher Zukunft sicherer als menschliche Fahrer.

All dies sind faszinierende Beispiele für mächtige KI-Anwendungen, die ich persönlich vor 20 Jahren nicht für möglich gehalten hätte. Aber sicher ist auch: Deep Blue wird niemals von sich aus anfangen, Go zu spielen, oder Quizfragen zu beantworten. IBM Watson kann nicht Schachspielen und wird es auch nicht lernen, egal in wie viel Quizshows die Anwendung eingesetzt wird. Und das selbstfahrende Auto wird nicht plötzlich auf die Idee kommen, sich für das Präsidentenamt zu bewerben, die Wahl gewinnen, anschließend die Demokratie und schlussendlich die Menschheit abschaffen. Das ist einfach absurd und gehört in den Bereich der Fiktion.

Alle diese KI-Anwendungen wurden von Informatikern und anderen Ingenieuren entwickelt. Intern werden u.A. Techniken des Machine Learning (ML) eingesetzt, meist das sogenannte „Supervised Learning“. Dabei werden Beispieldaten verwendet. So werden z.B. viele unterschiedliche Bilder von Stoppschildern, inklusive der Information, dass es sich jeweils um ein Stoppschild handelt, geladen. Mithilfe statistischer Methoden werden Modelle entwickelt, die es erlauben, bei neuen Bildern mit einer großen Wahrscheinlichkeit korrekt zu erkennen, ob ein Stoppschild abgebildet ist oder nicht. Dies kann dann in selbstfahrenden Autos für Fahrentscheidungen genutzt werden.

Also: die Anwendung lernt nicht von selbst, sondern mittels Eingabe von Beispielen durch Ingenieure („Supervisor“ im Supervised Learning). Wenn die Erkennungsraten nicht gut genug sind, ändern die Ingenieure entsprechende Parameter und starten das Lernverfahren erneut. Mit menschlichem Lernen kann das kaum verglichen werden.

Eine KI-Technik, die etwas mehr Ähnlichkeit zum Lernen eines Menschen hat, ist das sogenannte „Reinforcement Learning“. Dabei wird eine Umgebung eingesetzt, in der die Computeranwendung selbst Beispiele erzeugen und ausprobieren kann. Somit ist es möglich, ein Modell zu erzeugen, ohne dass dafür ein menschlicher Supervisor nötig ist. Zum Beispiel kann man ein Schachprogramm immer wieder gegen sich selbst (bzw. gegen ein anderes Schachprogramm) spielen lassen und die Machine Learning Verfahren auf die Verläufe und Ergebnisse dieser Spiele anwenden. Was jedoch Ingenieure vorgeben müssen, ist eine sogenannte Nutzenfunktion, z.B. „es ist positiv, ein Schachspiel zu gewinnen und es ist negativ, eines zu verlieren“. Würde man aus Spaß das Vorzeichen der Nutzenfunktion vertauschen, so würde die KI-Anwendung trainiert, Schachspiele möglichst schnell zu verlieren. Für die Anwendung wäre das überhaupt kein Problem. Sie spürt ja gar nichts, auch nicht die Auswirkungen eines verlorenen Schachspiels. Den Anreiz, eine Anwendung zu entwickeln, die Schachspiele auch gewinnt, haben die Ingenieure. Sie geben alles Notwendige von außen vor – nicht die KI-Anwendung aus sich heraus.

Im Gegensatz zur KI-Anwendung haben Menschen jedoch einen Körper. Babys verspüren Hunger und lernen von sich aus, sich so zu verhalten, dass sie etwas zu essen bekommen (Schreien hilft meist). Kinder brauchen den Zuspruch und die Zuneigung der Eltern und lernen sich so zu verhalten, dass sie Zuspruch und Zuneigung auch erhalten. Jugendliche und junge Erwachsene lernen, wie sie sich in ihrer Gesellschaft zu verhalten haben, um zu überleben – so unterschiedlich Gesellschaften auch sein können. Sie lernen aus sich heraus, weil sie Körper und Geist haben und wirklich in ihrer Umgebung leben – quasi die Resultate ihres Handelns hautnah spüren. KI-Anwendungen werden im Gegensatz dazu ausschließlich von außen durch Ingenieure gestaltet, auch wenn Techniken des Machine Learning eingesetzt werden.

KI-Anwendungen laufen auf Computer-Hardware. Wie die Anwendungen ist auch die Hardware von Ingenieuren entwickelt worden. Auch wenn wir die Metapher der „Generationen“ verwenden (wir reden z.B. von einer „neuen Prozessorgeneration“), hat dies selbstverständlich nichts mit Fortpflanzung in der Natur zu tun. Ein Prozessor kommt nicht auf die Idee, einen neuen Prozessor zu entwickeln und er zeugt auch keinen Prozessor, der mittels Evolution plötzlich besser ist als sein Vater.

Vergleichen wir nun KI-Anwendungen mit biologischem, intelligentem Leben: Auf der einen Seite beobachten wir ein unfassbar komplexes, vielschichtiges, dynamisches, selbstorganisierendes System – die vielen Schichten bzw. Ebenen habe ich laienhaft oben angedeutet. Auf der anderen Seite haben wir ein menschengemachtes, zweischichtiges System, bestehend aus KI-Anwendung und Computer-Hardware. Beide Schichten sind in sich starr und nicht selbstorganisierend. Die Dynamik (neue Hardwaregenerationen, bessere Algorithmen etc.) kommt von außen durch menschliche Ingenieursleistung. Wie kann man nun nüchtern betrachtet zur Behauptung kommen, dass dieses starre, menschengemachte System irgendwie plötzlich und von selbst dynamisch, selbstorganisierend, lebendig und intelligent wird: eine technische Superintelligenz, welche die Menschheit bedrohen kann? Ich kann beim besten Willen nicht den allerkleinsten Ansatz dafür sehen.

Bleibt die Frage, warum es immer wieder (einzelne) Fachexperten wie Marvin Minsky gibt, die solche, aus meiner Sicht absurden, Behauptungen aufstellen. Ist es ihr Ziel, Aufmerksamkeit zu erzeugen? Können sie eventuell daraus finanziellen Nutzen zu ziehen, z.B. in Form von Fördergeldern (das hat in den 1980er Jahren prima funktioniert)? Glauben sie wirklich daran und sorgen sie sich um die Menschheit? Sind solche ernst gemeinten Behauptungen vielleicht der Ausdruck einer schon fast ideologischen Wissenschafts- und Technikgläubigkeit? Ich weiß es nicht.

Dabei sind die Fortschritte der KI, vor allem in den letzten 20 Jahren, in der Tat höchst beeindruckend. Und tatsächlich bergen sie neben zahlreichen Chancen auch größte Risiken, wenn die Techniken blauäugig angewendet werden. In der Ausgabe 2/2017 der Communications of the ACM schreibt Alan Bundy in seinem Viewpoint sehr pointiert und aus meiner Sicht richtig: „Smart machines are not a threat to humanity. Worrying about machines that are too smart distracts us from the real and present threat from machines that are too dumb“.

Menschen überlassen KI-Anwendungen zunehmend wichtige Entscheidungen, obwohl selbstverständlich keine Anwendung perfekt ist. Bei selbstfahrenden Autos mag das durchaus sinnvoll sein, sobald diese nachweislich sicherer fahren als Menschen. Aber wirklich gefährlich wird es bei Entscheidungen, deren Auswirkungen kein Mensch mehr überblicken kann. Ein viel diskutiertes Gebiet ist der Hochfrequenzhandel, bei dem KI-Anwendungen Kauf- und Verkaufsentscheidungen autonom treffen, ohne dass heute die Auswirkungen auf das gesamte Wirtschaftssystem überblickt werden können. Noch deutlicher wird das im militärischen Bereich, wenn KI-Anwendungen prognostizieren sollen, ob ein Angriffsfall vorliegt und im Extremfall in Sekundenbruchteilen autonom über einen (möglicherweise nuklearen) Gegenschlag entscheiden sollen. Über solche KI-Anwendungen wurde bereits 1983 im Rahmen der Strategic Defense Initiative (SDI) intensiv diskutiert (bezeichnenderweise während der Hochzeit des KI-Hypes); und solche Diskussionen kommen leider immer wieder auf die Tagesordnung.

Wenn eine überhöhte Technik- und Wissenschaftsgläubigkeit nur dazu führt, absurde Behauptungen über technische Superintelligenzen aufzustellen, so ist das nicht weiter schlimm – sie provozieren nur harmlose akademische Diskussionen oder inspirieren amüsante Science Fiction Filme. Wenn wir aber als Gesellschaft – und besonders die politischen und wirtschaftlichen Entscheider – die Grenzen von Wissenschaft und Technik nicht klar sehen und folglich KI-Anwendungen Entscheidungen überlassen, die zwingend von verantwortlichen Menschen getroffen werden müssen, so kann dies fatale Folgen für unsere Gesellschaft haben.

Anmerkung:

Im Anschluss an diesen Artikel gab es eine Vortragsveranstaltung in der Reihe Philosophie Jetzt im Gespräch am 28.September 2017

NUR EIN SOUND MIT STIMME – ZEITALTER DER KÜNSTLICHEN INTELLIGENZ – Prolog

Dies ist nur ein Sound mit einer Stimme:

Empfohlen: Guter Kopfhöer oder Soundanlage; entspannte Haltung wäre günstig, Augen geschlossen? Dauer ca.18 Min … Man muss aber nicht. Menschen müssen grundsätzlich nicht, sie können …

 

Fortsetzung (8.4.2017): Gedanken ohne Stimme

 

Einen Überblick über alle Blogeinträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.

Einen Überblick über alle Themenbereiche des Blogs findet sich HIER.

(MASCHINELLES) BEWUSSTSEIN – ALLTAGSERKENNEN – ZURÜCK AUF START

(A shorter version in English can be found HERE)

KONTEXT: WELT DER INGENIEURE

  1. Seit letztem Sommer arbeite ich bei einem Buchprojekt mit, bei dem es eigentlich um die Welt der Ingenieure geht: Wie löst ein Ingenieur ein Problem? Sozusagen vom ‚Problem‘ zum ‚fertigen Produkt‘. Zu diesem Thema gibt es viele dicke Bücher und internationale Standards, viele hundert Artikel. Dennoch gibt es hier viele offene Fragen, z.B. auch die nach den Erkenntnisprozessen, die in Ingenieuren ablaufen müssen, damit sie ein Problem in eine funktionierende Lösung transformieren können. Unter welchen Voraussetzungen kann eine Kommunikation zwischen Ingenieuren gelingen? Gibt es eine innere Logik in diesem Prozess? Und was ist mit den intelligenten Programmen und Maschinen, die immer mehr Teil dieses Prozesses sind und sein werden? Was ist eigentlich ‚Künstliche Intelligenz‘? Was kann sie wirklich? Könnte eine Maschine menschlich kommunizieren? Kann eine Maschine ein maschinelles Bewusstsein haben, das eine Kooperation mit Menschen im menschlichen Stil ermöglicht?

MASCHINELLES BEWUSSTEIN

  1. Dies sind einige der Fragen. Die Frage nach einem maschinellen Bewusstsein wurde in diesem Blog bisweilen schon angerissen. Damit zusammenhängend stellt sich – zumindest methodisch – sofort die Frage, was wir denn unter dem Begriff ‚Bewusstsein‘ verstehen können oder sollen? Macht es Sinn, von einem ‚maschinellen Bewusstsein‘ zu sprechen, wenn wir doch gar nicht wissen, was ein ‚Bewusstsein‘ sein soll? Hier stellen sich viele spannende Fragen; einige davon wurden in diesem Blog auch schon diskutiert.

BEWUSSTSEIN UND NEURONALE KORRELATE

  1. Speziell die Frage nach dem menschlichen Bewusstsein hat schon immer Philosophen beschäftigt, später, in der Neuzeit, auch Psychologen, und dann, noch später, seit einigen Jahrzehnten zunehmend die Neurowissenschaften bzw. die Neuropsychologie. Der Begriff der ’neuronalen Korrelate des Bewusstseins‘ ist mittlerweile weit verbreitet. Ganz allgemein werden damit Gehirnaktivitäten gemeint, die mit Bewusstseinsprozessen einhergehen sollen. Die Zahl der Publikationen zu diesem Thema geht in die Hunderte. Dennoch wird man sich schwer tun, in irgendeiner dieser Publikationen eine brauchbare Definition von ‚Bewusstsein‘ zu finden, die unabhängig von neurowissenschaftlichen Tatbeständen ist. Von daher bewegen sich diese Publikationen weitgehend in einem hermeneutischen Zirkel: sie versuchen neuronale Korrelate des Bewusstseins zu definieren, ohne dass sie den Begriff ‚Bewusstsein‘ unabhängig von Gehirnaktivitäten definieren. Vereinfacht wird ein Bündel von Gehirnaktivitäten genommen und erklärt, dass immer dann, wenn diese auftreten, bewusste Aktivitäten vorliegen, ohne dass diese bewussten Aktivitäten in einem selbständigen theoretischen Modell erklärt werden bzw. unabhängig von den neuronalen Aktivitäten gemessen werden.
  2. Die Methodendiskussionen im Kontext der Neurowissenschaften – auch unter Einbeziehung der Neuropsychologie – erscheinen von daher bislang eher unbefriedigend.

MACHINELLES BEWUSSTSEIN – KI

  1. Hier gibt es einen interessanten Nebenkriegsschauplatz, von dem man sich auf den ersten Blick vielleicht kaum Erkenntnisse für die Frage ‚Bewusstsein – Gehirn‘ erhofft. Das Gebiet des maschinellen Bewusstseins, einem Teilgebiet der künstlichen Intelligenz (Anmerkung: der heute oft anzutreffende Begriff der ‚Maschinellen Intelligenz‘ ist – wenn man sich an den veröffentlichten Texten orientiert – nur ein kleiner Teilbereich des weiten Gebietes der ‚Künstlichen Intelligenz‘. Allerdings ist der Sprachgebrauch von ‚Künstlicher Intelligenz‘, ‚Maschineller Intelligenz‘, ‚Computational Intelligence‘, ‚Cognitive Computation‘ usw. zur Zeit nicht sehr einheitlich.) fragt sich sehr speziell, ob und wie man das Phänomen des menschlichen Bewusstseins mittels einer Maschine soweit nachbauen könnte, dass sich alle Eigenschaften des menschlichen Bewusstseins damit reproduzieren lassen. Wie man dieses maschinelle Bewusstsein technisch realisiert ist bei dieser Fragestellung eigentlich offen, faktisch versucht aber die große Mehrheit der hier aktiven Forscher Anleihen bei der Gehirnwissenschaft und der Psychologie zu holen, weil nun mal der Prototyp eines menschlichen Bewusstseins in realen Menschen real vorliegt und es für viele einfacher erscheint, sich hier etwas abzugucken als alles aus dem Nichts neu zu erfinden.
  2. Einen der besten Überblicke, den ich zu diesem Forschungsgebiet kenne, stammt von James A.Reggia aus dem Jahr 2013 mit dem Titel „The rise of machine consciousness: Studying consciousness with computational models“ (erschienen in der Zeitschrift ‚Neural Networks‘ von Elsevier (URL: https://pdfs.semanticscholar.org/8333/603ff38df5fb8277f0ef945b3d4c6ccd672e.pdf ). In einem späteren Artikel aus 2017 hat er die grundlegende methodische Problematik unter dem Titel „Exploring the Computational Explanatory Gap‚ zusammen mit anderen nochmals weiter ausformuliert (in der Zeitschrift ‚Philosophies‘ (URL: doi:10.3390/philosophies2010005 ). Reggia zeigt viele der methodischen Schwachstellen der Rede von den neuronalen Korrelaten des Bewusstseins auf (auch sehr grundlegende Einwände) und kommt letztlich zum Ergebnis, dass die Forschung nicht wirklich weiter kommt, solange sie sich nicht dem Phänomen des ‚Bewusstseins‘ direkt stellt ohne den Umweg über Verhalten (Psychologie) oder Gehirnaktivität (Neurowissenschaft).

WIE DIE FRAGE STELLEN?

  1. Damit stellt sich die Frage, welche Chancen wir denn haben, uns direkt mit dem Bewusstsein zu beschäftigen. Die vielfachen Versuche der Philosophen aus mehr als 2000 Jahren, die der Psychologen seit ca. 150 Jahren bieten eine kaum überschaubare Fülle von Vorgehensweisen, von denen sich aber bislang keine wirklich durchsetzen konnte. Am meisten vielleicht noch (meine subjektive Einschätzungen) die Ansätze einer phänomenologischen Philosophie (Husserl, Heidegger, Merleau-Ponty…), aber so richtig durchsetzen konnten diese sich bislang auch nicht. Seit den 90iger Jahren gab es eine neue Welle von philosophischen Untersuchungen. Den Namen Thomas Metzinger kennen seitdem viele, die Zeitschrift ‚Journal of Consciousness Studies‘ bildete einen starken Impuls, in der Einbeziehung der Gehirnforschung sahen viele eine neue Option. In dem Maße aber, wie sich die Daten der Gehirnforschung mathematisch fassen und in neuartige Experimente umsetzen lassen, wird sichtbar, dass die Gehirnforschung als solche nicht automatisch jene Erkenntnisse liefert, nach denen wir fragen. Was also tun?

SYSTEMS ENGINEERING

  1. Mehr durch Zufall bin ich vor ca. 18 Jahren mit Menschen zusammen getroffen —  speziell mit einem –, die sich Ingenieure nennen, genauer, ‚Systems Engineers‘. Dies sind Menschen, die ein umfangreiches Training vorwiegend in Technologie, Mathematik und Management genommen haben, meist mindestens 20 – 25 Jahre, bis sie dann Raketen und Flugzeige planen und bauen können, Atomreaktoren mit Extremsicherheitsanforderungen, den Verkehrsfluss in Städten, die Grenzsicherung eines Landes, das Gesundheitssystem eines Landes, und vieles mehr. Systems Engineers sind gewohnt, komplex zu denken, in Prozessen, unter Einbeziehung des Faktors Mensch, und immer sehr konkret, überprüfbar, messbar, mit vielen mathematischen Modellen, unter Einbeziehung von hochentwickelten Softwarewerkzeugen.
  2. An dieser Stelle kann man mal die Frage aufwerfen, wie müsste eine Theorie des menschlichen Bewusstseins aussehen, so dass ein Systems Engineer sie real und praktisch benutzen könnte, um seine komplexen Aufgaben damit besser lösen zu können? Die meisten Publikationen zum Thema Bewusstsein reden in gewisser Weise ‚über‘ das Phänomen, eingebettet in viele spezielle Begriffe, deren Bedeutung nicht so ohne weiteres klar ist, ohne dass sich daraus ableiten lässt, wie man aus diesem Reden ‚über‘ das Bewusstsein zu konkreten Anleitungen und zu konkreten Methoden kommen kann, die geeignet sind, das reale Verhalten von Akteuren mit Bewusstsein sowohl zu beschreiben wie auch – soweit es die internen Freiheitsgrade von Akteuren erlauben – gewisse Prognosen über ihr Verhalten abzugeben. Für Ingenieure besonders wichtig sind brauchbare Erkenntnisse über die Wechselwirkung zwischen den Situationsgegebenheiten und den inneren Zuständen des Akteurs. Eine verhaltensorientierte Psychologie kann hier in der Regel von großer Hilfe sein, ersetzt aber keine ‚Theorie des Bewusstseins‘ im engeren Sinne.

ZURÜCK AUF START

  1. Die obigen Überlegungen im Hinterkopf, z.T. schon viele Jahrzehnte, habe ich mich jetzt entschlossen, die Frage nach einer geeigneten Theorie des Bewusstseins, die sich in Ingenieurkontexten praktisch nutzen lässt, nochmals neu anzugehen. Dieses Mal bewusst im Rahmen des methodischen Paradigmas des Systems Engineerings.
  2. Dabei trat die Notwendigkeit auf, die pragmatischen Umschreibungen und Handhabungen des Begriffs ‚Systems Engineering‘ im Modell einer ‚Empirischen Wissenschaft‘ mit einer ‚formalen Theorie‘ zu reformulieren und in diesem Kontext dann die Frage nach dem Bewusstsein empirisch und theoretisch zu verfolgen. Obgleich man davon ausgehen kann, dass die Ergebnisse der empirischen Psychologie, der empirischen Neurowissenschaften und einer empirischen Neuropsychologie wertvolle Korrelationen liefern können, so muss man methodisch festhalten, dass sie dies nur dann können, wenn es unabhängig vom Verhalten und den Gehirnaktivitäten eine brauchbare Theorie des Bewusstseins gibt, die sich korrelieren lässt. Ohne solch eine eigenständige Theorie des Bewusstseins bewegen sich Psychologie und Gehirnwissenschaft in einem hermeneutischen Zirkel, aus dem es keinen Notausgang gibt.
  3. Ein Ziel zu haben ist eines, den Weg zum Ziel zu finden etwas anderes.

START IM ALLTAG

  1. Nach zahllosen Versuchen in den letzten Jahren und den intensiven Diskussionen in der Fachliteratur habe ich mich entschieden, den Start der Untersuchung in den Alltag zu verlegen, in den Kontext jener Abläufe und Handlungen, die wir täglich vornehmen, die wir mehr oder weniger gemeinsam haben, und über die zwar nicht unbedingt theoretisch explizit aber dennoch pragmatisch unausgesprochen eine gewisse Einigkeit besteht.

KÖRPER ALS APRIORI

  1. Es besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass jene Verhaltensweisen, die wir praktizieren, ohne darüber groß zu diskutieren, jene sind, die in der Dynamik und Struktur unseres Körpers, unseres Gehirns und unseres Bewusstsein biologisch angelegt sind, jene Plattform des Wahrnehmens, Fühlens, Erinnerns, Vorstellens, Entscheidens usw. bieten, mit der wir unser alltägliches Leben bestreiten, auch wenn wir über keinerlei theoretische Erkenntnisse verfügen, wie man dies alles genau verstehen kann bzw. sollte (So können Kinder lernen, sich zu bewegen und zu sprechen, ohne theoretische Kenntnisse).
  2. In der formalen Logik gibt es den Grundsatz, dass man nur jene Sachverhalte ‚beweisen‘ kann, die schon in den Voraussetzungen einer Theorie drin stecken. Im Fall unseres Alltagsverhaltens wäre dann das Alltagsverhalten zu verstehen als eine fortdauernde Manifestation von Voraussetzungen, die biologisch in unserem Körper angelegt sind. Die eigentliche theoretische Arbeit bestünde dann darin, jene Voraussetzungen sichtbar zu machen, die in unserem Körper so angelegt sind, dass wir genau zu dem beobachtbaren Verhalten fähig sind. Schwierig wird es dann nur, wenn wir in unserem beobachtbaren Verhalten nur einen Bruchteil von dem Potential ausnutzen, was ‚in uns‘ steckt. Wie wollen wir dann wissen, ‚wer‘ wir sind, wenn sich unsere potentielle Person – aus den unterschiedlichsten Gründen – nicht ‚zeigt‘? Die Geschichte der Menschheit ist voll von Beispielen, wie kulturelle Muster das Verhalten von Menschen unnötiger Weise in bestimmte Muster gepresst haben (und immer noch pressen), die die Entfaltung von Menschen behindern; umgekehrt haben immer wieder Menschen und Situationen neue Verhaltensweisen hervorgebracht, von denen man sich vorher gar nicht vorstellen konnte, dass es sie geben könnte.

BARRIEREN IM SELBST-ERKENNEN

  1. Dies zeigt, dass das ‚Erkennen unserer selbst‘ selbst wiederum in einem hermeneutischen Zirkel stattfindet, in dem wir möglicherweise nur deswegen vieles nicht erkennen, weil wir uns schlicht nicht vorstellen können,   dass es möglich ist, bzw.  dass wir als Menschen auch ganz anders sein könnten (die Art und Weise, wie noch heute in vielen Kulturen z.B. Kinder und Frauen gesehen und behandelt werden, zeigt überdeutlich, wie schwer sich der homo sapiens tut, seine Verhaltensmodelle zu ändern, und auszuweiten).

Fortsetzung folgt

 

Einen Überblick über alle Blogeinträge von Autor cagent nach Titeln findet sich HIER.

Einen Überblick über alle Themenbereiche des Blogs findet sich HIER.

MEMO: AUGE IN AUGE MIT DER KÜNSTLICHEN INTELLIGENZ. PHILOSOPHIESOMMER 2016 IN DER DENKBAR – Sitzung vom 12.Juni 2016

Entsprechend den vielfachen Wünschen der Teilnehmer war für die Sitzung am 12.Juni 2016 ein Experte für intelligente Maschinen eingeladen worden, eine kleine Einführung in die aktuelle Situation zu geben.

Ziel des Beitrags sollte es sein, anhand konkreter Beispiele ein wenig mehr zu verdeutlichen, was intelligente Maschinen wirklich leisten können. Im anschließenden Diskurs sollte es wieder darum gehen, diesen Beitrag als Ausgangspunkt zu nehmen, um die Fragen der anwesenden Teilnehmer und ihre Gedanken zu Worte kommen zu lassen.

Gedankenskizze von der Sitzung des Philosophiesommers 2016 in der DENKBAR vom 12.Juni 2016
Gedankenskizze von der Sitzung des Philosophiesommers 2016 in der DENKBAR vom 12.Juni 2016

Das Diagramm gibt einen ersten Überblick über die Struktur der Sitzung. Im Einstieg wurden in lockerer Form verschiedene Videos vorgestellt, immer wieder unterbrochen durch ad hoc Erläuterungen, die sehr konkrete Eindrücke von den agierenden Forschern und ihren Algorithmen vermittelten. Danach gab es ein sehr lebhaftes Gespräch, in dem weniger die Details der Algorithmen diskutiert wurden, sondern mehr die Gefühle, Befürchtungen und Fragen, die das Ganze bei allen auslöste.

KI DIREKT

Das Gebiet der KI ist ziemlich groß. An diesem Tag wurde von einem kleinen Ausschnitt berichtet, er sich aber zur Zeit im Zentrum größten Interesses befindet. Es ging vornehmlich um Bilderkennung und ein bisschen um Methoden des anfangshaften Verstehens von Sprache.

Bei der Bilderkennung wurden Beispiel gezeigt, wie Rechner heute Szenen analysieren und darin dann einzelne Objekte erkennen könne; wie dann in einer Folge von Szenen die erkannten Objekte räumliche Strukturen bilden können (Räume, Straßen, …), in denen man dann nach Pfaden/ Wegen suchen kann. Unter den Videos war auch eine künstlerische Anwendung, die zeigte, dass man diese Technologien auch ganz anders einsetzen kann. (Ergänzend kann man z.B. auch hinweisen auf Bereiche wie die Musik, in der KI mittlerweile komplexe Musikstücke analysieren und neu arrangieren kann, und sogar als eigenständiger Musiker in einer Band mitspielen kann, z.B. „Wunder der Technik Musikalische Drohnen ersetzen das Orchester „, oder „Neue Jobs für Roboter„).

Bei dem anfangshaften Verstehen von Sprache wurden Methoden vorgestellt, die aus den Verteilungen von Worten und Wortverbindungen zu Bedeutungsschätzungen kommen können, und auch hier wieder alltagspraktische Anwendungen wie jene, bei der Texte eines Politikers künstlerisch so abgewandelt werden konnten, dass sie wie die Texte dieses Politikers aussahen, aber vom Algorithmus produziert worden waren. Aber auch hier gilt, dass dies nur ein kleiner Ausschnitt von dem war, was heute schon im Einsatz ist (man denke an den sogenannten Roboter-Journalismus, wo die Nachrichten und Artikel ganzer Webseiten mittlerweile komplett durch Algorithmen erstellt werden, z.B. „Roboterjournalismus: Maschinen ohne Moral“ oder „Automatisierter Journalismus: Nehmen Roboter Journalisten den Job weg?)

GESPRÄCH : WIDERHALL IN UNS

Bei den Teilnehmern überwog die Skepsis die Faszination.

KI AKTEURE

Auffällig war den meisten, wie jung die Akteure in der Szene waren, selbst die Chefs und CEOs von milliardenschweren Unternehmen. Wie diese (scheinbar) unbekümmert die Vorzüge ihrer Technik priesen, begeistert, enthusiastisch; Nachdenklichkeiten, kritische Überlegungen sah man nicht (im Kontrast dazu vielleicht die Eindrücke, die man von deutschen Konzernen hat mit ihren schwerfälligen autoritären Strukturen, mit ihren zementierten Abläufen, der großen Risikoaversion…). Der Geist der KI-Akteure hingegen erzeugt Neues, Innovatives, bewegt die Welt. In Erinnerungen an den Bau der Atombombe mit den begeisterten Forschern für das technische faszinierend Machbare stellte sich mancher aber auch die Frage, ob diese Unbekümmertheit, diese emotionslose Technik, nicht auch gefährlich ist (je mehr Bilderkennung z.B. im öffentlichen Bereich, dann auch mehr umfassende Kontrolle, Überwachung. Das ‚System‘ weiß dann immer, wo man gerade ist und mit wem er zusammen ist (immerhin hat sich das US-Verteidigungsministerium den Chef von Alphabet (dazu gehört google) mittlerweile offiziell als Berater geholt)). Andere fragten sich, ob es in Zukunft eigentlich nur noch Informatiker gibt (quasi als allfällige Diener der KI), während alle anderen überflüssig werden.

OFFENE ZIELE

Sieht man die aktuelle Techniksituation als Momentaufnahme eines Prozesses mit einer Geschichte und möglichen Zukünften, dann kann (und muss?) man die Frage, nach dem darin wirkenden Fortschrittsbegriff stellen, nach den wirkenden Kriterien.

WAS IST INTELLIGENZ?

Ein Teilaspekt ist der Begriff der Künstlichen Intelligenz mit dem Teilbegriff Intelligenz. Was ist damit eigentlich gemeint? Auf welche Intelligenz bezieht man sich? In der Psychologie benutzt man seit ca. 100 Jahren einen operationalisierten Intelligenzbegriff zur Messung der Intelligenz (Binet). Doch diese Betrachtungsweise ist sehr quantifizierend und wird vielfach kritisiert, auch mit Verweis auf kulturelle Unterschiede. Im Unterschied zur Pschologie findet man im Bereich der KI selbst bzw. in der Informatik keine einheitliche Definition von Intelligenz (siehe z.B. KI ). Während die KI im klassischen Sinne sich an der Intelligenz von biologischen Systemen orientiert, die nachempfunden werden soll, findet sich heute vielfach ein engeres, ingenieurmäßiges Verstehen von KI als Maschinelles Lernen. Hier wird die Frage nach Intelligenz im allgemeinen gar nicht mehr gestellt. Stattdessen gibt es immer konkrete, spezielle Aufgabenstellungen, die technisch gelöst werden sollen, und die Lösung konzentriert sich dann ausschließlich auf diese eingeschränkten Aspekte.

SELBSTBESCHREIBUNG DES MENSCHEN ALS MASCHINE

Die Diskussion um den Intelligenzbegriff streift auch das Phänomen, dass die Menschen in nahezu allen Epochen dahin tendieren, sich selbst immer im Licht der neuesten Erkenntnisse und Techniken zu beschreiben, sozusagen auf der Suche nach sich selbst. Eigentlich weiß kein Mensch so richtig, wer er ist und ist dankbar für jedes Bild, was man ihm anbietet. So vergleichen sich Kinder heute häufig mit einem PC: ‚mein Kopf ist wie ein Computer‘; ‚ich habe das nicht abgespeichert‘; ‚meine Festplatte ist leer’…. Zu Zeiten eines La Mettrie (1709 – 1751)  wurde der Geist der Dualisten (vor allem repräseniert duch Descartes) aus dem Körper des Menschen verbannt; der Körper war nur noch eine Maschine (im damaligen Verständnis) ohne Geist.

VIRTUALITÄT ALS GEFAHR?

Mit Blick auf die KI und die enorme Zunahme an digitalen Räumen als virtuelle Welten wurde auch die Frage aufgeworfen, wieweit dies eine Gefahr darstellt? Verzetteln wir uns nicht? Wissen wir noch Virtuelles und Reales auseinander zu halten? Dazu sei angemerkt, dass sich das Erleben und Denken des Menschen ja primär in seinem Gehirn abspielt, das als Gehirn im Körper sitzt ohne direkten Weltbezug. D.h. schon das normale Denken des Menschen hat das Problem, dass es dem einzelnen zwar real erscheint, inhaltlich aber – bezogen auf eine unterstellte Außenwelt – mit der Außenwelt nicht automatisch übereinstimmen muss. Es gehört ja gerade zur Kulturgeschichte des Menschen, dass er mühsam lernen musste, dass die meisten Gedanken der Vergangenheit eben nur Gedanken waren und nicht die Welt beschrieben haben, wie sie wirklich (=empirisch überprüfbar) ist. Insofern stellen die neuen virtuellen Welten nichts wirklich Neues dar, wohl aber eine Modifikation der Situation, die neu verstanden und gelernt werden muss.

BRAUCHEN WIR NOCH MEHR EVOLUTION?

Greift man nochmals den Gedanken auf, dass die aktuelle Techniksituation als Momentaufnahme eines Prozesses mit einer Geschichte und möglichen Zukünften Teil der Evolution ist, wurde gefragt, ob wir noch mehr Evolution brauchen? Außerdem, welches Ziel hat diese Evolution?

Mit Blick auf den Blogeintrag vom 11.Juni 2016 wurde eingeblendet, dass sich die Frage nach der Evolution möglicherweise anders stellt. Schliesslich sind wir selbst, alle Menschen, alle Lebewesen, Produkt der Evolution, wir sind Teilnehmer, aber bislang nicht als Herren des Geschehens. Und vieles spricht dafür, dass alle Phänomene im Umfeld des Menschen auch nicht los lösbar sind von der Evolution. Sie gehören quasi dazu, wenn auch vielleicht in einem neuen qualitativen Sinn. Soweit wir heute erkennen können, ist es seit dem Auftreten des homo sapiens sapiens (hss) zum ersten Mal seit dem Auftreten des Lebens auf der Erde möglich, dass das Leben als Ganzes sich in Gestalt des hss sich quasi selbst anschauen kann, es kann sich mehr und mehr verstehen, es kann seine eigenen Baupläne lesen und mehr und mehr abändern. Dies eröffnet für das Leben auf der Erde (und damit im ganzen bekannten Universum) eine völlig neue und radikale Autonomie. Die allgemeine physikalische Entropie wird bislang dadurch zwar nur lokal aufgehoben, aber immerhin, dass es überhaupt möglich ist, über die bekannten Naturgesetze hinaus durch bestimmte Prozesse Strukturen zu erzeugen, die der Entropie zuwider laufen, ist ein bemerkenswertes Faktum, das bislang von der Physik so gut wie gar nicht zur Kenntnis genommen wird (und auch nicht von den Akteuren selbst, dem hss).

RADIKALE AUTONOMIE

Möglicherweise ist die fundamentale Tragweite der neuen radikalen Autonomie des Lebens auch deshalb noch nicht so recht ins Bewusstsein getreten, weil im Alltag, im konkreten Dasein, die körperlichen Grenzen sehr deutlich sind, die ganze Trieb-, Bedürfnis-, und Emotionsstruktur des Menschen in ihrer Konkretheit und Intensität vielfach als so stark empfunden wird, dass man die großen Linien, die geradezu kosmologische Dimension dieser radikalen Autonomie noch kaum wahrnimmt.

Dazu kommt, dass die Tatsache, dass sich fast alle interessanten Prozesse im Innern des Menschen abspielen, es notwendig macht, dass diese inneren Prozesse über Kommunikation miteinander koordiniert werden müssten. Dies ist aufwendig und schwierig. Viele (die meisten) Menschen scheitern hier, kapitulieren. So verharren sie – und damit ganze Generationen – in bestimmten Empfindungs-, Denk- und Handlungsmustern, die nicht weiter führen, die eher Rückschritt bedeuten.

Aktuell erscheint es offen, in welche der vielen möglichen Zukünfte wir uns bewegen werden. Werden demnächst die intelligenten Maschinen alles übernehmen, weil der hss ausgedient hat? Oder wird es doch bei einer Symbiose auf hohem Niveau bleiben, in der der hss die intelligenten Maschinen für sich nutzt und die intelligenten Maschinen durch den Menschen Räume erobern können, die ihnen sonst verschlossen wären? Oder – und diese dritte Möglichkeit sieht aktuell – soweit ich sehe – eigentlich noch niemand – wird er Mensch in den nächsten Jahren neu erwachen und begreifen, dass diese radikale Autonomie etwas radikal Neues darstellt, etwas, das es so noch nie zuvor in den 13.8 Mrd Jahren gegeben hatte?

Um die radikale Autonomie nutzen zu können, muss der Mensch erstmalig in der Geschichte des Lebens die Frage nach den Werten, nach den Zielen, wohin die Reise eigentlich gehen soll, selber stellen … und beantworten. Bis zum hss gab es keine Wertediskussion. Die Evolution stellte einen Prozess dar, in dem bestimmte Lebensformen im Kontext der Erde überlebt hatten; das waren die einzigen Werte im Nachhinein. Vor der Neuwerdung im Reproduktionsprozess gab es keine expliziten Werte. Es gab bisherige Erfolge und viel Zufall.

Einen Überblick über alle Beiträge zum Philosophiesommer/ zur Philosophiewerkstatt nach Titeln findet sich HIER.

EINLADUNG PHILOSOPHIESOMMER 2016 DENKBAR – KI DIREKT

Entsprechend dem Plan vom 9.Februar 2016 kommt hier die Einladung zum nächsten Treffen in der

DENKBAR Frankfurt

Spohrstrasse 46a

(Achtung: Parken schwierig! Man muss wirklich im Umfeld suche

NÄCHSTES THEMA

Da viele Teilnehmer beim letzten Treffen  sagten, dass sie sich unter intelligenten Maschinen immer noch nichts Rechtes vorstellen können, wurde ein anwesender Experte für intelligente Maschinen (aus der Gattung homo sapiens sapiens) gebeten, für das nächste Treffen am 12.6.2016 15:00 – 18:00h eine kleine Einführung in die aktuelle Situation zu geben.

Ziel des Beitrags sollte es sein, anhand konkreter Beispiele ein wenig mehr zu verdeutlichen, was intelligente Maschinen wirklich leisten können. Im anschließenden Diskurs sollte es wieder darum gehen, diesen Beitrag als Ausgangspunkt zu nehmen, um die Fragen der anwesenden Teilnehmer und ihre Gedanken zu Worte kommen zu lassen. Konkret ist folgendes geplant:

PROGRAMMVORSCHLAG

Moderation: Gerd Doeben-Henisch

15:00 Begrüßung

15:05 Einführung ins Thema durch einen KI-Experten

15:45 Gemeinsamer Diskurs I, Sichtbarmachung von Positionen

16:45 Blubberpause (Jeder kann mit jedem reden; Essen und Trinken)

17:00 Gemeinsamer Diskurs II, erste Zusammenfassungen, Tendenzen

17:45 Schlussstatements und Thema für das nächste Treffen

18:00 Ende

Langsames Wegdiffundieren der Teilnehmer ….

SONDERTREFFEN?

Eigentlich ist das Treffen am 12.Juni das letzte Treffen vor der Sommerpause. Da das Thema zur Zeit aber so spannend ist wird gefragt werden, wer für ein weiteres Treffen im Juli wäre. Sollten genügend Interessen zusammen kommen, könnte es am So 10.Juli 2016 noch ein letztes Treffen vor der Sommerpause geben.

 

Einen Überblick über alle bisherigen Themen des Philosophiesommers (und der Philosophiewerkstatt) nach Titeln  findet sich HIER.